Cannabiskonsum bei der Arbeit und nach Arbeitsunfällen nach der Legalisierung in Kanada
Die Legalisierung des nicht-medizinischen Cannabiskonsums in Kanada im Jahr 2018 warf die Frage nach möglichen Auswirkungen auf die Arbeitswelt auf, aber es fehlte an Forschung zu diesem Thema. Aktuelle Studien, unter anderem des Institute for Work & Health (IWH) in Toronto, zeigen, wie sich Konsummuster verändert haben und was das für Beschäftigte und Betriebe bedeutet.
Am 17. Oktober 2018 wurde der Freizeitkonsum (nicht-medizinischer Konsum) von Cannabis in Kanada legalisiert. Diese Änderung erfolgte, nachdem über viele Jahre hinweg Forderungen nach einem Public-Health-Ansatz für den Cannabiskonsum erhoben wurden. Damit war Kanada nach Uruguay erst das zweite Land weltweit, das die Herstellung, den Vertrieb, den Verkauf und den Konsum von Cannabis für nicht-medizinische Zwecke unter Erwachsenen legalisierte. Die Änderung folgte auf die Legalisierung von Cannabis zu medizinischen Zwecken im Jahr 2001.
Im Vorfeld der Legalisierung von Cannabis für den Freizeitgebrauch hatten Führungskräfte sowie Unternehmer und Unternehmerinnen im ganzen Land viele Fragen zu den möglichen Auswirkungen dieser beispiellosen Änderung auf die Arbeitswelt. Mussten sie damit rechnen, dass mehr Beschäftigte bei der Arbeit Cannabis konsumieren? Wie würden sie erkennen, ob ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin beeinträchtigt ist? Würde die Legalisierung zu mehr Fehlern und Gefährdungen und weniger Produktivität am Arbeitsplatz führen? Sollten sie auf den Cannabiskonsum am Arbeitsplatz unterschiedlich reagieren – je nachdem, ob der Konsum aus medizinischen Gründen oder zu Freizeitzwecken erfolgt? Und wie würden sie den Unterschied erkennen? Dies waren nur einige der Fragen, die von Arbeitgebenden in der Medienberichterstattung im Vorfeld der Legalisierung gestellt wurden.
Trotz dieser Bedenken war wenig darüber bekannt, in welchem Umfang Beschäftigte in Kanada bereits Cannabis konsumieren, auch am Arbeitsplatz, und welche Auswirkungen dieser Konsum hat. Auch aus anderen Ländern mit vergleichbaren Rechtsordnungen gab es wenig Informationen hierzu. Neben Fragen zu den Konsummustern fehlten auch Daten zu veränderbaren Faktoren, die den Cannabiskonsum am Arbeitsplatz nach der Legalisierung hätten beeinflussen können – Faktoren wie Risikowahrnehmung und soziale Normen. Angesichts dieser Forschungslücken hat das IWH zwei Forschungsprojekte zum Thema Cannabis und Arbeitswelt in Angriff genommen. Ziel der Studien war es, Veränderungen in den Konsumgewohnheiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Veränderungen in ihrer Wahrnehmung dieses Konsums, Zusammenhänge zwischen Cannabiskonsum und berufsbedingten Unfallrisiken sowie die Verwendung von Cannabis zur Behandlung von Symptomen nach einem Arbeitsunfall zu untersuchen. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Ergebnisse dieser Forschung. Er fasst auch relevante Erkenntnisse zusammen, die in den vergangenen Jahren von anderen Forschungszentren über den Cannabiskonsum von Beschäftigten sowie Kanadierinnen und Kanadiern im erwerbsfähigen Alter allgemein gewonnen wurden.
Veränderung des Konsums
Bereits in den 30 Jahren vor der Legalisierung hatte der Cannabiskonsum in der kanadischen Allgemeinbevölkerung zugenommen. Eine Analyse des Statistikamts Statistics Canada aus dem Jahr 2018, die sich auf neun landesweite Erhebungen aus den Jahren 1985 bis 2015 stützte, ergab, dass sich die Häufigkeit des aktuellen Cannabiskonsums (Konsum in den vergangenen zwölf Monaten) bei Personen ab 15 Jahren in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt hat – von 5,6 Prozent im Jahr 1985 auf 12,3 Prozent im Jahr 2015[1]. Nach der Legalisierung stieg die Häufigkeit des Konsums weiter an. Ende 2020 gaben fast 6,2 Millionen Kanadier und Kanadierinnen im Alter von 15 Jahren oder älter (oder 20,0 Prozent der Bevölkerung) an, in den vergangenen drei Monaten Cannabis konsumiert zu haben, so ein Bericht von Statistics Canada[2] aus dem Jahr 2021. Das ist ein stetiger Anstieg gegenüber den 14,0 Prozent, die in den ersten drei Monaten des Jahres 2018, also kurz vor der Legalisierung, einen Konsum angaben, und den 17,5 Prozent, die in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 einen Konsum angaben, also nach Inkrafttreten des Cannabisgesetzes.
Die Veränderung des Konsums verlief auch in den verschiedenen Altersgruppen unterschiedlich. Während die Häufigkeit des Konsums in den drei Monaten vor der Befragung bei den 18- bis 24-Jährigen von 2018 bis 2020 unverändert blieb, stiegen die Raten bei Personen im Alter von 25 Jahren und älter. Der stärkste Anstieg wurde bei Kanadierinnen und Kanadiern im Haupterwerbsalter (25 bis 44 Jahre) festgestellt. Weitere interessante Ergebnisse wurden 2023 in einer systematischen Übersichtsarbeit von Hall et al.[3] über die Auswirkungen der Cannabislegalisierung in Kanada erfasst. Darunter waren: ein Anstieg der Häufigkeit des Cannabiskonsums unter jungen Erwachsenen, nicht eindeutige Ergebnisse zu Veränderungen beim täglichen oder fast täglichen Konsum und widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich der Beeinträchtigung durch Cannabis beim Führen von Kraftfahrzeugen.
Die oben zitierten Studien fokussierten sich auf die Allgemeinbevölkerung – sowohl Erwerbstätige als auch Nichterwerbstätige. Ziel der IWH-Studie aus dem Jahr 2018 war es, die Forschungslücke über die Auswirkungen der Legalisierung auf Arbeitnehmende und den Cannabiskonsum am Arbeitsplatz zu schließen. Befragt wurden Beschäftigte über mehrere Zeiträume hinweg. Die erste Umfrage fand vier Monate vor der Legalisierung statt, die zweite im Jahr 2019, neun bis elf Monate nach der Legalisierung. Zu den Teilnehmenden der Studie gehörten Arbeitnehmende aus dem ganzen Land und aus verschiedenen Berufen und Branchen, die mindestens 15 Stunden pro Woche in Betrieben mit fünf oder mehr Mitarbeitenden beschäftigt waren. Die Stichproben umfassten 2.011 Befragte in der ersten Umfrage und 4.032 in der zweiten.
Die Ergebnisse zeigten einen Anstieg des Anteils der Beschäftigten, die in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis konsumiert hatten, von 30,4 Prozent vor der Legalisierung auf 39,3 Prozent neun bis elf Monate danach. Dieser Anstieg ging mit einem Rückgang des Anteils derjenigen einher, die über einen Konsum in der weiter zurückliegenden Vergangenheit berichteten (das heißt derjenigen, die angaben, das letzte Mal vor mehr als einem Jahr konsumiert zu haben). Diese Gruppe schrumpfte von 40,4 Prozent vor der Legalisierung auf 33,0 Prozent neun bis elf Monate danach. Diese beiden Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Legalisierung Menschen, die in der weiter zurückliegenden Vergangenheit Cannabis konsumiert hatten, dazu veranlasst haben könnte, den Konsum wieder aufzunehmen oder erneut auszuprobieren. Der tägliche oder fast tägliche Konsum stieg ebenfalls von 7,0 Prozent vor der Legalisierung auf 8,0 Prozent neun bis elf Monate nach der Legalisierung, eine statistisch signifikante, aber moderate Veränderung. Bemerkenswerterweise zeigten die Ergebnisse auch, dass sich der Prozentsatz der Beschäftigten, die noch nie Cannabis konsumiert hatten, zwischen vier Monaten vor der Legalisierung und neun bis elf Monaten nach der Legalisierung nicht veränderte.[4]
Dies waren die Veränderungen in der kurzen Zeit nach der Legalisierung. In den darauffolgenden Erhebungswellen (insgesamt vier zwischen 2018 und 2021) wurde eine stetige Zunahme des Konsums festgestellt. Bis 2021 stieg der Anteil der befragten Arbeitnehmenden, die einen Cannabiskonsum in den vergangenen zwölf Monaten angaben, auf 45,2 Prozent und der tägliche oder fast tägliche Cannabiskonsum stieg in diesem Zeitraum auf 13,9 Prozent.[5]
Veränderung des Konsums am Arbeitsplatz
Die IWH-Studie ergab, dass sich der Cannabiskonsum von Beschäftigten vor oder während der Arbeit in der ersten Zeit nach der Legalisierung nicht veränderte. Zwischen vier Monaten vor der Legalisierung und neun bis elf Monaten nach der Legalisierung blieb der Prozentsatz der Studienteilnehmenden, die angaben, vor und/oder während der Arbeit zu konsumieren, mit etwa neun Prozent stabil. (Der Cannabiskonsum am Arbeitsplatz umfasste den Konsum innerhalb von zwei Stunden vor der Arbeit, während der Arbeit, in den Pausen und am Ende eines Arbeitstages am Arbeitsplatz.) Dieser Anteil blieb stabil über die vier Erhebungswellen hinweg, die das IWH von 2018 bis 2021 durchgeführt hat.
Wer konsumiert Cannabis vor oder während der Arbeit?
In der IWH-Studie wurden auch die Faktoren untersucht, die mit dem Cannabiskonsum am Arbeitsplatz verbunden sind.[6] Mehrere persönliche Faktoren – darunter jüngeres Alter, niedrigerer sozioökonomischer Status sowie Zigaretten- und Alkoholkonsum – waren sowohl mit dem Cannabiskonsum am Arbeitsplatz als auch außerhalb des Arbeitsplatzes assoziiert. Zu den arbeitsbezogenen Faktoren, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit des Konsums am Arbeitsplatz in Verbindung standen, gehörten eine geringere Sichtbarkeit am Arbeitsplatz und weniger restriktive Raucherrichtlinien. Das Vorhandensein einer Führungskraft, bei der die Beschäftigten davon ausgingen, dass er oder sie einen Konsum oder eine Beeinträchtigung zuverlässig erkennen kann, war verbunden mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit des Konsums am Arbeitsplatz. Diese Ergebnisse stützen die These, dass soziale Kontrolle am Arbeitsplatz, insbesondere wenn sie das Risiko erhöht, entdeckt zu werden, den Konsum am Arbeitsplatz beeinflussen kann.
Weitere unerwartete Ergebnisse waren, dass Beschäftigte in einer Vorgesetztenrolle sowie in sicherheitssensiblen Positionen eher über einen Konsum am Arbeitsplatz berichteten. Möglicherweise sahen sich Vorgesetzte aufgrund ihrer Position weniger gefährdet, entdeckt zu werden, oder sie konsumierten Cannabis, um mit dem Arbeitsstress fertigzuwerden. Die höhere Wahrscheinlichkeit des Cannabiskonsums bei Arbeitnehmenden in Berufen mit erhöhten Sicherheitsanforderungen könnte sowohl darauf zurückzuführen sein, dass Beschäftigte in Branchen, in denen die Arbeit häufig körperlich anstrengend ist (wie das Baugewerbe und die verarbeitende Industrie), Cannabis konsumieren, um Schmerzen und Stress zu bewältigen, als auch auf die soziale Akzeptanz des Cannabiskonsums in diesen Industriezweigen (insbesondere im Baugewerbe).
Konsum am Arbeitsplatz und Folgen für die Sicherheit
Im Vorfeld der Legalisierung galt die Hauptsorge der Unternehmen den möglichen Auswirkungen auf die Arbeitsergebnisse, insbesondere auf die Sicherheit. Trotz dieser Bedenken gab es jedoch keine konsistenten oder belastbaren Beweise für einen Zusammenhang zwischen dem Cannabiskonsum von Beschäftigten und dem Verletzungsrisiko. Beispielsweise fanden sich in einer systematischen Übersichtsarbeit von Biasutti et al.[7] aus dem Jahr 2020 in sieben der 16 untersuchten Studien Belege für einen Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und einem erhöhten Risiko von Arbeitsunfällen. Eine Studie wies auf ein verringertes Risiko hin und die übrigen acht Studien lieferten keine Hinweise auf einen signifikanten Zusammenhang. In keiner der Studien wurden cannabisbedingte Beeinträchtigungen oder der Cannabiskonsum in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes bewertet. Nur in drei der untersuchten Studien gab es eindeutige Hinweise darauf, dass der Cannabiskonsum einem Arbeitsunfall vorausging.
Das IWH-Team wollte die Evidenzbasis erweitern, indem es sich auf die ersten drei Erhebungswellen der Studie stützte. Anhand der Antworten aller Personen, die an mindestens zwei aufeinanderfolgenden Erhebungen teilgenommen hatten – diese Stichprobe umfasste 2.745 Personen –, sollte der Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und dem späteren Risiko arbeitsbedingter Verletzungen untersucht werden. Um diejenigen zu identifizieren, die sich bei der Arbeit verletzt hatten, wurde den Teilnehmenden folgende Frage gestellt: „Haben Sie in den vergangenen zwölf Monaten einen Vorfall erlebt, der dazu führte, dass Sie sich während der Arbeit verletzt haben?“ Insgesamt erlitten 11,3 Prozent der Beschäftigten in der Stichprobe eine Verletzung am Arbeitsplatz. Von der gesamten Stichprobe hatten 65,5 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten kein Cannabis konsumiert. 27,4 Prozent gaben an, außerhalb des Arbeitsplatzes Cannabis konsumiert zu haben, und 7,0 Prozent hatten am Arbeitsplatz Cannabis konsumiert.
Die Studie ergab keinen statistisch signifikanten Unterschied im Verletzungsrisiko am Arbeitsplatz zwischen den Arbeitnehmenden, die nie Cannabis konsumiert hatten, und denjenigen, die im zurückliegenden Jahr Cannabis konsumiert hatten. Ein anderes Bild ergab sich jedoch beim Blick auf diejenigen, die Cannabiskonsum am Arbeitsplatz angaben (dies schließt insbesondere den Konsum während einer Schicht oder bis zu zwei Stunden davor ein). Im Vergleich zu denjenigen, die im vergangenen Jahr kein Cannabis konsumiert hatten, war das Risiko einer Verletzung am Arbeitsplatz für diejenigen, die im gleichen Zeitraum Cannabis am Arbeitsplatz konsumiert hatten, um das Zweifache höher (ein Risikoverhältnis von 1,97). Im Gegensatz dazu unterschied sich das Verletzungsrisiko bei Beschäftigten, die im vergangenen Jahr Cannabis konsumiert hatten, aber nie vor oder während der Arbeit, statistisch nicht von dem der Beschäftigten, die im gleichen Zeitraum kein Cannabis konsumiert hatten. Dieses Ergebnis unterstreicht, wie wichtig es ist, bei der Untersuchung des Zusammenhangs mit dem Verletzungsrisiko zwischen Cannabiskonsum am Arbeitsplatz und außerhalb des Arbeitsplatzes zu unterscheiden. Anstatt jeden Cannabiskonsum als Risiko für die Sicherheit am Arbeitsplatz zu betrachten, legt dieses Ergebnis nahe, dass sich die Unternehmen auf den Konsum konzentrieren sollten, der wahrscheinlich zu einer Beeinträchtigung bei der Arbeit führt.
Gründe für den Konsum
Die oben beschriebene IWH-Studie lieferte auch Daten für eine Arbeit, die die Gründe für den Cannabiskonsum in dieser Arbeitnehmerpopulation untersuchte.[8] Aus der vier Monate vor der Legalisierung rekrutierten Stichprobe (n = 2.011) untersuchte das IWH-Team die Antworten von 589 Teilnehmenden, die angaben, in den vergangenen zwölf Monaten Cannabis konsumiert zu haben. Die häufigsten Motive für den Konsum waren: Entspannung (59,3 Prozent), Genuss (47,2 Prozent), soziale Gründe (35,3 Prozent), Stressbewältigung (35,1 Prozent), medizinische Gründe (30,9 Prozent) und Schlaf (29,9 Prozent). Fast 40 Prozent der Befragten gaben arbeitsbezogene Motive für den Cannabiskonsum an, wobei Stressbewältigung und Entspannung am häufigsten als arbeitsbezogen angegeben wurden. Diese Ergebnisse bestätigen die Ergebnisse früherer qualitativer Studien, wonach einige Beschäftigte Cannabis konsumieren, um arbeitsbezogene Sorgen zu vergessen, Arbeitsstress zu bewältigen und sich am Ende des Arbeitstages zu entspannen.
Studienteilnehmende mit arbeitsbezogenen Motiven für den Cannabiskonsum berichteten über einen häufigeren Cannabiskonsum. Außerdem gab mehr als die Hälfte dieser Befragten an, vor und/oder während der Arbeit Cannabis zu konsumieren, verglichen mit nur 13 Prozent der Befragten, die keine arbeitsbezogenen Motive hatten. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass Arbeitnehmende, die aus Gründen Cannabis konsumieren, die mit der Arbeit in Zusammenhang stehen, diesen Konsum möglicherweise auf den Arbeitsplatz ausdehnen, um mit bestimmten Aspekten ihres Arbeitslebens zurechtzukommen.
Cannabiskonsum von verletzten/erkrankten Beschäftigten
In Anbetracht der Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der Beschäftigten Cannabis aus medizinischen oder psychischen Gründen konsumiert – in der vorangegangenen Studie war es fast ein Drittel –, sowie der Tatsache, dass [kanadische] Versicherungen für die Entschädigung von Beschäftigten Strategien für den Einsatz von Cannabis im Rahmen der Behandlung von verletzten Versicherten entwickelten, untersuchte das IWH auch den Cannabiskonsum von Beschäftigten mit arbeitsbedingten physischen Verletzungen und Erkrankungen. Im Gegensatz zu der anderen, bereits beschriebenen IWH-Studie stützte sich dieses zweite Forschungsprojekt auf Daten aus einer Kohorte von Arbeitnehmenden, die in der Provinz Ontario eine Entschädigung bei ihrem Unfallversicherer beantragt hatten[9]. Die Befragten wurden 18 und 36 Monate, nachdem sie ihren Anspruch auf Entschädigung aufgrund einer körperlichen Verletzung oder Krankheit geltend gemacht hatten, befragt. In der Stichprobe von 1.196 Teilnehmenden gaben die meisten befragten Arbeitnehmenden (72,6 Prozent) an, in den vergangenen zwölf Monaten überhaupt kein Cannabis konsumiert zu haben. 13,3 Prozent gaben an, Cannabis aus Gründen zu konsumieren, die nichts mit ihrer arbeitsbedingten Erkrankung zu tun hatten, und 14,1 Prozent sagten, sie hätten Cannabis zur Behandlung ihrer arbeitsbedingten Erkrankung konsumiert.
Im Vergleich zu anderen verletzten/erkrankten Beschäftigten, die Cannabis konsumierten, gaben die verletzten/erkrankten Beschäftigten, die Cannabis zur Behandlung ihrer arbeitsbedingten Erkrankungen konsumierten, häufiger an:
- täglich Cannabis zu konsumieren;
- Cannabis zu konsumieren, das sie nicht high macht;
- aufgrund ihrer Erkrankung mit dem Cannabiskonsum begonnen zu haben;
- Cannabis aus medizinischen und nicht-medizinischen Zwecken zu konsumieren, wobei als die häufigsten medizinischen Gründe Schmerzen, Schlaf und psychische Gesundheit genannt wurden;
- dass sie aufgrund ihres Cannabiskonsums in der Lage waren, ihren Konsum von verschreibungspflichtigen Medikamenten und Alkohol im vergangenen Jahr zu verringern; und
- dass der Cannabiskonsums positiven Einfluss auf ihre körperliche und geistige Gesundheit hatte.
Im Vergleich zu allen anderen Arbeitnehmenden in der Studie gaben verletzte/kranke Arbeitnehmende, die Cannabis zur Behandlung ihrer arbeitsbedingten Gesundheitsprobleme konsumierten, eher an, dass sie:
- finanzielle Schwierigkeiten haben und länger Lohnersatzleistungen aus der Arbeitsunfallversicherung beziehen;
- nicht arbeiten oder nicht bei dem Arbeitgeber arbeiten, in dessen Dienst sie ihre Verletzung/Erkrankung erlitten haben;
- derzeit eine medizinische Versorgung für ihre Erkrankung erhalten;
- eine starke oder extreme Schmerzbeeinträchtigung und eine größere Schmerzintensität aufgrund ihres arbeitsbedingten Zustands erfahren; und
- in einem schlechten Allgemeinzustand sind sowie größere psychische Belastungen und Schlafprobleme haben.
Zwei Drittel (67,3 Prozent) derjenigen, die Cannabis wegen ihrer arbeitsbedingten Gesundheitsprobleme konsumierten, taten dies, ohne eine ärztliche Beratung zum therapeutischen Cannabiskonsum erhalten zu haben. Das Drittel, das eine medizinische Beratung einholte, tat dies bei einem Allgemeinmediziner oder einer Allgemeinmedizinerin, einem Hausarzt oder einer Hausärztin, einem Facharzt oder einer Fachärztin. Die Beratung bezog sich hauptsächlich auf die Vorteile, Risiken und Nebenwirkungen sowie auf die Häufigkeit und Menge der Einnahme.
In einer separaten Studie[10] wurde dieselbe Gruppe von Antragstellenden in Ontario herangezogen, um weiter zu untersuchen, ob der Cannabiskonsum von verletzten Beschäftigten zu ihrer Genesung beiträgt. Auf der Grundlage der Verwaltungsdaten, die von der Arbeitsunfallversicherung Ontarios (Workplace Safety and Insurance Board oder WSIB) zur Verfügung gestellt wurden, untersuchte die Studie zwei Indikatoren für die Genesung: erstens den Betrag, den die WSIB für Gesundheitsleistungen ausgibt, und zweitens den Betrag, den die WSIB ausgibt, um den Verdienstausfall zu ersetzen, wenn verletzte Beschäftigte nicht arbeiten können (Lohnersatzleistungen).
Die Studie ergab, dass die verletzten Arbeitnehmenden, die Cannabis zur Behandlung ihrer arbeitsbedingten Erkrankung konsumierten, ähnlich hohe Ausgaben für Lohnersatzleistungen, aber höhere Ausgaben für Gesundheitsleistungen hatten als verletzte Arbeitnehmende, die kein Cannabis konsumierten. Verletzte Arbeitnehmende, die Cannabis aus anderen Gründen als zur Behandlung ihrer arbeitsbedingten Erkrankung konsumierten (das heißt zur Erholung oder aus medizinischen Gründen, die nichts mit dem Arbeitsunfall zu tun hatten), hatten im Vergleich zu verletzten Arbeitnehmenden, die kein Cannabis konsumierten, geringere Ausgaben für Lohnersatzleistungen, aber gleich hohe Ausgaben für Gesundheitsleistungen. Diese Kombination von Ergebnissen deutet darauf hin, dass der Cannabiskonsum nach einem Arbeitsunfall weder einen Schaden noch einen signifikanten Nutzen mit sich bringt.
Die wichtigsten Erkenntnisse
Insgesamt zeigen die Ergebnisse der beiden Forschungsprojekte des IWH, dass ein großer Teil der Beschäftigten [in Kanada] tatsächlich Cannabis konsumiert, auch zu therapeutischen Zwecken, und dass der Cannabiskonsum in der allgemeinen Erwerbsbevölkerung leicht und konstant zugenommen hat. Die letztgenannte Veränderung könnte eine Fortsetzung einer längerfristigen Entwicklung sein – des zunehmenden Cannabiskonsums unter Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter –, die der Legalisierung von Cannabis für den Freizeitgebrauch in Kanada vorausging.
Die Untersuchung des IWH ergab keinen Anstieg der Zahl von Menschen, die in den vergangenen zwölf Monaten während oder vor der Arbeit Cannabis konsumiert hatten. Dennoch ist die Tatsache, dass eine von zehn beschäftigten Personen angibt, Cannabis am Arbeitsplatz zu konsumieren, immer noch sehr besorgniserregend – insbesondere angesichts des zweifach erhöhten Verletzungsrisikos, das mit dem Konsum am Arbeitsplatz verbunden ist.
Allerdings handelt es sich hierbei um kurzfristige Ergebnisse. Möglicherweise gibt es größere Veränderungen beim Konsum von Cannabis und es bedarf weiterer Forschung, um die Auswirkungen zu beobachten. Die Veränderung hat auch wichtige Fragen aufgeworfen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Darunter sind die mögliche Beeinträchtigung am Arbeitsplatz und die Wichtigkeit von Strategien und Praktiken zu deren Bewältigung. Im Kontext eines legalisierten Konsums erkennen die Unternehmen an, dass ein gewisser Anteil der Beschäftigten Cannabis konsumieren wird und dass eine Null-Toleranz-Politik, die jeglichen Konsum (auch außerhalb der Arbeit) verbietet, wahrscheinlich nicht durchführbar ist. Vielmehr richten die Unternehmen ihr Augenmerk auf Maßnahmen, die sich auf den Umgang mit Beeinträchtigungen und auf die Arbeitstauglichkeit konzentrieren.
Darüber hinaus hat sich nach der Legalisierung die Diskussion über den Substanzkonsum am Arbeitsplatz (und über eine größere Bandbreite von Substanzen) ausgeweitet, einschließlich der Diskussion über die Rolle von Verletzungen für die Entwicklung hin zu einem solchen Konsum und über die Notwendigkeit einer größeren Unterstützung am Arbeitsplatz für diejenigen, die mit Substanzkonsum zu kämpfen haben. Nicht zuletzt dank der wachsenden Zahl der Forschungsarbeiten zu diesem Thema können die Lehren, die aus der Zeit nach der Legalisierung gezogen werden, helfen, Politikansätze bei anderen Fragestellungen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit Substanzkonsum zu entwickeln, sobald diese aufkommen.
Übersetzung: deepl und Stabsbereich Kommunikation der DGUV
Das IWH ist eine gemeinnützige Forschungseinrichtung mit Sitz in Toronto, deren Aufgabe es ist, Forschungsarbeiten zu initiieren und durchzuführen, die politische Entscheidungsträgerinnen und -träger, Arbeitgebende und Arbeitnehmende bei der Schaffung eines gesunden, sicheren und integrativen Arbeitsumfelds unterstützen.