Gedanken zur Prävention aus Sicht eines Industrieunternehmens

Unser gemeinsamer gesellschaftlicher Anspruch muss sein, dass sich jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter stets auf eine intakte und sichere Arbeitsumgebung verlassen kann, um am Ende eines Arbeitstages gesund und unbeschadet zu Familie und Freunden zurückzukehren. Um diese Vision zu realisieren, bedarf es eines nachhaltigen kontinuierlichen Abgleichs von Anforderungen und effektiven präventiven Ansätzen. Der folgende Artikel greift hierzu ein paar Gedanken auf.

Arbeit 4.0 – Prävention 4.0

„Prävention hat das Ziel, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhindern sowie für eine wirksame Erste Hilfe zu sorgen. Zeitgemäße Prävention folgt einem ganzheitlichen Ansatz, der sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Maßnahmen genauso einschließt wie den Gesundheitsschutz.“[1] Unstrittig ist, dass in den vergangenen Jahren hier signifikante Fortschritte erzielt worden sind. Im Zeitalter der sich stetig und mit immer größerer Geschwindigkeit ändernden Rahmenbedingungen wie beispielsweise Globalisierung, Digitalisierung, Urbanisierung und demografischer Wandel stellt sich aber die Frage, ob und wie Prävention Schritt halten kann und ob die bisherigen Ansätze ausreichend sein werden, um das Thema weiter nachhaltig voranzutreiben. Spricht man heute von Industrie 4.0 beziehungsweise Arbeit 4.0, so kann man sich folgende Fragen stellen: Haben wir analog auch eine Prävention 4.0 entwickelt? Welchen  Anforderungen steht eine Prävention 4.0 gegenüber? Welche Gestaltungsmerkmale weist sie auf und wie  müssen wir sie zeitgerecht nachhaltig umsetzen und weiterentwickeln? Wichtiger noch wäre zudem der Ausblick in die wohl nahe Zukunft. Steuern wir bereits auf eine Industrie 5.0 zu? Was wird sie charakterisieren? Wie bereiten wir uns heute darauf vor? Oder haben wir die Türschwelle bereits übertreten?

Aber beleuchten wir die Gegenwart. Zwar sind zum Beispiel Unfallzahlen (Unfälle mit Ausfallzeit sowie tödliche Arbeitsunfälle) in Deutschland tendenziell rückläufig, jedoch scheinen sie allmählich zu stagnieren. Woran liegt das respektive was braucht es, dem entgegenzuwirken, und was ist erforderlich, um einen positiven Trend in Richtung Vision Zero fortzusetzen?

Forcierung der Verhaltensprävention von Kindheit an

Während der Fokus in der Vergangenheit eher auf der Verhältnisprävention lag, braucht es eine deutliche Forcierung der Verhaltensprävention. Neben der menschengerechten Einrichtung von Arbeitsplätzen trägt letztendlich jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter durch das persönliche Verhalten maßgeblich zum Erhalt der individuellen, aber auch der kollektiven Leistungsfähigkeit bei. Soll hier die nächste Runde eingeleitet werden, bedarf es einer grundlegenden Änderung bisheriger Ansätze. Findet beispielsweise die Sensibilisierung zum Arbeits- und Gesundheitsschutz heute vornehmlich erst im tatsächlichen Berufsleben statt, muss dieses zukünftig vorverlagert werden. Wichtig wäre eine Integration in die frühkindliche und schulische Bildung – sind doch beispielsweise neue Medien und neue Formen der Arbeit bereits Gegenstand von Erziehungs- und Lehrplänen. Neue Ansätze, wie zum Beispiel Gamification, sind bereits heute etabliert und könnten bei einer frühen Sensibilisierung unterstützen. Konkretisiert würde dies dann mit dem Einstieg in die Berufsausbildung. Hier muss eine nahtlose Anknüpfung stattfinden und eine Fokussierung auf die jeweiligen aktuellen Berufsspezifika erfolgen.

Parallel müssen sich Inhalte zum Arbeits- und Gesundheitsschutz grundsätzlich auch in Studieninhalten an Hochschulen wiederfinden. In Ingenieurstudiengängen sind heute vereinzelt Elemente integriert, wogegen in anderen Disziplinen in der Regel kaum oder keine Ansatzpunkte zu erkennen sind. Hier sind zudem unterschiedliche Facetten zu beachten. Zum einen ist zwingend für alle Ausbildungsgänge sicherzustellen, dass bereits während der Ausbildung wesentliche Inhalte wie beispielsweise mögliche Risiken und Konsequenzen, Eigenverantwortung sowie Maßnahmen zur Prävention im Arbeits- und Gesundheitsschutz zur Sensibilisierung vermittelt werden.

Integration von Sicherheit und Gesundheit in alle relevanten Geschäftsprozesse

Ein weiterer Fokus ist die Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen sowie deren spätere Nutzung und Anwendung unter Berücksichtigung von Arbeits- und Gesundheitsschutzaspekten. Hier lassen sich bereits in der frühesten Phase des Lebenszyklus nachhaltig mögliche negative Auswirkungen eliminieren oder reduzieren. Im späteren Berufsalltag ist es entscheidend, dass Arbeits- und Gesundheitsschutzaspekte in alle erforderlichen Geschäftsprozesse vollständig integriert sind. Meist wird der Arbeits- und Gesundheitsschutz nach wie vor als eigenständige separate Disziplin angesehen und als zusätzliche Belastung im beruflichen Alltag verstanden. Nur eine Integration in alle relevanten Geschäftsprozesse und eine selbstverständliche Übernahme von Verantwortung (Ownership) stellen die Grundlage für einen nachhaltigen Ansatz dar. Hier sind insbesondere der Einkauf, die Forschung und Entwicklung, das Personalwesen, das Projektmanagement, aber auch die Strategie zu nennen. Arbeits- und Gesundheitsschutz müssen Gegenstand des täglichen Handelns werden. Erst dann kann man auch tatsächlich von integrierten Managementsystemen sprechen. Wünschenswert wäre hier auch eine konsequentere Einforderung durch die Zertifizierenden.

Der Fachkräftemangel als Herausforderung für die Prävention

Eine weitere Herausforderung in Bezug auf Prävention stellt die derzeitige Arbeitsmarktsituation dar. Der anhaltende Fachkräftemangel in Deutschland hat zur Folge, dass vermehrt Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt verfügbar sind, die für erforderliche Tätigkeiten häufig unzureichende Qualifikationen mitbringen – auch in puncto Arbeits- und Gesundheitsschutz. Dieses schließt Arbeits- und Gesundheitsschutzaspekte ein. Neben der fachlichen Qualifikation spielen allerdings auch kulturelle Aspekte eine Rolle. Unterschiedliche Wertvorstellungen, Religionen, Sitten und Gebräuche, aber auch Unterschiede in Rechts- und Sozialsystemen sind wichtige Faktoren bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Es stellt sich also die Frage, wie diese Arbeitskräfte oder Nachunternehmerinnen und Nachunternehmer in einen holistischen Präventionsansatz einbezogen werden können. Eine maßgebliche Barriere ist zum Beispiel allein die Sprache. In Großunternehmen sind nicht selten mehrere Hundert Personen im Rahmen von Arbeitnehmerüberlassung beschäftigt, die aus den unterschiedlichsten Ländern kommen. Oft beherrschen sie die deutsche oder englische Sprache kaum oder gar nicht. Wie also können diese Mitarbeiterinnen und  Mitarbeiter unterwiesen werden, in die Kommunikation eingebunden und in den Betrieb integriert werden? Hier braucht es neue pragmatische anwendbare Ansätze. Eine klassische arbeitsplatzbezogene Ein- und Unterweisung anhand von Gefährdungsbeurteilung und Betriebsanweisung kommt hier schnell an ihre Grenzen. Zumal, wenn sich keine Möglichkeit findet, die erforderlichen Unterlagen in die jeweiligen Sprachen zu übersetzen. Die Digitalisierung bietet hier sinnvolle unterstützende Ansätze. Der Einsatz von neuen Medien und Formaten wie zum Beispiel elektronische Unterweisungen, Scribble-Videos, Datenbrillen und digitale animierte Arbeitsanweisungen sollte daher grundsätzlich unterstützt und gefördert werden. Dies setzt die Anerkennung und Akzeptanz bei allen Stakeholdern im Arbeits- und Gesundheitsschutz voraus.

Sicherstellung von Sicherheit und Gesundheit bei Nachunternehmen

Bei Nachunternehmerinnen und Nachunternehmern gestaltet sich das oft noch schwieriger. In der Regel werden die Anforderungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz als Vertragsbestandteil formuliert. Es stellt sich aber die Frage, ob die Anforderungen und Erwartungen der Auftraggebenden seitens der Auftragnehmenden, insbesondere ausländischer Unternehmen, auch verstanden und umgesetzt werden können. Ein niedrigeres Arbeitsschutzniveau stellt nicht nur für die Beschäftigten der Nachunternehmen, sondern auch für mögliche beteiligte Dritte ein zusätzliches Risiko dar. Bereits bei der Auswahl von geeigneten Nachunternehmerinnen und Nachunternehmern ist daher erhöhte Aufmerksamkeit geboten. Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl? Häufig werden zur Präqualifikation Checklisten und Fragebögen ausgegeben, deren Inhalte jedoch nur sehr bedingt Aussagen zum Arbeits- und Gesundheitsschutzniveau zulassen. Aus Sicht der Auftragnehmenden ist es zudem schwierig, dass diese Fragebögen je nach Auftraggebenden variieren. Eine weitestgehende Vereinheitlichung würde sowohl für Auftraggebende als auch Auftragnehmende eine deutliche Verbesserung und Entlastung generieren. Der ORGAcheck der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) beispielsweise könnte hier unterstützen. Interessant wäre eine (Light-)Variante für ausländische Unternehmen, die in unterschiedlichen Sprachen verfügbar wäre.

Ein einheitliches Verständnis der Anforderungen sowie deren Umsetzung und ein deutlich reduzierter administrativer Aufwand bei Auftraggebenden und Auftragnehmenden wären damit erreichbar. Im Rahmen des Checks auftretende Defizite könnten leichter identifiziert und (gemeinsam) abgestellt werden.

Grundsätzlich ist das klassische Verhältnis zwischen Auftraggebenden und Auftragnehmenden zu überdenken. Eine nachhaltige Prävention muss mehr auf strategische Partnerschaften setzen als auf das reine Verschieben von Verantwortung zum Arbeits- und Gesundheitsschutz via Vertragsbestandteil. Ziel muss es sein, gegenseitig Defizite systematisch zu erkennen und gemeinsam an der kontinuierlichen Verbesserung zu arbeiten. In Zeiten, in denen Auftraggebende kaum noch Wahlfreiheit in Bezug auf Beschäftigte von Nachunternehmen haben, kann durch gezielte Selektion und gegebenenfalls Qualifikation eine mittel- oder gar langfristige Partnerschaft entstehen, bei der sich eine Win-win-Situation, nicht nur bezogen auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz, einstellt.

Zeitgemäße Qualifikation als Voraussetzung adäquaten Handelns

Qualifikation im Arbeits- und Gesundheitsschutz spielt allerdings nicht nur bei den Beschäftigten der Nachunternehmen, sondern auch bei der eigenen Belegschaft eine entscheidende Rolle. Dies gilt insbesondere für Führungskräfte, die ihre Rolle als „Role Model“ stärker wahrnehmen müssen und maßgeblich in ihrer Vorbildfunktion Einfluss nehmen können. Hierzu benötigen sie aber statt langer Paragrafenlisten und möglicher Konsequenzen bei Nichterfüllung ein klares „WAS konkret zu tun ist und was die Verantwortlichkeiten sind“, aber auch Unterstützung dabei, „WIE die praktische Umsetzung der Anforderungen erfolgen kann“. Daher ist es für unterstützende Funktionen, wie zum Beispiel Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, Sicherheitsbeauftragte sowie Arbeitsschutzobleute erforderlich, stets up to date zu sein. Nur wenn alle Beteiligten über die erforderlichen Qualifikationen verfügen und diese stets aktuell halten, können sie ihrer originären Aufgabe gerecht werden.

In Zeiten, in denen sich Anforderungen und Herausforderungen in immer kürzeren Abständen ändern, stellt sich die Frage, ob beispielsweise die Ausbildung von Fachkräften für Arbeitssicherheit noch zeitgerecht und ob inhaltlich der richtige Rahmen gesetzt ist. Überlegenswert wäre beispielsweise, verstärkt einen Fokus auf Soft- und digitale Skills zu legen. Wie kann eine Fachkraft für Arbeitssicherheit „erfolgreich argumentieren“ und auf „Augenhöhe“ mit Führungskräften, Geschäftsführenden oder CEOs kommunizieren? Wie werde ich als „Business Partner“ akzeptiert und nicht zum „Sheriff“ degradiert? Dazu gehört unter anderem auch, arbeits- und gesundheitsschutzspezifische Begriffe und insbesondere Indikatoren so zu übersetzen, dass alle Beschäftigten die Botschaft auch verstehen. Unfallraten, Abwesenheitsquoten und ähnliche Kennziffern findet man häufig in Aushängen und Präsentationen, sie werden aber von vielen kaum oder nicht verstanden. Die Intention, Stakeholder zu informieren und zu sensibilisieren, bleibt folglich aus. Erforderlich wäre es zudem, zum Beispiel betriebswirtschaftliche Grundbegriffe zu beherrschen, um diese einsetzen zu können. Prävention zahlt sich aus! Warum dieses Motto also nicht als Argumentation gezielter nutzen und kommunizieren? Insgesamt wäre es wünschenswert, dass die Ausbildungsinhalte aller relevanten Rollen und Funktionen stets zeitnah den erforderlichen Rahmenbedingungen angepasst werden.

Nutzung von Digitalisierungstechniken zur Gestaltung der Prävention

Neben den bereits erwähnten Aspekten gilt es auch zu überlegen, inwieweit bereits verfügbare oder zukünftige Techniken der Digitalisierung noch stärker einen zusätzlichen Beitrag zur Prävention leisten können. Bezog sich beispielsweise der Einsatz von digitalen Zwillingen bislang vornehmlich auf die Produkt- und Prozessgestaltung respektive deren Optimierung, könnten hier auch verstärkt Arbeits- und Gesundheitsschutzaspekte integriert werden. So können bereits heute im Rahmen von Simulationen vorausschauend Hinweise auf mögliche Gefährdungen und Belastungen gewonnen werden, bevor Produkte und Maschinen produziert oder gar ganze Fertigungsstätten errichtet sind.

Kombiniert man den digitalen Zwilling noch mit intelligenter persönlicher Schutzausrüstung (Smart Personal Protective Equipment), so ergeben sich neue effektive Schutzkonzepte. Künstliche Intelligenz dagegen könnte insbesondere bei hochrisikoreichen Tätigkeiten zum Einsatz kommen. Über Wearables ist es bereits möglich, persönliche Gefühlszustände zu ermitteln und diese mit Anlagen oder Maschinen zu koppeln. Ein kollaborativer Roboter, kurz Cobot, könnte erkennen, ob der menschliche Counterpart „fit for work“ ist, und sich dem Handeln entsprechend anpassen oder gar die Zusammenarbeit einstellen. Analog wäre es denkbar, über das Tracking solcher Gefühlszustände in hochrisikoreichen Fertigungen oder auf Baustellen einen Hinweis darüber zu erhalten, ob die „allgemeine Stimmungslage“ sich nachteilig auf das Unfallgeschehen oder Abwesenheiten auswirken könnte.

Die bereits heute bekannten Möglichkeiten ließen sich technisch zeitnah umsetzen. Allerdings bedarf es beim Einsatz von neuen Ansätzen, Konzepten, Methoden und Technologien grundsätzlich eines Konsenses aller beteiligten Parteien und auch der entsprechenden Rahmenbedingungen zur Entwicklung und Umsetzung in die tägliche Praxis. Erforderlich ist daher ein kontinuierlicher Dialog aller erforderlicher Beteiligten in zeitlichen Dimensionen, die dem Fortschritt und den damit einhergehenden Herausforderungen gerecht werden.