Der Faktor Vernunft
Wendet eine Beschäftigte auf dem Weg zur Arbeit mit ihrem Pkw wegen Kreislaufbeschwerden und fährt zurück nach Hause, steht dies unter Unfallversicherungsschutz. Fährt sie jedoch zu einem Arzt, steht dies nicht unter Unfallversicherungsschutz.
Urteil des Landessozialgerichts Essen vom 20.07.2021 – L 14 U 594/20 –, juris
Die (spätere) Klägerin fuhr am 24. Juni 2019 morgens mit ihrem Pkw in Richtung ihrer Arbeitsstelle. Sie wendete dann, kam aus ungeklärten Gründen von der Strecke ab und prallte gegen einen Baum am Straßenrand, wodurch sie sich schwerste Hirnverletzungen zuzog, aufgrund derer sie keine Angaben zum Unfallhergang und zu ihrem Wendemanöver machen kann. Trotz der Hinweise ihres Ehemanns, dass sie in letzter Zeit unter Kreislaufproblemen gelitten habe und ihr Wendemanöver nur damit zu erklären sei, dass sie wieder nach Hause zurückfahren wollte, lehnten der zuständige Unfallversicherungsträger, das Sozialgericht Dortmund und nachfolgend auch das Landessozialgericht (LSG) Essen einen Arbeitsunfall (respektive einen Wegeunfall) der Klägerin ab.
Das LSG Essen begründet seine Ablehnung damit, dass es nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Vollbeweis) feststehe, dass die Klägerin im Moment des Unfalls bei versicherter Tätigkeit gewesen sei. Zwar hätte Versicherungsschutz bestanden, wenn die Klägerin umgekehrt sei, „weil sich im Gesundheitszustand [der Versicherten] Umstände gezeigt haben, welche die Umkehr erforderlich machten“ (Rdnr. 25); dies sei jedoch nicht (voll) nachgewiesen. So bestünde unter anderem die ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit, dass die Klägerin nicht nach Hause, sondern direkt zum Arzt fahren wollte, was als eigenwirtschaftlich respektive privat gelte und daher nicht unter Unfallversicherungsschutz stehe.
Es soll hier nicht darum gehen, ob das LSG Essen „richtig“ entschieden hat; es soll auch nicht problematisiert werden, ob die gegebenenfalls aufgesuchte Arztpraxis ein „dritter Ort“ gewesen sein könnte. Interessant ist hier vielmehr die Erwägung des Gerichts, dass ein direkter Weg zur ärztlichen Praxis, mit dem ein ursprünglich aufgenommener Weg zur Arbeitsstätte abgeändert wird, nicht unter Unfallversicherungsschutz stünde. Es entspricht gängiger Rechtsprechung und Praxis, dass Wege zum Arzt oder zur Ärztin – obgleich mittelbar betriebsdienlich – keine dem Unternehmen dienenden, sondern eigenwirtschaftliche, private Tätigkeiten sind. Diese Position soll hier auch gar nicht in Zweifel gestellt werden; es ist nur auffällig, dass in unserer Konstellation ein Weg wieder nach Hause versichert wäre, ein Weg direkt zum Arzt jedoch nicht. Stellen Sie sich vor, Sie säßen neben der Klägerin, die mit Kreislaufproblemen kämpft, im Pkw. Würden Sie Ihr empfehlen, nach Hause oder direkt zum Arzt zu fahren? Wenn Sie ihr aus dem Aspekt der Vernunft (kein leichter Begriff) Letzteres empfehlen, würden Sie offenbar daran mitwirken, dass sie den Unfallversicherungsschutz verliert.
Vor einiger Zeit haben wir im „Eisprüferfall“ Ähnliches gesehen: Hier versagte das Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 23.01.2018 – B 2 U 3/16 R –, juris) einem Beschäftigten den Unfallversicherungsschutz, der morgens mit dem Pkw zur Arbeit fahren wollte, aber noch wenige Meter in Richtung Straße ging, um zu überprüfen, ob diese glatt war – der Deutsche Wetterdienst hatte am Vortag vor überfrierender Nässe gewarnt –, während des Rückweges zu seinem Pkw stürzte er und verletzte sich. Das BSG führte aus: „Selbst wenn die Handlungsweise des Klägers aus seiner subjektiven Sicht vernünftig gewesen sein sollte, war sie objektiv weder erforderlich noch rechtlich geboten“ (Rdnr. 20).
Wir sehen in beiden Fällen, dass Vernunft (auch Vorsicht) nicht mit Unfallversicherungsschutz „belohnt“, sondern der privaten Sphäre zugeordnet wird. Ein Blick in § 7 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) belehrt uns zudem, dass verbotswidriges Handeln (und auch unvernünftiges Handeln) bei einer versicherten Tätigkeit einen Versicherungsfall nicht (!) ausschließt.
Betrachten wir beides zusammen, sehen wir – überspitzt formuliert – Folgendes: Das Gesetz sieht im Bereich versicherter Tätigkeiten über Unvernunft hinweg, während die Vernunft (in den beiden genannten Fällen) der privaten Sphäre zugeordnet wird und kein Unfallversicherungsschutz besteht.
Natürlich ist diese Sichtweise überspitzt, dennoch sollten wir darüber nachdenken: Was machen wir mit dem Faktor Vernunft? Machen Sie einmal einen Test: Geben Sie bei Google „Vernunft und Arbeitsunfall“ ein. Sie bekommen keinen Treffer.