Zwischen Neuordnung und Digitalisierung
Das Vorschriften- und Regelwerk der DGUV hat eine lange Entwicklung hinter sich: Vor vielen Jahren glich es eher einem „Vorschriftendickicht“. Dann begann ein Prozess der Rechtsbereinigung, heute ist es transparenter und anwendungsorientiert. Auf welche Weise dies erreicht wurde und was die Zukunft bereithält, zeigt dieser Beitrag.
Als historisch gewachsenes und zentrales Instrument der gesetzlichen Unfallversicherung zur Prävention von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten reicht die Tradition des Vorschriften- und Regelwerks lange zurück. So wurde bereits 1886 die erste Unfallverhütungsvorschrift von einer Berufsgenossenschaft auf Grundlage des zwei Jahre zuvor verabschiedeten Unfallversicherungsgesetzes erlassen.[1] Der Arbeitsschutz wurde neben den zu dieser Zeit bestehenden staatlichen Vorschriften nunmehr von einer weiteren Säule getragen und ein duales System zur Förderung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz in Deutschland entstand. Bezeichnungen wie „Vorschriftenflut“ und „Vorschriftendschungel“ brachten angesichts der Fülle an Regularien in der Praxis die schwächer werdende Akzeptanz der Anwenderinnen und Anwender zum Ausdruck. 140 Jahre später in der Entwicklung des Arbeitsschutzes und in einer sich kontinuierlich wandelnden Arbeitswelt hat sich ein vielschichtiges und komplexes Gebilde aus Vorschriften beider Säulen geformt. Als logische Konsequenz und im Zuge der europäischen Rechtsentwicklung im Bereich der Arbeitsschutzvorschriften begann fortann ein Prozess der Rechtsbereinigung und Deregulierung.
Seit der gesetzlichen Verankerung der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) im Jahr 2011 bildet dabei das „Leitlinienpapier zur Neuordnung des Vorschriften- und Regelwerks im Arbeitsschutz“ die Grundlage zur Herstellung eines verständlichen, überschaubaren und abgestimmten Vorschriften- und Regelwerks.
Selbstverordnete Schlankheitskur
Infolge dieses Neuordnungsprozesses unterzog die gesetzliche Unfallversicherung ihr Vorschriften- und Regelwerk einer „Schlankheitskur“. Ziel sollte hierbei sein, die Überschaubarkeit und Transparenz zu verbessern, Doppelregelungen zum staatlichen Recht zu vermeiden sowie Qualität und Aktualität zu gewährleisten.[2]Kurz gesagt: so viel wie nötig, so wenig wie möglich – ohne Substanzverlust.
Ein Zeitsprung ins heutige Jahr 2022 und ein Blick auf die Zahlen lassen folgendes Resümee ziehen: Die Schlankheitskur hat Früchte getragen. Die Anzahl der Unfallverhütungsvorschriften ist von ursprünglich mehr als 200 auf derzeit noch 41 Unfallverhütungsvorschriften reduziert worden.[3] Viele Themen sind dabei in staatliches Recht geflossen, zum Beispiel mit Inkrafttreten sowie der späteren Novellierung der Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV). Unter den 41 Unfallverhütungsvorschriften sind 24 Vorschriften zur bedingten Außerkraftsetzung empfohlen worden. Das bedeutet, an die Empfehlung zur Außerkraftsetzung wurde jeweils eine konkrete Bedingung geknüpft. Sobald diese Bedingung eintritt, wird die Empfehlung zur Außerkraftsetzung der jeweiligen Unfallverhütungsvorschrift insoweit „wirksam“ und der Außerkraftsetzungsprozess kann unverzüglich eingeleitet werden. Die Fertigstellung einer aktuell noch im Vorgenehmigungsverfahren befindlichen DGUV Vorschrift zur Binnenschifffahrt ist beispielsweise Bedingung für die Außerkraftsetzung von insgesamt fünf anderen Vorschriften, deren Inhalte im Sinne eines schlanken, übersichtlichen und mit dem staatlichen Recht abgestimmten Vorschriften- und Regelwerks nunmehr in einer einzigen Vorschrift vereint werden.
Näher am Menschen
Nicht nur die Anzahl der Vorschriften hat sich reduziert, sondern auch die Regelungsinhalte wurden im Zuge der Rechtsbereinigung auf das Wesentliche begrenzt; im Fokus steht die Vorgabe von konkreten Schutzzielen. Die zuvor noch in den Vorschriften selbst enthaltenen Durchführungsanweisungen wurden zurückgezogen, um für die Anwendenden eine klare Trennung zwischen rechtsverbindlichen Vorgaben und nicht rechtsverbindlichen Hilfestellungen zur Umsetzung dieser Vorgaben zu schaffen. Das führte zur Einführung der DGUV Regeln (früher BGR/GUV-R). Gleichzeitig bot dieses System einen erheblich größeren Gestaltungsspielraum für noch praxisnähere und anwendungsbezogene Orientierungs- und Handlungshilfen. DGUV Informationen und Grundsätze (früher BGI/GUV-I und BGG/GUV-G) sowie DGUV Branchenregeln als branchenspezifische Gesamtkompendien machen die heutige Systematik des Vorschriften- und Regelwerks der Unfallversicherungsträger komplett.
Die Rückmeldungen aus der Praxis zur Anwenderfreundlichkeit des Vorschriften- und Regelwerks sind positiv. So äußert beispielsweise Jörg Hintzsche – langjährige und erfahrene Fachkraft für Arbeitssicherheit der Polizeidirektionen Itzehoe und Bad Segeberg –, dass ihm die Umstellung auf das „neue“ Nummerierungssystem im Jahr 2013 zwar nicht leichtgefallen sei, hob jedoch positiv hervor, dass „mittlerweile jede Aktualisierung einer Schrift eingangs mit dem Grund der Änderung beziehungsweise deren inhaltlicher Auswirkung versehen ist.“ Anwenderinnen und Anwender bekommen somit nicht nur das Resultat einer überarbeiteten Schrift vorgelegt, sondern sie können sowohl formal als auch inhaltlich viel besser nachvollziehen, welche Änderungen und aus welchem Grund sie vorgenommen worden sind. „Dies trägt“, nach Meinung von Jörg Hintzsche, „zu einem transparenten und übersichtlichen Vorschriften- und Regelwerk bei.“ Außerdem ist dies ein praktisches Beispiel für die Erfüllung der Forderung an das Vorschriften- und Regelwerk nach dem „Leitlinienpapier zur künftigen Gestaltung des Vorschriften- und Regelwerks im Arbeitsschutz“ aus dem Jahr 2003: „Der Anwender steht im Mittelpunkt.“
Das Bild vom Zahnradgetriebe
Nahezu jede neue Veröffentlichung im Arbeitsschutz – ob auf staatlicher Seite oder aufseiten der gesetzlichen Unfallversicherung – hat Auswirkungen auf bestehende Schriften. Das Vorschriften- und Regelwerk ist kein starres Konstrukt, sondern befindet sich, verbunden mit der sich stetig wandelnden Arbeitswelt, in einem ständigen Prozess der Anpassung und Weiterentwicklung. Wird bildlich gesprochen ein Zahnrad ersetzt, muss gegebenenfalls ein anderes angepasst, ein überflüssig gewordenes Zahnrad herausgelöst oder eine Lücke aufgefüllt werden, damit ein nahtloses Ineinandergreifen aller Zähne und somit die Funktionstüchtigkeit des gesamten Getriebes gewährleistet werden können. Übertragen auf den Arbeitsschutz wird dies insbesondere sichergestellt durch eine strenge Anwendung des „Leitlinienpapiers zur Neuordnung des Vorschriften- und Regelwerks im Arbeitsschutz“ und des DGUV Grundsatzes 300-001 „Fachbereiche und Sachgebiete der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) – Organisation und Aufgaben“. Anwenderinnen und Anwendern steht damit ein gut verzahntes Vorschriften- und Regelwerk zur Seite, das „eine wirksame Hilfe zur Gewährleistung eines hohen Niveaus von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit bietet“[4].
Neue Nutzungsszenarien
Das Vorschriften- und Regelwerk der DGUV ist eng verknüpft mit den Entwicklungen in den Arbeits- und Bildungswelten. Für eine wirksame Prävention müssen die Herausforderungen der Digitalisierung einerseits inhaltlich bearbeitet werden – Industrie 4.0 und Arbeiten 4.0 machen eine Prävention 4.0 notwendig. Der digitale Wandel führt andererseits jedoch auch dazu, dass an das Vorschriften- und Regelwerk selbst vielfältige neue Ansprüche gestellt werden: Ansprüche an seine Auffindbarkeit, an sein Format und an seine Bedienbarkeit.
Mit Blick auf den von den Nutzerinnen und Nutzern bevorzugten Zugang zum Vorschriften- und Regelwerk ist in den vergangenen Jahren eine wesentliche Entwicklung zu beobachten: von den gedruckten Ausgaben (Printprodukten) zur digitalen Version der Schriften, die momentan als Dokumente im PDF-Format insbesondere auf den Internetseiten der DGUV und der Unfallversicherungsträger zur Verfügung stehen. Mit dieser Entwicklung sind ein erweiterter Nutzerkreis und insgesamt eine größere Reichweite verbunden. Jedoch werden klassische PDF-Formate auf dem Bildschirm ähnlich statisch dargestellt wie gedruckte Publikationen. Die zunehmende Bedeutung smarter Endgeräte führt nicht nur zu einem veränderten Nutzungsverhalten, sondern auch zu der Erwartung, dass die Inhalte des Vorschriften- und Regelwerks noch übersichtlicher und nutzerfreundlicher zur Verfügung gestellt werden.
Hier bietet die Digitalisierung wesentliche Chancen, die die DGUV nutzen wird. Das Ziel lautet, das Vorschriften- und Regelwerk vollständig zu digitalisieren. Von der Planung über die Umsetzung bis hin zur Veröffentlichung des vollständig digitalisierten Vorschriften- und Regelwerks ist eine Projektdauer bis 2025 angesetzt.
Die Zukunft ist digital
Das vollständig digitalisierte Vorschriften- und Regelwerk der DGUV wird seine Inhalte medienneutral darstellen. Nicht das Endgerät soll an die Darstellung der Publikation angepasst sein, sondern andersherum. Das Format und die Bedienbarkeit des Vorschriften- und Regelwerks sollen unabhängig vom verwendeten Endgerät flexibel gestaltet sein.
Während es beispielsweise für die Lesbarkeit und Überschaubarkeit auf einem kleinen, hochformatigen Display eines Smartphones vorteilhaft sein kann, dass verschiedene Elemente wie Fließtext, Grafik oder Tabelle untereinanderstehen, können dieselben Elemente auf einem großen, querformatigen Bildschirm zur ansprechenden Übersichtlichkeit nebeneinander angeordnet sein.
Ein vollständig digitalisiertes Vorschriften- und Regelwerk bietet zudem weitere Vorteile. So können neue, aktualisierte oder überarbeitete Schriften wesentlich schneller zur Verfügung gestellt werden, da die Darstellung unmittelbar automatisch erzeugt wird und lediglich einer Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung bedarf. Ein zentraler Mehrwert besteht für die Nutzerinnen und Nutzer außerdem in einer interaktiven Vernetzung der Schriften: Das Vorschriften- und Regelwerk der DGUV wird sowohl untereinander inhaltlich stark vernetzt sein als auch – soweit möglich – mit Schriften anderer Regelsetzer, insbesondere denen des Staates. Die gesamten Inhalte werden zudem besser durchsuchbar sein – und nicht zuletzt wird die Barrierefreiheit durch die Möglichkeiten der Digitalisierung weiter optimiert.
Um die neuen Interaktionsmodelle und Nutzungsszenarien abbilden und bedienen zu können, ist eine umfassende technische Neustrukturierung des Vorschriften- und Regelwerks der DGUV notwendig. Insbesondere müssen die Inhalte der momentan rund 1.400 Publikationen strikt von ihrer Darstellung getrennt und medienneutral aufbereitet werden.
Mit dem erzeugten medienneutralen Datenbestand wird gleichzeitig der Grundstein für ein Regelwerk gesetzt, das vielfältige weitere Möglichkeiten für die Zukunft eröffnet. Die Basis für zukünftige Nutzungsszenarien, die heute noch nicht absehbar sind, ist damit gelegt.