Grobe Fahrlässigkeit eines Fahrdienstleiters

Durch Fehler von Fahrdienstleitenden der Bahn kommt es immer wieder zu schweren oder tödlichen Unfällen. Zu prüfen ist dann, ob Sozialversicherungsträger wegen ihrer Leistungen an Geschädigte oder Hinterbliebene Ansprüche bei der fahrdienstleitenden Person, die häufig eine Kollegin oder ein Kollege der Geschädigten oder Getöteten ist, geltend machen können.

Urteil des OLG Oldenburg vom 10.11.2021, Az. 4 U 72/20

Im konkreten Fall hat der Fahrdienstleiter am 13. März 2017 um 9:36 Uhr im Leitstand eines Bahnhofs den in der Nähe gelegenen Gleisbereich für einen Bautrupp der Bahn gesperrt. Dafür setzte er zur Kennzeichnung der Sperre einen Magneten auf die dafür vorgesehene Magnettafel, die sich an seinem Schreibtisch befand. Er vergaß aber, den Signalhebel, der die Fahrtstrecke, an der der Trupp arbeitete, in Richtung der Weiche freigibt, mit einem Holzklotz zu blockieren. Um 9:45 Uhr genehmigte er die Ausfahrt eines Regionalexpresses aus dem Bahnhof durch Umstellen des Signals, ohne zu veranlassen, dass der Bautrupp den gesperrten Streckenabschnitt verließ. Hätte er die Hilfssperre gesetzt, hätte er diese entfernen müssen, um die Fahrtstrecke freizugeben. Der Zug erfasste trotz Vollbremsung einen der Bautrupparbeiter tödlich, während andere gerade noch zur Seite springen konnten.

Während das Landgericht (LG) Osnabrück im dargestellten Verhalten des Fahrdienstleiters nur objektiv, nicht aber subjektiv eine grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 110 Siebtes Buch Sozialbuch (SGB VII) annahm, hat das Oberlandesgericht (OLG) Oldenburg in einem ungewöhnlich ausführlich begründeten Urteil auch die subjektive grobe Fahrlässigkeit des Fahrdienstleiters bejaht. Der Klage des Rentenversicherungsträgers nach diesem Arbeitsunfall wurde daraufhin in voller Höhe stattgegeben.

Das OLG begründet die subjektive grobe Fahrlässigkeit mehrfach. Erstens spricht dafür bereits der Anscheinsbeweis wegen der eindeutigen objektiven groben Fahrlässigkeit. Zweitens lagen zwischen Sperrung und Freigabe für den Zug nur wenige Minuten, in denen der Fahrdienstleiter (was er zu beweisen hätte) nicht durch besondere dienstliche Umstände abgelenkt oder in Anspruch genommen war. Selbst unterstellte dienstliche Telefonate hätten ihn aber, wenn sie bewiesen worden wären, subjektiv nicht entlastet. Drittens genügten Magneten als Warnsignal deswegen nicht, weil der Fahrdienstleiter diese immer unbeachtet ließ und sich nur an den – hier nicht angebrachten – Hilfssperren (mittels Holzklötzen) orientierte. Viertens erforderte die Tätigkeit des Fahrdienstleiters in der konkreten Situation weder besondere Konzentration noch geschahen seine Pflichtverletzungen im Rahmen eines routinierten, sich ständig wiederholenden automatisierten Arbeitsablaufs, der typischerweise mit Konzentrationsverlust verbunden ist.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass in Zukunft die übliche Argumentation von Fahrdienstleitern und Fahrdienstleiterinnen, wegen eines sogenannten Augenblicksversagens läge in subjektiver Hinsicht keine grobe Fahrlässigkeit vor und sie hafteten deswegen nicht, nicht mehr erfolgreich sein dürfte. Dies überzeugt nicht nur vom Ergebnis, sondern auch von der dargelegten Begründung her. Wer als Fahrdienstleiter oder Fahrdienstleiterin eine große Verantwortung übernimmt, muss dieser Verantwortung auch während der gesamten Arbeitsschicht gerecht werden. Zugleich sollte die DB Netz AG darüber nachdenken, jahrzehntealte Stellwerke, die für menschliches Fehlverhalten deutlich fehleranfälliger sind als moderne Stellwerke, zu modernisieren. Es erscheint anachronistisch, wenn die moderne Technik für Stellwerke seit Langem vorhanden ist, Fahrdienstleiter und Fahrdienstleiterinnen aber gleichwohl noch immer mit Holzklötzen, Magnettafeln und Schmierzetteln arbeiten müssen.