Erste Ergebnisse des Projektes zur Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen
Erste Ergebnisse des von 2022 bis 2025 laufenden Forschungsprojektes der SRH Hochschule für Gesundheit zur Bestandsaufnahme der Umsetzung der Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen in Deutschland werden vorgestellt. Das Projekt wird durch die DGUV-Forschungsförderung unterstützt.
Das Forschungsprojekt im Überblick
Im Kontext einer stärkeren Fokussierung auf die psychische Gesundheit in der Arbeitswelt kommt psychischen Gesundheitsgefährdungen aufgrund von Notfällen im Arbeitskontext als Thema des Arbeitsschutzes zunehmend Aufmerksamkeit zu. Mit dem Begriff Notfall ist dabei eine unerwartete, plötzliche Extremsituation gemeint. Diese ist von kurzer Dauer, hat einen klaren Anfang und ein Ende und geht häufig mit dem Erleben von Angst, Bedrohung oder Hilflosigkeit einher. Notfälle im Arbeitskontext sind zum Beispiel schwere oder tödliche Arbeits- und Wegeunfälle, medizinische Notfälle oder verbale und körperliche Gewalttaten.
Bei Notfällen am Arbeitsplatz können neben körperlichen Verletzungen auch psychische Gesundheitsgefährdungen auftreten. Die psychische Gesundheitsgefährdung bei einem Notfall kann über die akute starke psychische Beanspruchung hinaus auch mittelfristig zu starken psychischen und sozialen Beeinträchtigungen sowie längerfristig zu psychischen Störungen, wie zum Beispiel Traumafolgestörungen, führen. Potenziell betroffen sind dabei nicht nur die Geschädigten selbst, sondern auch Kollegen und Kolleginnen, die als Ersthelfende oder Augenzeugen und Augenzeuginnen an dem Notfall beteiligt sind. Betriebliche Folgen können krankheitsbedingte Fehlzeiten bis hin zu dauerhafter Arbeitsunfähigkeit sein.
Die Psychosoziale Notfallversorgung in Unternehmen
Um die psychische Stabilität der Betroffenen zu fördern, wird von der DGUV die Implementierung einer Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen empfohlen.[1][2][3][4] Wie in der Abbildung 1 dargestellt, beinhaltet diese im Idealfall präventive Maßnahmen, Maßnahmen der Akutversorgung, Maßnahmen in den ersten Tagen und Wochen nach dem Notfall sowie Maßnahmen der Wiedereingliederung. Auf Grundlage der wissenschaftlichen Literatur und des aktuellen Erkenntnisstands kann jedoch nicht dargestellt werden, welche Modelle und Vorgehensweisen Betriebe derzeit wählen, um eine Psychosoziale Notfallversorgung ihrer Beschäftigten zu ermöglichen. Darauf aufbauend gibt es wenig Evidenz, welche betrieblichen Parameter eine gute psychosoziale Betreuung von Beschäftigten nach Notfallsituationen im Arbeitskontext ausmachen.
Beide Fragen sollen wissenschaftlich eruiert werden, damit Unfallversicherungsträger Unternehmen noch besser dabei unterstützen können, ihren Beschäftigten eine gute Betreuung nach plötzlich auftretenden Notfallsituationen zu ermöglichen.
Um dieses Ziel zu erreichen, wird im vorliegenden Forschungsprojekt in vier Teilprojekten eine multiperspektivische Bestandsaufnahme der Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen durchgeführt – aus Sicht der Betriebe, der Unfallversicherungsträger, der ehrenamtlichen
PSNV-B-Teams und der externen Anbieterinnen und Anbieter. Inhaltlich werden gemäß dem DGUV-Modell[5] die folgenden Bereiche betrachtet:
- Prävalenz von Notfallarten
- Prävention von Notfallsituationen und schweren Unfällen (Primärprävention)
- Akuthilfe und Unterstützung in den ersten Tagen/Wochen nach dem Notfall (Sekundärprävention)
- Rehabilitation, Nachsorge und berufliche Wiedereingliederung (Tertiärprävention)
- Themen der Zusammenarbeit
Die Ergebnisse werden final zusammengeführt.
Die Bestandsaufnahme ist als Querschnittsuntersuchung verschiedener beteiligter Zielgruppen mit unterschiedlichen Befragungen konzipiert, mit jeweils Screening und Intensivbefragung. Das Forschungsprojekt wird durch einen multiprofessionellen Forschungsbegleitkreis beraten (Abbildung 2).
Der Fokus dieses Artikels liegt auf den Aktivitäten der Teilprojekte (TP) 1 bis 3 in der ersten Projekthälfte (1. Januar 2022 bis 30. Juni 2023). In diesem Zeitraum erfolgte in TP 1 eine Onlinebefragung von 2.388 Unternehmen unterschiedlicher Unternehmensgröße, Branche und Unfallversicherungsträger-Zugehörigkeit. In TP 2 erfolgten Dokumentenanalysen und Interviews mit 75 Prozent der Unfallversicherungsträger und in TP 3 lag der Fokus auf Kommunikation und Information sowie den Einsatzstatistiken von regional tätigen ehrenamtlichen PSNV-B-Teams.
Aktuelle Ergebnisse des Teilprojekts 1 – Unternehmen
Zwischen September 2022 und März 2023 wurde eine Onlinebefragung der Unternehmen in zwei Untersuchungsreihen durchgeführt. Der Onlinefragebogen bestand aus maximal 36 Fragen. Davon waren 20 geschlossene Fragen, fünf gemischt geschlossen und offen sowie elf offene Fragen. Die Bearbeitungszeit lag bei 15 bis 20 Minuten. Die Befragungsinhalte waren:
I. Allgemeine Fragen zum Unternehmen
II. Allgemeine Fragen zu Notfällen im Betrieb
III. Detailfragen zur Prävention psychischer Gesundheitsgefährdungen bei Notfällen
IV. Hinderliche und förderliche Aspekte der psychosozialen Betreuung bei Notfällen
V. Zusammenarbeit und Leistungen des Unfallversicherungsträgers
Nachstehend werden die Ergebnisse der verschiedenen Teile im Überblick vorgestellt.
I. Allgemeine Fragen zum Unternehmen
Insgesamt konnten die Datensätze für 2.388 Unternehmen unterschiedlicher Unternehmensgröße, Branche und Unfallversicherungsträger-Zugehörigkeit in die Auswertung einfließen. Am häufigsten wurde der Fragebogen von Unternehmensleitungen ausgefüllt (33,7 Prozent), gefolgt von Fachkräften für Arbeitssicherheit (24,1 Prozent). Weitere Ausfüllende über fünf Prozent waren Führungskräfte (8,9 Prozent), verantwortliche Mitarbeitende für Arbeitsschutzfragen (8,5 Prozent) sowie Betriebsärztinnen und Betriebsärzte (7,7 Prozent).
II. Allgemeine Fragen zu Notfällen im Betrieb
Bei den vorgegebenen potenziellen Notfällen in den Unternehmen zeigten sich recht große Unterschiede in der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit beziehungsweise des Risikos, dass Beschäftigte selbst betroffen sind oder diese als Helferinnen und Helfer oder Zeuginnen und Zeugen miterleben können. Auf einer Skala von 1 (eher unwahrscheinlich) bis 4 (sicher) ergab sich anhand der Mittelwerte (M) folgendes Ranking der Notfallarten:
- Wege- und Verkehrsunfälle (M = 2,49)
- medizinische Notfälle (M = 2,25)
- verbale Gewalt (M = 2,13)
- plötzliche Todesfälle (M = 2,01)
- Brände (M = 1,76)
- Arbeitsunfälle mit schwerer oder tödlicher Verletzung (M = 1,72)
- gewaltsame körperliche Übergriffe (M = 1,58)
- Suizid und Suizidversuche (M = 1,45)
- sexuelle Übergriffe/sexuelle Gewalt (M = 1,42)
- Angriffe durch Tiere (M = 1,34)
- Raubüberfälle, Geiselnahmen und Amokläufe (M = 1,25)
Für die weitere Betrachtung der Notfälle im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz wurde als Filterfrage nach der Vorlage einer Gefährdungsbeurteilung (GBU) gefragt. Interessanterweise ist die Quote der befragten Unternehmen, die angeben, eine GBU vorliegen zu haben, mit 78,4 Prozent deutlich höher als in der deutschlandweiten Verteilung, die üblicherweise mit etwas mehr als 50 Prozent angegeben wird.[6] Bei der Analyse des Dokumentationsverhaltens zeigt sich, dass Notfälle mit körperlichen Schädigungen nicht zu 100 Prozent, aber deutlich häufiger dokumentiert werden als Notfälle mit potenziellen psychischen Gesundheitsgefährdungen. Dies nimmt mit dem Grad der Betroffenheit weiter ab, das heißt, für direkt betroffene Beschäftigte wird häufiger dokumentiert als für kollegiale Ersthelfende und am seltensten für Augenzeuginnen und Augenzeugen. Weiterführend wurde neben der betriebsinternen Dokumentation auch das Meldeverhalten erfasst, jedoch im Hinblick auf sozial erwünschte und normorientierte Antworten nur für die psychischen Gesundheitsgefährdungen. Es zeigt sich die gleiche Abnahme nach Grad der Betroffenheit, auch wenn, im Vergleich zur betriebsinternen Dokumentation, absolut schon weniger psychische Gesundheitsgefährdungen gemeldet werden. Bemerkenswert sind die Ergebnisse zur Dokumentation beziehungsweise Meldehäufigkeit in der Gegenüberstellung der Unternehmen mit und ohne GBU. Hier zeigen sich die gleichen Trends, aber mit einer deutlichen absoluten Verschiebung der Werte. Das heißt, dass das grundsätzliche Dokumentations- beziehungsweise Meldeverhalten in Unternehmen ohne GBU deutlich geringer ist.
Versorgt oder behandelt werden potenzielle psychische Gesundheitsgefährdungen nach Notfällen am häufigsten von medizinischen Ersthelfenden (15,9 Prozent), dicht gefolgt von den Führungskräften beziehungsweise der Unternehmensleitung (15,3 Prozent) sowie Betriebsärztinnen und Betriebsärzten (13,6 Prozent). Die gewünschten internen betrieblich psychologisch Erstbetreuenden werden nur bei sieben Prozent der Antworten genannt.
III. Prävention psychischer Gesundheitsgefährdungen bei Notfällen
Für die Primärprävention zeigt sich, dass 77 Prozent der Unternehmen vielfältige Maßnahmen gemäß den Empfehlungen der DGUV zur Vorbeugung von psychischen Gesundheitsgefährdungen etabliert haben. Dabei werden sowohl technische Maßnahmen wie die Einrichtung und Kennzeichnung von Notausgängen (1.311) als auch organisatorische Maßnahmen wie die Überprüfung oder Kontrolle der Einhaltung von Sicherheitsvorschriften (906) oder die Vermeidung von Alleinarbeit (781) genannt. Allerdings zeigt die Stichprobe auch, dass nur 370 Unternehmen ein betriebliches Konzept zur psychosozialen Betreuung von Beschäftigten bei und nach Notfällen vorhalten und nur 140 Unternehmen in die Abstimmung mit ihrem Unfallversicherungsträger gehen. Nachrangig scheinen zudem personenbezogene Maßnahmen zu sein. So unterweisen nur 16,3 Prozent der Unternehmen ihre Mitarbeitenden zum psychosozialen Betreuungskonzept, zum Verhalten und zur Bewältigung von Situationen mit potenzieller psychischer Gesundheitsgefährdung.
Im Bereich der Sekundärprävention in der Phase der Akutversorgung signalisieren nur knapp 50 Prozent der Unternehmen, generell Maßnahmen vorzuhalten. Diese beziehen sich auf organisatorische Maßnahmen wie die schnellstmögliche Unfallmeldung an Unfallversicherungsträger (508) und auf personenbezogene Maßnahmen wie die Sensibilisierung der Führungskräfte (611). Zudem erfolgt der Einsatz externer psychologischer Erstbetreuung (329) häufiger als interner (282). In den Tagen und Wochen nach dem Notfall geben 52 Prozent der Unternehmen an, spezielle Maßnahmen anzubieten, wie zum Beispiel den aufmerksamen Umgang mit potenziellen psychischen Gesundheitsschädigungen bei Betroffenen (642) und die Vermittlung in die Folgebetreuung durch den Unfallversicherungsträger (428). Mit Blick auf die personenbezogenen Maßnahmen zeigt sich auch hier wieder, dass Angebote der psychosozialen Beratung und Unterstützung durch externe Personen (664) häufiger genutzt werden als interne Angebote (479).
In der Tertiärprävention, der Phase der Wiedereingliederung, erklären 61 Prozent der Unternehmen, Maßnahmen anzubieten. Diese beziehen sich organisatorisch vor allem auf das Betriebliche Eingliederungsmanagement (945) und die Zusammenarbeit von Arbeitsmedizinern und Arbeitsmedizinerinnen/Betriebsärzten und Betriebsärztinnen (668) sowie personenbezogen auf Krankenrückkehrgespräche (805) beziehungsweise den stetigen Kontakt zwischen der Führungskraft und der Arbeitnehmerin oder dem Arbeitnehmer (688).
In der Gesamtschau schätzen die Unternehmen ihre Psychosoziale Notfallversorgung im Betrieb eher gering ein. Die häufigste Nennung ist 0 (nicht vorhanden), im Durchschnitt liegt die Einschätzung bei 39,1 Prozent.
IV. Hinderliche und förderliche Aspekte
Als Schwierigkeiten bei der Umsetzung wurde zunächst bei fast der Hälfte der Befragten angegeben, dass die psychosoziale Betreuung betriebsintern noch kein Thema war. Konkret wurden vor allem fehlende Informationen und Ressourcen genannt, dicht gefolgt von der Wichtigkeit anderer Themen oder des Tagesgeschäftes. Unterstützend bei der Maßnahmenumsetzung wurde am häufigsten die Unterstützung durch andere Institutionen/Personen (zum Beispiel externe Dienstleister) genannt, dicht gefolgt von Informationsmaterialien zu den Angeboten der Unfallversicherungsträger zur Psychosozialen Notfallversorgung. Bei dieser Frage wurden viele freie Antworten (237) gegeben, die 19 weiteren Kategorien zugeordnet werden konnten.
V. Zusammenarbeit und Leistungen des Unfallversicherungsträgers
Bei der Frage, welche weiteren Maßnahmen Unternehmen für die Psychosoziale Notfallversorgung ihrer Beschäftigten zukünftig anbieten möchten, wurden 625 Antworten gegeben, die 21 Kategorien zugeordnet werden konnten. Das waren vor allem Antworten zu Qualifizierungen und Schulungen, der Einführung eines betrieblichen Betreuungskonzeptes oder der Ausbildung betrieblich psychologischer Erstbetreuender. Bei der freien Frage, wer dabei unterstützend sein könnte, erfolgten 581 Antworten, wobei mehrheitlich eine Unterstützung der Unfallversicherungsträger gewünscht wurde. Dies ist besonders interessant vor dem Hintergrund der Antworten auf die konkrete Frage, ob die Unternehmen bereits Informationen oder Unterstützungsangebote ihres Unfallversicherungsträgers genutzt haben, was zu 66,6 Prozent verneint wurde.
Grundsätzlich zeigt sich, dass von den Unternehmen, die Informationen und Unterstützungsangebote der Unfallversicherungsträger für die Psychosoziale Notfallversorgung der Beschäftigten nutzen, 68,7 Prozent mit der generellen Unterstützung und 59,86 Prozent mit der Psychosozialen Notfallversorgung ihrer Beschäftigten zufrieden sind. Bei der freien Frage, welche (weitere) Unterstützung sich die Unternehmen in Bezug auf die Psychosoziale Notfallversorgung von ihrem Unfallversicherungsträger wünschen, wurden 563 Antworten gegeben, die 16 Kategorien zugeordnet werden konnten. Am meisten wurden dabei aktive Beratung und Informationen gewünscht, mit Abstand gefolgt von konkreten Konzepten und Handlungshilfen.
Als Anreiz für die Teilnahme an der Befragung wurden nach beiden Untersuchungsreihen insgesamt sechs Onlineweiterbildungen für die Teilnehmenden angeboten. Ebenso wurden für den Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI) zwei Onlineweiterbildungen im Herbst 2023 durchgeführt und eine Detailanalyse aus Sicht der Fachkräfte für Arbeitssicherheit in der 6. Ausgabe 2023 der VDSIaktuell veröffentlicht. Eine ausführliche Publikation zu der dargestellten Onlinebefragung wird gerade erstellt.
Ergebnisse des Teilprojekts 2 – Unfallversicherungsträger
Im Teilprojekt 2 „Unfallversicherungsträger“ wurden Dokumente aller Unfallversicherungsträger sowie umfangreiche Interviewdaten von 21 der 31 Unfallversicherungsträger, die durch Zusammenschlüsse aus ursprünglich 34 entstanden sind, analysiert. Geführt wurden die Interviews mit Personen aus den Fachabteilungen der Prävention und Rehabilitation der jeweiligen Unfallversicherungsträger. Die Inhalte der Interviews waren:
I. Informationen über die Indikationen und Notfälle
II. Prävention von Notfallsituationen und schweren Unfällen
III. Akuthilfe und Sekundärprävention
IV. Rehabilitation, Nachsorge und berufliche Wiedereingliederung
V. Kostenübernahme und Zusammenarbeit der Präventionsgebiete
Ziel war es, ein tiefgehendes Verständnis des bestehenden Systems der Psychosozialen Notfallversorgung zu erlangen. Es konnten wichtige Erkenntnisse aus den Aussagen der Unfallversicherungsträger gewonnen werden, die sowohl bestehende positive Aspekte als auch konkrete Empfehlungen der Unfallversicherungsträger zur Optimierung der eigenen Angebote umfassen. Die Ergebnisse werden nachfolgend im Überblick dargestellt. Eine ausführliche Publikation ist im Entstehen.
Ergebnisse der Dokumentensammlung
Bei der Erstellung der Dokumentensammlung fiel eine Variabilität zwischen den Unfallversicherungsträgern in Bezug auf Informationen zur Psychosozialen Notfallversorgung auf. Positiv zu verzeichnen ist, dass alle Unfallversicherungsträger spezifische Dokumente zum Thema Psychosoziale Notfallversorgung in Unternehmen anbieten. Insgesamt wurden 118 verschiedene Dokumente identifiziert. Bei einigen Unfallversicherungsträgern führten die von der Forschungsgruppe festgelegten Schlagworte nicht immer zum Auffinden der Dokumente. In diesen Fällen blieb nur die Möglichkeit, sämtliche Dokumente manuell zu durchsuchen oder über eine Google-Suche auf der jeweiligen Website nach Dokumenten zu diesem Thema zu suchen – eine Übersicht aller identifizierten Dokumente wurde an die DGUV übergeben.
Ergebnisse der Interviews
Die in diesem Abschnitt dargestellten Ansichten und Empfehlungen spiegeln die Meinung der Unfallversicherungsträger wider.
Nachfolgend werden die Ergebnisse der Interviews dargestellt, mit welchen aktuellen Maßnahmen die Unfallversicherungsträger Betriebe bei der psychosozialen Betreuung nach Notfällen unterstützen und zukünftig unterstützen möchten.
Aktuelle Maßnahmen der Unfallversicherungsträger
Die Ergebnisse der Interviews zeigen, dass die Unfallversicherungsträger eine große Bandbreite an Hilfestellungen und Unterstützungen im Bereich der Psychosozialen Notfallversorgung anbieten. Besonders hervorzuheben sind die Möglichkeiten der Akuthilfe, die von Telefonhotlines (38,1 Prozent) über Unterstützung vor Ort (28,6 Prozent), auch durch die ehrenamtliche Notfallseelsorge (28,6 Prozent) bis hin zu detaillierten Informationsbroschüren (19,1 Prozent) reichen. Ein weiterer genannter Aspekt ist die individuelle Herangehensweise in der Rehabilitation und Wiedereingliederung, die eine ganzheitliche und zeitnahe Betreuung (28,6 Prozent) von Betroffenen ermöglicht. Darüber hinaus werden viele verschiedene weitere Präventionsangebote genannt, die ein Verständnis der unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitgliedsunternehmen widerspiegeln. Die Präventionsmaßnahmen, die den Mitgliedsunternehmen empfohlen werden, reichen teilweise auch über die Empfehlungen aus den Broschüren der DGUV zum Thema Psychosoziale Notfallversorgung hinaus (vgl. Abbildung 1).
Zukünftige Ideen und Maßnahmen der Unfallversicherungsträger
Die Unfallversicherungsträger nannten verschiedene Ansätze, wie sie zukünftig ihre Angebote für die Psychosoziale Notfallversorgung in ihren Mitgliedsunternehmen verbessern möchten. Initiativen zur Optimierung der Informationsstruktur (19,1 Prozent), insbesondere durch die Integration branchenspezifischer Informationen, sind laut ihnen ein wichtiger Schritt zur Steigerung der Effizienz und Effektivität der Informationsvermittlung.
Die Entwicklung einheitlicher Ausbildungsmodelle für die Qualifizierung betrieblicher psychologischer Erstbetreuer und Erstbetreuerinnen sehen 19,1 Prozent der Unfallversicherungsträger als notwendig an. Sie verweisen dabei insbesondere auf verschiedene Ausbildungsmodelle [zum Beispiel betrieblich psychologische Erstbetreuer und Erstbetreuerinnen (bpE), Critical Incident Stressmanagement (CISM), Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (SbE)], die derzeit von ihnen unterstützt werden.
Bei der Ausbildung von betrieblich psychologischen Erstbetreuern und Erstbetreuerinnen wurden unterschiedliche Ansichten zur Kombination mit anderen Rollen im Unternehmen genannt (14,2 Prozent).
Unter anderem wurde vorgeschlagen, Führungskräfte auszubilden (9,5 Prozent), da diese ohnehin eine verantwortliche Rolle im Unternehmen haben. Andere nannten den Hinweis, die Ausbildung der betrieblichen Ersthelfer und Ersthelferinnen um die betrieblich psychologische Erstbetreuung zu erweitern (4,8 Prozent). Die Unfallversicherungsträger sehen zukünftig die verstärkte Kooperation zwischen ihnen und verschiedenen Akteuren und Akteurinnen in den Mitgliedsunternehmen (19,1 Prozent) als wesentlich für eine umfassende sowie koordinierte Herangehensweise an die Psychosoziale Notfallversorgung in Unternehmen an. Die Integration externer Ressourcen durch beispielsweise Anbieter mit fachlicher Kompetenz (23,8 Prozent) erweitert nach Ansicht der Unfallversicherungsträger das Spektrum der Präventionsmaßnahmen und bringt neue Perspektiven in die Psychosoziale Notfallversorgung der Mitgliedsunternehmen ein.
Die Unfallversicherungsträger nannten in den Interviews Optimierungspotenzial in verschiedenen Bereichen der Psychosozialen Notfallversorgung. Insbesondere wird ein verstärkter Bedarf an Sensibilisierung und Schulung in PSNV-Themen konstatiert (28,6 Prozent). Dies bezieht sich insbesondere auf die Akteure und Akteurinnen in den Mitgliedsunternehmen, aber auch innerhalb einzelner Unfallversicherungsträger. Hier wird auch noch einmal grundsätzlich die Bemühung zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen Prävention und Rehabilitation/Leistung innerhalb der Unfallversicherungsträger genannt (57,1 Prozent). Die Zusammenarbeit wird laut den Unfallversicherungsträgern schon bei einigen Projekten gestärkt.
Ein weiterer Bereich, in dem die Unfallversicherungsträger Verbesserungsmöglichkeiten sehen, ist die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse kleinerer Unternehmen (9,5 Prozent). Obwohl bereits Ansätze für eine flexible und bedürfnisorientierte Herangehensweise vorhanden sind, nennen die Unfallversicherungsträger die Umsetzung der PSNV-Maßnahmen für kleine Unternehmen als eine besondere Herausforderung. Dies liegt zuletzt auch daran, dass in kleineren Unternehmen häufiger Ressourcenmangel (42,9 Prozent), sowohl monetär als auch personell, von den Unfallversicherungsträgern als Hindernisgrund für eine gute Prävention gesehen wird. Diesem Hindernis wollen die Unfallversicherungsträger mit dem Ansatz der Individualprävention begegnen (9,5 Prozent).
Abschließend unterstreichen die Unfallversicherungsträger die Notwendigkeit von kontinuierlichem Informationsbedarf, Schulungen, Sensibilisierung und verstärktem Austausch zwischen den Akteuren und Akteurinnen, um das Bewusstsein für die Psychosoziale Notfallversorgung zu steigern (80,1 Prozent). Eine Vision für die Zukunft wird durch die Worte eines Unfallversicherungsträgers verdeutlicht: „Wir haben in den letzten Jahren bereits viel erreicht und uns stetig verbessert. Wenn wir diesen Weg weiterverfolgen und unsere Anstrengungen fortsetzen, bin ich zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichen können. Wir arbeiten hart daran, die psychosoziale Versorgung zu verbessern und die Prävention in den Unternehmen zu fördern. Dies ist ein gutes System, das noch vielen Menschen zugutekommen kann. Es erfordert jedoch weiterhin Aufklärung und Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass psychische Gesundheit und Notfallversorgung in Betrieben angemessen berücksichtigt werden. Wir sind auf einem guten Weg, aber es liegt noch viel Arbeit vor uns.“ (Aus: Interview mit einem Unfallversicherungsträger).
Aktuelle Ergebnisse des Teilprojekts 3 – PSNV-B-Teams
Im Teilprojekt 3 wurde zunächst versucht, über die Landeskoordinatorinnen und Landeskoordinatoren die Einsatzstatistiken der ehrenamtlichen PSNV-B-Teams zu Einsätzen mit einer betrieblichen Indikation zu untersuchen. Dabei traten verschiedene Probleme auf. Das erste Problem war, dass die Kommunikation mit den Landeskoordinatorinnen und Landeskoordinatoren teilweise mühsam und wenig ergiebig war, da viele keine Statistiken zuarbeiten konnten oder die Kommunikation nicht hergestellt werden konnte. Das zweite Problem war die Sensibilisierung für das Thema, dass PSNV-B-Kräfte in Unternehmen für die psychosoziale Betreuung von Beschäftigten nach Notfällen eingesetzt werden.
Das Ziel war es, die PSNV-B-Einsätze in allgemeine Einsätze (beispielsweise im häuslichen Umfeld) und Einsätze mit einer betrieblichen Indikation zu unterteilen. Da in den Einsatzprotokollen nicht explizit nach einer betrieblichen Indikation gefragt wurde und auch aus anderen Angaben nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnte, war die Berechnung einer Einsatzquote nicht möglich.
Erste Ergebnisse zur Einsatzquote ergaben sich durch die Möglichkeit, einen Datensatz der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU München) – erhoben von Sebastian Hoppe im Rahmen seiner Dissertation – sekundär zu analysieren. Auch wenn eine Unterscheidung zwischen PSNV-B allgemein oder mit betrieblicher Indikation im Datensatz nicht explizit vorgesehen war, konnte diese über mehrere Variablen, sinnvolle Kombinationen und Fallanalysen mit Rücküberprüfung durch den Studienleiter Sebastian Hoppe realisiert werden.
In diesem Datensatz waren 203 Fälle/Betroffene, wovon 173 PSNV-B allgemein und 0 PSNV-B mit betrieblicher Indikation waren. Mit diesen Daten konnte eine Einsatzquote von 15 Prozent ermittelt werden. Um im Rahmen der Bestandsaufnahme eine methodisch abgesicherte Aussage zur Einsatzquote von PSNV-B-Teams im betrieblichen Kontext geben zu können, wurde ein Item entwickelt, das fortführend in der zweiten Projekthälfte im Rahmen der Intensivbefragung eingesetzt wird.
Da bei der Eruierung der Einsätze mit betrieblicher Indikation festgestellt wurde, dass das Thema bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Notfallseelsorge und Kriseninterventionsteams (ehrenamtliche PSNV-B-Teams) wenig bekannt ist, wurde zunächst ein Informationsflyer zur Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen erstellt. Inhaltlich werden darin folgende Aspekte angesprochen:
- Definition und Beispiele für Notfälle im Arbeitskontext
- Folgen, Handhabung und mögliche Betroffene von Notfällen im Arbeitskontext
- Zuständigkeit am Einsatzort
- Rolle der Unfallversicherungsträger
- To-do-Liste bei Notfällen im Arbeitskontext
Der Flyer wurde auf dem Symposium „Qualitätssicherung in der PSNV 2022“ des Referats I.3 – Psychosoziales Krisenmanagement (PsychKM) Abteilung I – Krisenmanagement Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) im November 2022 vorgestellt und bisher landesweit an alle PSNV-B-Teams sowie Landeskoordinatorinnen und Landeskoordinatoren als PDF per E-Mail oder in Papierform verteilt. Das erhaltene Feedback zum Flyer war bisher ausschließlich positiv.
Zusätzlich wurde eine einstündige Onlineweiterbildung konzeptioniert, an der alle Mitglieder von Notfallseelsorge und Kriseninterventionsteams teilnehmen konnten. Diese wurde inklusive eines Testdurchlaufs in einem PSNV-B-Team im zweiten Quartal 2023 viermal durchgeführt. Das Thema ist bei den PSNV-B-Einsatzkräften positiv aufgenommen worden und die Veranstaltungen waren stark nachgefragt.
Fazit
In der ersten Projekthälfte konnte ein tiefergehendes Verständnis der Psychosozialen Notfallversorgung von Beschäftigten in Deutschland erreicht werden. Im Teilprojekt 1 wurden aus Sicht der Unternehmen neben der Beschreibung aktueller Systeme Hindernisse und förderliche Faktoren herausgearbeitet, an denen die Prävention zukünftig ansetzen kann. Im Teilprojekt 2 beschrieben die Unfallversicherungsträger aktuelle und zukünftige Maßnahmen, um Betriebe bei der psychosozialen Betreuung nach Notfällen zu unterstützen. Dabei stellten sie neben vielen positiven Aspekten auch ihren eigenen Optimierungsbedarf dar. Für die ehrenamtlichen PSNV-B-Teams zeigte sich im Teilprojekt 3 ein hohes Interesse der Teams für das Thema und ein weiterführender Bedarf an Weiterbildungen und Unterstützungsmaterialien. Die Forschungsarbeiten werden mit weiteren inhaltlichen Schwerpunkten und Vertiefungen in der zweiten Projekthälfte fortgesetzt.
Das Forschungsprojekt zur Bestandsaufnahme der Umsetzung der Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen in Deutschland wird vom 1. Januar 2022 bis zum 31. März 2025 unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Rehmer von der SRH Hochschule für Gesundheit, unterstützt durch die Forschungsförderung der DGUV, durchgeführt.
Weiterführende Informationen:
Beitrag zum Forschungsprojekt zur Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen in DGUV Forum 7-8/2022:
https://forum.dguv.de/ausgabe/7-2022/artikel/forschungsprojekt-zur-psychosozialen-notfallversorgung-in-unternehmen
Der Informationsflyer und die Folien der Onlineweiterbildung auf der Projektseite der SRH unter Publikationen:
https://www.srh-gesundheitshochschule.de/forschung/psychosoziale-notfallversorgung-in-unternehmen-eine-bestandsaufnahme-zur-umsetzung-in-deutschland/unsere-publikationen/
Projektwebseite: https://www.srh-gesundheitshochschule.de/forschung/psychosoziale-notfallversorgung-in-unternehmen-eine-bestandsaufnahme-zur-umsetzung-in-deutschland/