„Punktnüchternheit gibt Sicherheit“

Eine Betriebsvereinbarung kann helfen, mit dem Thema Suchtmittelkonsum bei der Arbeit umzugehen. Bei Anzeichen für bestehende Suchtmittelprobleme wird ein klärendes Gespräch nötig. Für beide Situationen bietet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen Unterstützungsmaterialien an.

Herr Dr. Raiser, die Legalisierung von Cannabis[1][2] wird gesellschaftlich stark diskutiert. Wie ist Ihr Blick auf diese Debatte?

Raiser: Wenn wir auf das neue Gesetz blicken, dann ist aus Sicht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen die Entkriminalisierung von Konsumierenden auf jeden Fall zu begrüßen. Nach unseren Erfahrungen verhindert oder vermindert die Strafverfolgung von Konsumierenden keine Suchterkrankungen. Und das ist ja das vorrangige gesellschaftliche Ziel. Im Gegenteil: Die Strafverfolgung führt in vielen Fällen zu weiteren Problemen für die Betroffenen, zum Beispiel im Bereich der sozialen Teilhabe.

Positiv bewerten wir auch, dass das Gesetz zunächst keinen kommerziellen Verkauf vorsieht. Dieser würde wiederum neue Verkaufs- und Konsumanreize setzen, und das sollte verhindert werden. Kritisch sehen wir hingegen die Ausgestaltung der Prävention und Beratung. Da hätten wir uns eine deutlichere Stärkung gewünscht, und zwar nicht nur zentralisiert auf Bundesebene, sondern auch vor Ort, wo Prävention gemacht wird. Beratung findet auf kommunaler Ebene statt, im direkten Gespräch mit den Betroffenen.

Welche Folgen hat Cannabiskonsum generell auf Konsumierende?

Raiser:
Die Wirkung, die Cannabis entfaltet, hat individuell sehr unterschiedliche Ausprägungen. Sie hängt von verschiedenen Faktoren und Einflüssen ab. Das sind zum Beispiel die Dosis, die Form und Häufigkeit des Konsums, die körperlichen Anlagen der Konsumierenden. Generell kann man sagen, Cannabis bewirkt eine Veränderung der Wahrnehmung, es beeinflusst die Aufmerksamkeit, die Konzentration, die Motorik und das Reaktionsvermögen. All das ist natürlich von Bedeutung in Bezug auf die situative Teilnahme am Straßenverkehr oder die Ausübung der Arbeitstätigkeit.

Kann man von Cannabis abhängig werden? Wie hoch ist der Anteil der Süchtigen unter den Konsumierenden?

Raiser:
Ja, natürlich. Die Abhängigkeit zeigt sich in psychischen und physischen Symptomen. Bei Cannabis stehen psychische Aspekte im Vordergrund. Ein körperliches Symptom ist zum Beispiel eine Toleranzentwicklung, aber der Entzug ist nicht ganz so stark wie bei anderen Drogen.

Wie viele Menschen von Cannabis abhängig werden, ist abhängig von der Intensität und Häufigkeit des Konsums. Während von allen Konsumierenden etwa jeder zehnte eine Cannabisgebrauchsstörung entwickelt, sind es unter den regelmäßig Konsumierenden bis zu jedem dritten.

Dr. Peter Raiser, der Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) | © DHS
Dr. Peter Raiser, der Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) ©DHS

Gibt es Langzeitfolgen bei regelmäßigem Cannabiskonsum?

Raiser:
Auch diese sind wiederum abhängig von den oben genannten Faktoren – zum Beispiel von der Art der Aufnahme. Wenn Cannabis geraucht wird, ist die Wirkung unmittelbarer, hält aber nicht so lange an. Wenn Cannabis zum Beispiel in Keksen gegessen wird, setzt die Wirkung später ein und hält länger an, der Wirkstoff THC ist länger im Blut nachzuweisen. Auch die Gewöhnung an den Wirkstoff hat Einfluss auf die Wirkung.

Bei den langfristigen Gefahren ist zum einen die Abhängigkeit zu nennen, aber auch Lungenprobleme sind eine Gefahr, wenn Cannabis geraucht wird. Gerade in Verbindung mit Tabak kann Cannabisrauch die Lunge schädigen. Hinzu kommen psychische Erkrankungen. Gerade bei Menschen, die ohnehin eine entsprechende Disposition haben, kann Cannabis die Gefahr einer solchen Erkrankung erhöhen. Besonders gefährdet sind junge Menschen bis etwa Mitte 20, denn bei ihnen erhöht Cannabis die Störung der psychosozialen Entwicklung. Vor allem der regelmäßige Konsum in diesem Alter ist risikoreich, weil mögliche Entwicklungsstörungen nicht mehr reversibel sind.

Welche Gefahren gehen von Cannabiskonsumierenden im Straßenverkehr aus? Wie bewerten Sie die Regelung, die jetzt eingeführt wurde?

Raiser:
Anfang Juni hat der Bundestag neue Regeln zu Cannabis im Straßenverkehr beschlossen. Es gilt demnach ein Grenzwert von 3,5 Nanogramm THC pro ein Milliliter Blut. Wer mit einer höheren Konzentration im Blut fährt, riskiert 500 Euro Bußgeld und einen Monat Fahrverbot.

Um Rechtssicherheit zu haben, wurde bei Alkohol ein Blutalkoholgrenzwert eingeführt. Für den Umgang mit Cannabis im Straßenverkehr brauchen wir etwas Vergleichbares. Wir brauchen ein verlässliches, wirksames Verfahren, das aufzeigt, ob und ab welcher Menge Cannabis die Fahrtüchtigkeit einschränkt.

Die Bundesregierung hatte eine Expertenkommission eingesetzt, um eine Lösung zu finden. Die Kommission hat den jetzt gültigen Grenzwert von 3,5 Nanogramm THC pro ein Milliliter Blut vorgeschlagen. Ich vermag nicht zu sagen, ob dieser Grenzwert der richtige ist, aber die Grenzwerte-Kommission hat sich darauf verständigt.[3] Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir eine rechtssichere Bestimmung bekommen haben.

In der DGUV Vorschrift 1 heißt es: „Versicherte dürfen sich durch den Konsum von Alkohol, Drogen oder anderen berauschenden Mitteln nicht in einen Zustand versetzen, durch den sie sich selbst oder andere gefährden können.“ Wie können Führungskräfte oder Kollegen und Kolleginnen erkennen, dass jemand konsumiert und die Grenzen der Arbeitsfähigkeit erreicht hat?

Raiser:
Führungskräfte müssen sich darüber im Klaren sein, dass ihre Aufgabe nicht darin besteht, medizinische Diagnosen zu stellen. Ihre Aufgabe ist es, Auffälligkeiten zu erkennen und einzuschätzen, ob Mitarbeitende in der Lage sind, ihre Aufgaben ohne Gefährdung für sich und andere auszuüben. Sie können beobachten: Verändert sich etwas im Sozialverhalten einer Person? Vernachlässigt jemand seine Arbeit? Wirkt jemand abwesend und unkonzentriert? Wenn es Anlässe zur Sorge gibt, dann sollte die Führungskraft das Gespräch suchen, um die Gründe für die beobachteten Veränderungen abzuklären. In solch einem Gespräch kann dann auch das Thema Rauschmittel angesprochen werden. Eine andere Situation ist gegeben, wenn jemand direkt bei der Arbeit oder in der Pause beim Konsum beobachtet wird. Dann sollte die Führungskraft sofort einschreiten, denn eine erhöhte Unfallgefahr kann nicht ausgeschlossen werden.

Was sollten Führungskräfte bei einem Gespräch zum Thema beachten?

Raiser:
Sie sollten sich auf jeden Fall gut vorbereiten auf so ein Gespräch. Die Führungskraft sollte die eigene Rolle reflektiert haben und einen guten und vertrauensvollen Rahmen schaffen. Es ist wichtig, die Beobachtungen oder Vorfälle, die der Anlass des Gesprächs waren, zu dokumentieren und die Beobachtungen und Sorgen auszusprechen, ohne Vorwürfe zu erheben. Vielmehr sollte der Fokus darauf liegen, die Gründe für den möglichen Konsum in Erfahrung zu bringen, um dann Hilfe anbieten zu können. Entsprechende Stellen sollte man vorher recherchiert haben. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen bietet Unterstützung bei der Suche nach Hilfeangeboten[4][5][6] sowie Informationsmaterial zum Beispiel in Form von Leitfäden an.

Was können Betriebe im Vorhinein tun, um die Belegschaften für das Thema zu sensibilisieren und für das Motto „Keine Drogen am Arbeitsplatz“ zu werben?

Raiser:
Es gibt bereits Präventionsprogramme für spezielle Zielgruppen wie zum Beispiel Auszubildende. Aber darüber hinaus empfehle ich, schon früher anzusetzen und die Gefahren des Suchtmittelkonsums etwa im Rahmen des Gesundheitsmanagements oder der Gesundheitsvorsorge anzusprechen. Die Verantwortlichen im Betrieb können sich auch vorbereiten, indem sie sich über professionelle Beratungsangebote in ihrer Nähe informieren und – ganz wichtig – indem sie eine Betriebsvereinbarung zum Suchtmittelkonsum verabschieden.

Was sind die Vorteile einer Betriebsvereinbarung?

Raiser:
Der Betrieb legt damit Regeln fest, die alle kennen und an die sich alle halten müssen. Das schafft Transparenz und gibt Rechtssicherheit. Wir empfehlen allen Unternehmen, sich auf das Konzept der „Punktnüchternheit“ zu verständigen. Das heißt: Während der Arbeit liegt kein Einfluss von Rauschmitteln vor, um die Arbeitssicherheit für alle nicht zu gefährden. Es gibt kein allgemeines Gesetz, das Rauschmittel wie Alkohol oder Cannabis bei der Arbeit verbietet. Aber eine solche Vereinbarung erhöht die Verbindlichkeit für alle im Betrieb. Punktnüchternheit gibt Sicherheit.

Wird das Thema Sucht in den Betrieben tabuisiert oder als Herausforderung erkannt?

Raiser:
Wir haben dazu leider keine Zahlen. In den großen Unternehmen wird generell mehr Prävention betrieben, in den kleineren fehlen dazu oft die Ressourcen. Aber in den letzten zehn Jahren kümmern sich zunehmend auch kleinere Betriebe um Gesundheitsthemen. Das hat sicher auch mit dem Fachkräftemangel zu tun. Es entsteht ein Bewusstsein dafür, dass es sinnvoll ist, Menschen mit einem Suchtproblem zu helfen und sie zu begleiten. Nach meiner Wahrnehmung tut sich da etwas: Immer mehr Unternehmen nehmen sich des Themas an. Sucht wird langsam entstigmatisiert und wie andere Erkrankungen behandelt, aber es ist noch ein weiter Weg dahin. Das neue Cannabisgesetz kann hier vielleicht einen weiteren Schub geben, ideologiefreier mit dem Thema Sucht umzugehen.

Welche anderen Drogen machen Ihnen mit Blick auf die Arbeits- und Bildungswelt Sorgen? Wie sieht es zum Beispiel bei synthetischen Opioiden wie Fentanyl aus, die in den USA viele Probleme verursachen?

Raiser:
In der DHS macht uns die Verbreitung von Crack und Fentanyl schon große Sorgen. Und leider ist die Suchthilfe finanziell nicht gut genug ausgestattet, um hier so reagieren zu können, wie wir möchten. In Unternehmen vermute ich aber, dass diese Substanzen nicht so häufig auftreten.

Was wir nicht vergessen sollten: Am Arbeitsplatz spielen immer noch Alkohol und Tabak die größte Rolle. Medikamentenmissbrauch gibt es natürlich auch. Es gibt auch bei uns einen Schwarzmarkt und Probleme mit der missbräuchlichen Einnahme von Medikamenten. Im Vergleich zu den USA haben wir bei der ärztlichen Verschreibung im Rahmen einer Behandlung aber glücklicherweise bessere Sicherheiten im System, sodass ich hier nicht mit einer vergleichbaren Entwicklung rechnen würde.

Welche Angebote macht die DHS auf dem Feld der Prävention von Sucht?

Raiser:
Die DHS macht keine direkte Präventionsarbeit in Betrieben oder Einrichtungen. Wir stellen aber Informationen und Arbeitshilfen zur Verfügung. Unternehmen, die zu dem Thema direkte Ansprechstellen suchen, können zum Beispiel auf das „Suchthilfeverzeichnis“[7] der DHS zurückgreifen. Dort können sie nachschauen, wo die für sie nächstgelegene Beratungsstelle oder Rehaklinik ist. Sie können sich Unterstützung holen von den Profis. 

Das Interview führte Petra von der Linde.