Wissen, was wirkt – die Evidenz erneut im Fokus

Die Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) untersucht erneut die Wirksamkeit arbeitsweltbezogener Gesundheitsförderung und Prävention. Dabei zeigt sich: Die Forschung wartet mit gut untersuchten Interventionen auf – zunehmend auch im Arbeitsschutz.

Ein neues Konzept

Die iga.Reporte zur Wirksamkeit der Gesundheitsförderung und Prävention im Betrieb (erschienen als 3, 13 und 28) verfolgen den Ansatz einer „Übersichtsarbeit von Übersichtsarbeiten“, um die derzeit beste externe Evidenz zusammenzustellen. Dabei sollen möglichst alle in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlichten sogenannten systematischen Reviews ausfindig gemacht und ausgewertet werden. Schon im Zuge der Recherche für den iga.Report 40 (Barthelmes et al. 2019) wurde klar, dass die Zahl dieser Reviews deutlich gestiegen ist. Damit machte allein der Anspruch, die vorhandene Evidenz überschaubar aufzubereiten, eine neue Herangehensweise erforderlich.

Alle identifizierten Übersichtsarbeiten durchliefen zunächst eine methodische Qualitätsprüfung mithilfe einer international verbreiteten Checkliste (Shea et al. 2017).[1] In die weitere Auswertung wurden nur die Veröffentlichungen einbezogen, die mindestens „moderate Qualität“ erreichten. Der finale Literaturpool umfasste nach Abschluss von Recherche, Qualitätscheck und ergänzenden inhaltlichen Überlegungen letztlich 49 systematische Reviews.

Um das Studienwissen leichter in die Praxis zu bringen, beleuchtet der neue Report neben der „reinen“ Effektivität von Maßnahmen erstmals gezielt auch Rahmenbedingungen und Prozessvariablen, wie beispielsweise Aspekte der Erreichbarkeit oder Nachhaltigkeit. Hierfür wurden die Übersichtsstudien mithilfe eines Rahmenkonzepts – dem „RE-AIM“-Modell (Glasgow et al. 1999) – ausgewertet. Entsprechend wurden möglichst detaillierte Informationen aus den Reviews extrahiert, zum Beispiel zu den in den Einzelstudien untersuchten Beschäftigtengruppen, Teilnahmeraten oder Langzeitbefunden. Insgesamt berichtet der iga.Report 40 Ergebnisse aus zwölf verschiedenen Themenbereichen, von denen nachfolgend „Stress und Psychische Störungen“, „Arbeitsunfälle und Verletzungen“ sowie „Erfolgsfaktoren und Prozessvariablen“ als Beispiele vorgestellt werden sollen.

RE-AIM-Modell

Das Konzept „RE-AIM“ wurde ursprünglich entwickelt, um einen einheitlichen Berichtstandard zu etablieren, mit dem Programme und Studien leichter geplant, bewertet und dokumentiert werden können. Das Akronym beschreibt die Dimensionen „REACH“, „EFFECTIVENESS“, „ADOPTION“, „IMPLEMENTATION“ und „MAINTENANCE“. Es fußt auf der Annahme, dass eine Intervention, damit sie ihre Wirkung entfalten kann,

  • die beabsichtigten Zielgruppen erreichen (REACH),
  • wirksam sein (EFFECTIVENESS),
  • von anderen relevanten Organisationen angenommen und übernommen werden (ADOPTION),
  • wie vorgesehen implementiert werden (IMPLEMENTATION) sowie
  • über einen längeren Zeitraum beibehalten (MAINTENANCE) werden kann und sollte.

RE-AIM wurde bereits in den verschiedensten Kontexten eingesetzt, darunter auch erfolgreich in der betrieblichen Prävention.

Breite Wissensbasis im Bereich "Stress und Psychische Störungen"

Laut Studienlage gibt es für die Prävention von Stress und psychischen Störungen eine Reihe gut erprobter Ansätze, die am Arbeitsplatz sinnvoll eingesetzt werden können. Zur Vermeidung von Depressionen besteht überzeugende Evidenz für die Wirksamkeit von Programmen, die sich kognitiv-behavioraler Techniken[2] bedienen und mehrere konzeptionelle Strategien miteinander verbinden (zum Beispiel kognitiv-behaviorale mit Problemlöse- oder Stressbewältigungstechniken). Interventionen werden zunehmend technologiebasiert vermittelt, eine Studie lässt aber vermuten, dass Face-to-Face-Interventionen den technologievermittelten im Hinblick auf die Reduktion von arbeitsbezogenem Stress tendenziell überlegen sind. Technologiebasierte Maßnahmen zur Prävention von Depressionen scheinen zudem mit einer gewissen Gefahr hoher Abbruchquoten einherzugehen. Hier kann die Begleitung der Maßnahmen durch therapeutisches Fachpersonal hilfreich sein. Für Kurzinterventionen zur Prävention von Stress und psychischen Störungen ist die Evidenz derzeit unzureichend. In einer Vielzahl von Studien erprobt wurden achtsamkeitsbasierte Interventionen, für welche die Mehrzahl positive Outcomes sowohl bezüglich psychischer Störungen als auch weiterer Endpunkte wie Stress oder Resilienz ausweist. Allerdings ist die Evidenz infolge methodischer Schwächen der Studien bislang limitiert. Positive Effekte werden auch in Bezug auf Führungskräftetrainings (zum Beispiel verbessertes Wissen über psychische Störungen) und betriebliche Programme gegen die Stigmatisierung psychischer Störungen berichtet. Auch für Maßnahmen gegen Mobbing am Arbeitsplatz sind die Befunde grundsätzlich ermutigend, wenngleich noch wenig belastbar.

In Bezug auf die Reduktion von Stress scheinen Face-to-Face-Interventionen technologievermittelten Interventionen tendenziell überlegen zu sein.

Evidenz für die Nachhaltigkeit von Maßnahmen zur Vermeidung von Arbeitsunfällen und Verletzungen

Für Maßnahmen des Arbeitsschutzes mit Schwerpunkt auf der Vermeidung von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Verletzungen fand sich eine substanzielle Zahl an systematischen Reviews, sodass dieser Bereich erstmals vollumfänglich in das Gesamtkonzept des Reports integriert werden konnte. Generell deuten die eingeschlossenen Übersichtsstudien auf einen positiven Nutzen für Beschäftigte und Unternehmen insbesondere mit Blick auf deren Nachhaltigkeit hin. Für Arbeitsschutztrainings zeigt sich starke Evidenz speziell für Verbesserungen bei sicherheitsrelevanten Verhaltensweisen. Auch für einen langfristigen Rückgang des Verletzungsrisikos aufgrund von Inspektionen wird Evidenz festgestellt, die allerdings qualitativ noch nicht vollständig überzeugen kann. Untersuchungen verdeutlichen, dass Beschäftigte tendenziell die Durchführung von Inspektionen durch die zuständigen Behörden unterstützen. Die eingeschlossenen Reviews berichten darüber hinaus von positiven Effekten auf das Arbeitsunfallgeschehen nach Einführung sicherer Arbeitsmittel, wenngleich die Studienqualität nur wenig überzeugt. Für Interventionen auf Unternehmensebene (zum Beispiel Sicherheitskampagnen) wird eine Reduzierung des Verletzungsrisikos berichtet.

Weitere Erkenntnisse des iga.Reports 40 in der Kurzzusammenfassung

Das Thema Sitzverhalten am Arbeitsplatz erweist sich als neuer „Shootingstar“ der Forschung. Interventionen wie zum Beispiel höhenverstellbare Sitz-Steh-Tische haben laut Studienlage Potenzial, die Sitzdauer am Arbeitsplatz zu verringern und somit gesundheitlichen Beschwerden vorzubeugen. In den Handlungsfeldern Bewegung, Ernährung, Rauchen und Gewichtskontrolle bestätigen sich im Wesentlichen die bisherigen Erkenntnisse der vorangegangenen Reporte. Deutlichen Nachholbedarf gibt es im Bereich Alkoholprävention und Substanzstörungen. Reviews zu ökonomischen Effekten zeigen, dass im Durchschnitt 65 Prozent der eingeschlossenen Studien einen ökonomischen Nutzen belegen. Der umfangreichste Review dokumentiert 47 Return on Investments (ROI) unter Berücksichtigung verschiedenster Outcomes wie Fehlzeiten und Krankheitskosten, die im Mittel betrachtet einen ROI von 2,7 ergeben.

Starke Evidenz zeigt sich für Arbeitsschutztrainings im Hinblick auf ein verbessertes sicherheitsrelevantes Verhalten.

Den Kontext im Blick – Prozessvariablen und Erfolgsfaktoren

Während in Bezug auf zum Beispiel die Erreichbarkeit von Beschäftigten Informationen in den Studien sehr rar gesät sind, finden sich verhältnismäßig viele Hinweise für die erfolgreiche Implementierung von Maßnahmen. So wird allen voran die Unterstützung durch Führungskräfte in den Reviews als wesentlicher Faktor benannt. Neben überbetrieblichen Rahmenbedingungen beeinflussen betriebliche Merkmale wie zum Beispiel personelle Ressourcen oder die Unternehmenskultur den Erfolg von Maßnahmen. Aufseiten der Intervention werden zum Beispiel das Setzen von Teilnahmeanreizen, eine kleinere Gruppengröße oder die Durchführung während der Arbeitszeit als förderliche Einflussfaktoren identifiziert. Nicht zuletzt geht auch eine aktive Einbindung der Mitarbeitenden nachweislich mit höheren Teilnahmeraten einher. In den Studien zum ökonomischen Nutzen werden neben der Verwendung von Mehrkomponentenprogrammen mehrfach die Verbesserung der Arbeitsorganisation sowie eine professionelle Beratung (zum Beispiel durch Betriebsärztinnen und Betriebsärzte) als Erfolgselemente betont.

Fazit

Zusammenfassend ist die Wissensbasis für die arbeitsweltbezogene Gesundheitsförderung und Prävention sehr umfangreich, weist aber nach wie vor Lücken auf. Dabei ist wichtig zu betonen, dass mangelnde Evidenzbelege nicht zwangsläufig auch mit fehlender Effektivität gleichzusetzen sind. Deutlich wird, dass für eine Verbesserung der Evidenzlage in vielen Bereichen bestehende Schwierigkeiten in der Interventionsforschung überwunden werden müssen. Dies kann zum Beispiel durch eine sorgfältige Wahl von Studiendesigns oder schlicht eine verbesserte Dokumentation von Studien erfolgen.

Literatur

Barthelmes, I.; Bödeker, W.; Sörensen, J. et al.: Wirksamkeit und Nutzen arbeitsweltbezogener Gesundheitsförderung und Prävention, Zusammenstellung der wissenschaftlichen Evidenz für den Zeitraum 2012 bis 2018, iga.Report 40, Initiative Gesundheit und Arbeit in Kooperation mit der DRV Bund, Berlin 2019

Glasgow, R. E.; Vogt, T. M. & Boles, S. M.: Evaluating the public health impact of health promotion interventions: the RE-AIM framework, American Journal of Public Health, 89(9), 1322-1327, 1999, ISSN: 0090-0036 (Print)

Shea, B. J.; Reeves, B. C.; Wells, G. et al.: AMSTAR 2: a critical appraisal tool for systematic reviews that include randomised or non-randomised studies of healthcare interventions, or both, British Medical Journal 358, j4008, 2017, DOI: 10.1136/bmj.j4008