Mediensucht und betriebliche Suchtprävention
Ob beim Musikhören, Kommunizieren, Einkaufen oder Spielen – digitale Medien sind in jedem Lebensbereich angekommen. Sie werden nicht nur im Beruf und in der Schule genutzt, sondern häufig auch in der Freizeit. Neben vielen Vorteilen verbirgt sich hinter der Nutzung digitaler Medien jedoch auch eine große gesundheitliche Gefahr: die Mediensucht.
In den vergangenen Jahren ist die Nutzung digitaler Medien gestiegen. 99 Prozent[1] der Deutschen nutzen täglich Massenmedien. 77,79 Millionen sind dabei im Internet unterwegs. Nach Studiendaten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2023[2] nutzen junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren durchschnittlich vier Stunden täglich das Internet und Computerspiele. Damit verbringen sie 60 volle Tage des Jahres vor einem Display. Eine aktuelle DAK-Studie[3] zeigt außerdem, dass 4,3 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland als mediensüchtig gelten.
Mediensucht – was ist das genau?
Unter den Begriff „Medien“ fallen sowohl klassische Informationskanäle wie der Fernseher, das Radio oder die Zeitung als auch digitale Medien wie das Smartphone, das Tablet oder der Computer. „Mediensucht“ ist ein umgangssprachlicher Sammelbegriff für eine Abhängigkeit von Medien, vornehmlich digitalen Medien und deren Anwendungen.
Die Mediensucht lässt sich als die Unfähigkeit des Individuums definieren, den eigenen Medienkonsum zu regulieren. Es herrscht keine adäquate Kontrolle mehr über die Dauer und Häufigkeit der Nutzung. Entsprechend zählen die psychischen Störungen im Bereich der digitalen Mediennutzung zu den Verhaltenssüchten.
Zur Mediensucht zählt die Sucht nach Computerspielen und spezifischen Internetangeboten. Sie kann beispielsweise in Form einer exzessiven Nutzung von Social Media, Online-Pornografie und Online-Shopping auftreten.
Folgen der Mediensucht
Eine Mediensucht führt zu einer erheblichen Vereinnahmung des Lebens, was wiederum Stress für die betroffene Person und auch deren Angehörige bedeutet. Die allgemeine Fähigkeit zum selbstständigen Leben, zu sozialen Beziehungen sowie zur Aufrechterhaltung des eigenen Gesundheitszustands kann stark beeinträchtigt werden.
Leidet jemand unter einer Mediensucht, so geht dies oft mit einer Toleranzentwicklung einher. Es wird also eine immer intensivere oder längere Mediennutzung nötig, um eine positive Empfindung zu erreichen. Wird die Nutzung eingeschränkt oder unterbrochen, kommt es häufig zu entzugsähnlichen Symptomen. Diese können sich unter anderem in Form von Unruhe, Reizbarkeit oder körperlichen Beschwerden zeigen. Des Weiteren kreisen die Gedanken der Betroffenen ständig um die Mediennutzung.
Die Azubi-Gesundheitsstudie 2015[4][5] hat gezeigt, dass es eine Wechselwirkung zwischen einer erhöhten Mediennutzung und Schlafstörungen, ungesunder Ernährung und deutlichem Bewegungsmangel gibt. Als Folge dessen scheint vor allem die Arbeitsleistung zu sinken und die Fehlzeiten scheinen zu steigen. Außerdem häufen sich Fehler aufgrund von Müdigkeit sowie mangelnder Konzentration und Aufmerksamkeit. Auch durch ablenkenden Konsum digitaler Medien während der Arbeit erhöht sich die Unfallgefährdung. Zum Beispiel steigt das Unfallrisiko durch Stolpern, Rutschen, Stürzen oder Unfälle bei Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten.
Kennzeichnend für abhängiges Verhalten ist, dass der Konsum trotz negativer Konsequenzen für Schule, Arbeitsplatz oder das private Umfeld fortgesetzt wird.
Juristisch gesehen ist die ausgedehnte private Nutzung von Medien während der Arbeitstätigkeit eine Verletzung der arbeitsrechtlichen Pflichten. So kann die Sucht bei wiederholtem Konsum sogar zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen.
Warum werden Menschen mediensüchtig?
Vor allem bezogen auf Computerspiele gibt es verschiedene Elemente[6], die die Suchtentstehung fördern. Die Spiele bieten intensive Erlebnisse und Möglichkeiten, ständig neue und aufregende Erfahrungen zu machen. Lösen sie Gefühle wie Zugehörigkeit, Verpflichtung, Belohnung oder Neugier aus, steigt die Gefahr einer Sucht. Rollenspiele und Spiele, die sich auch durch Wettbewerb auszeichnen und gegebenenfalls sogar monetarisiert sind, erhöhen das Suchtpotenzial ebenfalls massiv. Vor allem männliche Jugendliche und junge Erwachsene sind gefährdet, durch Online-Games süchtig zu werden.[7] Mädchen und junge Frauen sind dagegen eher anfällig dafür, sich beim Chatten oder auf Social-Media-Kanälen zu verlieren.
Neben den Risikofaktoren, die digitale Medien und deren Anwendungen mit sich bringen, spielen beim Risiko für eine Suchtentwicklung auch das soziale Umfeld und die Sozialisation eine Rolle. Werden digitale Medien beispielsweise schon früh als Bewältigungsstrategie verwendet, um negative Stimmungslagen zu ändern, so kann das ein Grund dafür sein, dass dieses Verhaltensschema später weitergeführt wird. Haben die Betroffenen relativ viel Freizeit, unter anderem aufgrund einer mangelhaften oder fehlenden sozialen Einbindung, steigt das Risiko einer Störung ebenfalls.
Auch soziodemografische Faktoren[8] spielen eine wichtige Rolle. Jüngere Menschen sind besonders anfällig für Mediensucht, da sie oft mehr Zeit mit digitalen Medien verbringen und weniger ausgereifte Mechanismen der Selbstkontrolle haben. Außerdem besteht ein Zusammenhang zwischen einem niedrigen Bildungsniveau oder einem Migrationshintergrund und dem Risiko einer Suchterkrankung.[9]
Entwicklungsprozesse einer Mediensucht
Aus neurobiologischer Perspektive erhöht das abhängige Verhalten die physiologische Erregung und sorgt für einen Dopaminausstoß, der zu einem angenehmen Zustand führt und als Belohnung erlebt wird. Um den gleichen Zustand wieder zu erreichen, wird das Verhalten wiederholt. Hierbei spielen zwei verschiedene Konditionierungsprozesse eine Rolle:
Klassische Konditionierung
Ein bestimmter Reiz, genannt unkonditionierter Stimulus, führt zu einer bestimmten Reaktion (unkonditionierte Reaktion). Zusätzlich gibt es einen neutralen Stimulus, der parallel zu dem unkonditionierten Stimulus auftritt, aber keine spezielle Reaktion auslöst. Wenn dieser neutrale Stimulus mehrmals parallel zu dem unkonditionierten Stimulus auftritt, findet Konditionierung statt. Infolgedessen sorgt nun der konditionierte Stimulus, der aus dem neutralen Stimulus entstanden ist, für die konditionierte Reaktion, die davor durch den unkonditionierten Stimulus ausgelöst wurde. Ursprünglich neutrale Situationen lösen nun also das Verlangen nach dem Gefühl der unkonditionierten Reaktion aus. Übertragen auf Mediensucht bedeutet das, dass bestimmte Umgebungsreize oder Personen den Wunsch nach dem Konsum von Medien oder Computerspielen auslösen können.
Operante Konditionierung
Weiterhin gibt es die operante Konditionierung, bei der ein Verhalten durch Konsequenzen beeinflusst wird. Es wird unterschieden in Verstärkung, welche die Wahrscheinlichkeit für die Wiederholung des Verhaltens erhöht, und in Bestrafung, welche die Wiederholungswahrscheinlichkeit verringert. Positive Verstärkung bedeutet, dass ein angenehmer Reiz hinzugefügt wird. Negative Verstärkung meint das Entfernen eines unangenehmen Reizes. Bei positiver Bestrafung wird ein unangenehmer Reiz hinzugefügt. Wohingegen bei der negativen Bestrafung ein angenehmer Reiz entfernt wird. Das ganze Konzept kann also zur gezielten Verhaltensmodifikation genutzt werden. Im Kontext von Suchtverhalten gilt operante Konditionierung als Faktor für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeit. Positive Verstärkung wäre beispielsweise das Ausführen einer suchtbezogenen Handlung, welches angenehme Gefühle hervorrufen kann. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten wiederholt wird. Negative Verstärkung ist es, wenn mit der Durchführung der Suchthandlung unangenehme Zustände oder Gefühle reduziert oder sogar beseitigt werden. Damit wird das Verhalten als Mittel zur Bewältigung der Probleme angesehen.
Wie betriebliche Suchtprävention greifen kann
Die Aufgabe der betrieblichen Suchtprävention ist es, Risiken und Probleme am Arbeitsplatz, die durch den Konsum von Suchtmitteln entstehen können, mit präventiven Maßnahmen und Interventionen zu minimieren. Für eine nachhaltige Suchtprävention im Unternehmen bedarf es bei der Mediensucht – wie auch zur Verhinderung von Abhängigkeiten von Alkohol, Cannabis oder anderen Stoffen – eines breit gefächerten Maßnahmenpakets:
- Betriebliche Vereinbarung zur Suchtprävention:
Ein klar definierter Rahmen, der die Haltung des Unternehmens zur Nutzung digitaler Medien am Arbeitsplatz als auch die Folgen von Verstößen darlegt, kann das Fundament der betrieblichen Suchtprävention sein. Dieser Rahmen kann zum Beispiel in einer Betriebsvereinbarung festgelegt werden. Die Vereinbarung sollte regelmäßig überprüft und bei Bedarf angepasst werden, damit ihre Aktualität und Effektivität sichergestellt sind.
Es sollte beispielsweise klare Regeln im Unternehmen geben, wie Beschäftigte private und dienstliche Smartphones und das Internet während der Arbeit nutzen dürfen. Denn nur so können sich Vorgesetzte, Kolleginnen und Kollegen sowie Sicherheitsbeauftragte darauf berufen, was vertretbar ist und was nicht.
- Aufklärungskampagnen:
Es ist wichtig, ein Bewusstsein für die Auswirkungen und potenziellen Risiken von digitalem Medienkonsum zu schaffen. Informationskampagnen im Rahmen von Gesundheitstagen oder Aktionswochen können dabei helfen, mögliche Gefahren für die Gesundheit und die Sicherheit am Arbeitsplatz deutlich zu machen. Beim Thema Mediensucht sollten im Arbeitsumfeld vor allem Jugendliche und Heranwachsende im Fokus stehen, die als besondere Risikogruppe gelten. Hierfür gibt es spezielle Sensibilisierungs- und Aufklärungsprogramme für Auszubildende. Beispielhaft dafür sind die Unterrichtseinheit zum Thema Onlinesucht auf „Lernen & Gesundheit“, dem Schulportal der DGUV, und die „Jugend will sich-er-leben“-Kampagne „Frei sein! Leben ohne Sucht“.[10]
- Schulungen:
Es kann ein wirksames Instrument für die Suchtprävention sein, den Beschäftigten Schulungen rund um digitale Medien anzubieten. Ziel ist es, ein Bewusstsein für die Risiken der Mediennutzung zu schaffen, Sucht zu thematisieren und Mythen zu entkräften.
Insbesondere Führungskräfte und Ausbildende sollten dahin gehend geschult werden, zielgerichtet intervenieren zu können. Dazu gehört neben Kenntnissen in qualifizierter Gesprächsführung auch, Auffälligkeiten zu erkennen und zu wissen, wie rechtssicher gehandelt werden kann.
- Zugang zu Beratung und Hilfe:
Ein einfacher Zugang zu Beratungs- und Behandlungsangeboten für Beschäftigte, die Hilfe suchen, sollte ermöglicht beziehungsweise unterstützt werden. Betriebliche Suchtbeauftragte, interne Beratungsstellen oder arbeitsmedizinische Betreuung können das leisten. Außerdem kann zu ortsnahen Beratungsstellen sowie niedergelassenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten Kontakt hergestellt werden. Auch durch Partnerschaften mit externen Anbietern, wie zum Beispiel örtlichen Suchtberatungsstellen oder Dienstleistenden, die dabei unterstützen, ein sogenanntes Employee Assistance Program (EAP) umzusetzen, kann das erfolgen. Bei einem EAP handelt es sich um eine Beratung rund um Probleme in den Bereichen Beruf, Gesundheit und Privatleben. Zusätzlich können im Betrieb Angebote zur individuellen Konsumreduzierung beziehungsweise zum Konsumverzicht unterbreitet werden.
- Gefährdungsbeurteilung:
Im Rahmen der allgemeinen Suchtprävention spielt die Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung eine grundlegende Rolle. Die Gefährdungsbeurteilung hilft, ungünstig gestalteten Arbeitsbedingungen, die den Wunsch nach Rückzug und Realitätsflucht verstärken können, entgegenzuwirken. Zusätzlich sollten sicherheitsrelevante Tätigkeiten identifiziert werden, die besondere Anforderungen an die Befähigung und das sicherheitsgerechte Verhalten der Beschäftigten stellen und mit einem Konsum digitaler Medien während der Ausübung unvereinbar sind, zum Beispiel Fahr-, Steuer- und Überwachungstätigkeiten.
- Maßnahmen betrieblicher Gesundheitsförderung:
Eine Unternehmenskultur, in der Offenheit in Bezug auf Suchtfragen betont und Unterstützung angeboten wird, ist zu fördern. Beschäftigte sollten wissen, an wen sie sich wie wenden können, wenn sie Hilfe benötigen. Hierfür ist es entscheidend, dass im Betrieb Anlaufstellen geschaffen werden. Die Beschäftigten sollten außerdem ermutigt werden, an betrieblichen Präventionsprogrammen teilzunehmen. Um Überlastung und ständige Erreichbarkeit zu vermeiden, sollte es für den Einsatz digitaler Arbeitsmedien klare Regeln geben. Beispielsweise sollten regelmäßige Pausen oder „bildschirmfreie Stunden“ berücksichtigt werden. Ein weiterer Aspekt ist es, physische Aufgaben und direkte Interaktionen zu ermöglichen und zu fördern. Beispielsweise indem Beschäftigte dazu ermutigt werden, eher zu telefonieren oder wenn möglich ins Büro der Ansprechperson zu gehen, anstatt eine E-Mail zu schreiben. Programme zur Förderung körperlicher Aktivität, wie Fitnessstudio-Mitgliedschaften, Sportveranstaltungen oder auch Bewegungspausen, können für die Prävention einer Mediensucht genauso sinnvoll sein wie für andere Süchte. Für ein solch gelungenes Betriebsklima braucht es Führungskräfte, die mit ihrem eigenen Verhalten ein gutes Beispiel geben. Unterstützen können auch Teambuilding-Aktivitäten und soziale Events zur Förderung der Zusammenarbeit.
Links mit weiteren Informationen:
- Allgemeine Informationen des Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen: Computerspiel- und Internetabhängigkeit – Der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen (bundesdrogenbeauftragter.de)
- Erklärfilm des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) „Tobi Krell erklärt Mediensucht“: https://youtu.be/e0VOKSFiqHs?si=EQlu9RrQ717u_59k
- DGUV:
▸Allgemein: Lernen und Gesundheit: Onlinesucht (dguv-lug.de)
▸Für Führungskräfte: Wie man Internetsucht unter Beschäftigten ansprechen kann – Arbeit & Gesundheit (dguv.de)
- JWSL:
▸Kampagne: „Frei Sein: Leben ohne Sucht“: 2019: JWSL
▸Animations-Clip 1 „Wie lebe ich mein Leben?“: https://www.youtube.com/watch?v=ds7jai_k6dA&t=37s
▸Animations-Clip 2 „Ist Gaming eine neue Krankheit?“: https://youtu.be/5RQMYBfAc74?si=Y67_-FF48lgZQm70
- Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs):
▸JIM-Studie 2023 „Jugend, Information, Medien“: 2023 | mpfs.de
- BZgA:
▸Pressemitteilung „Gamescom 2024 – Neue BZgA-Daten: Zunehmende Internetnutzung kann psychisch belasten“: BZgA: Gamescom 2024 – Neue BZgA-Daten: Zunehmende Internetnutzung kann psychisch belasten
▸Downloads für alle Zielgruppen: Prävention exzessiver Mediennutzung – BZgA Shop▸Für Azubis & Jugendliche: „Dein Infoportal für Mediennutzung & Medienkompetenz“: Gesunde Mediennutzung: Tipps für Jugendliche | Ins Netz gehen (ins-netz-gehen.de)
- Selbsttests:
▸BZgA: Gesunde Mediennutzung | Der Selbsttest von „Ins Netz gehen“ (ins-netz-gehen.de)
▸Landesanstalt für Medien NRW: Digitale Abhängigkeit – klicksafe.de