Geschichte der Selbstverwaltung in der Unfallversicherung (Teil II)

Die Grundlagen der deutschen Sozialgesetzgebung wurden im deutschen Kaiserreich gelegt und das System der Selbstverwaltung erfolgreich als grundlegendes Prinzip eingeführt. Der Erste Weltkrieg und danach die Entstehung der ersten deutschen Demokratie brachten neue Herausforderungen, in denen sich die Sozialversicherung als stabiler Anker bewährte und ausgebaut wurde.

Noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Sozialversicherung mit der Einführung der Reichsversicherungsordnung reformiert. Die einzelnen unter Bismarck eingeführten Versicherungszweige – die Krankenversicherung (1883), die Unfallversicherung (1884) sowie die Alters- und Invaliditätsversicherung (1889) – wurden nun zum Teil in einem Gesetzestext zusammengefasst. Der Erste Weltkrieg bildete bald eine große Bewährungsprobe für das soziale Versicherungssystem des Kaiserreiches. Während der erste Teil dieses Beitrags[1] die Entstehungshintergründe und ersten Reformprozesse der Unfallversicherung hinsichtlich der Selbstverwaltung vorgestellt hat, thematisiert dieser Beitrag die Zeit nach Einführung der Reichsversicherungsordnung 1913 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Unfallversicherung und Selbstverwaltung im Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg bedeutete nicht nur politisch einen wesentlichen Einschnitt. Die Berufsgenossenschaften hatten während des Krieges die höchsten Unfallzahlen und zahlreiche tödliche Unfälle zu verzeichnen, unter anderem wegen mangelnder Kontrolle und ausgesetzten Arbeitsschutzbestimmungen. Zudem stiegen die Unfallzahlen durch die vielen ungelernten Arbeitskräfte in zum Teil sehr gefährlichen Branchen, etwa in Munitionsfabriken oder Bergwerken, enorm an. Auch aus finanzieller Sicht war der Krieg verheerend für die Berufsgenossenschaften, da die Reservefonds in Kriegsanleihen angelegt werden mussten, was durch die einsetzende Inflation stark belastend wirkte. Unter diesen wirtschaftlich ungünstigen Voraussetzungen schritt die Unfallversicherung in die politisch unruhige Zeit der Novemberrevolution von 1918.

Weimarer Republik – Selbstverwaltung trifft auf Demokratie

Der Übergang zur ersten deutschen Demokratie brachte strukturell kaum Auswirkungen mit sich. Während sich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entschieden änderten, wurde das aus dem Kaiserreich geerbte System auch nach dem Ersten Weltkrieg grundsätzlich beibehalten. Die Reichsversicherungsordnung blieb weiterhin bestehen und die praktische Arbeit des Reichsversicherungsamts, der Oberversicherungsämter und der Berufsgenossenschaften lief wie gehabt weiter. In der ersten deutschen Demokratie, nach dem verfassungsgebenden Ort auch Weimarer Republik genannt, erhielt auch die Sozialversicherung eine neue Basis: Die Verfassung garantierte nun soziale Grundrechte und das bestehende Sozialversicherungssystem wurde dahin gehend gewürdigt, dass in der Weimarer Verfassung in § 161 als Schutzziel die „Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit“ durch „ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten“ festgeschrieben wurde.[2]

Anerkennung der Gewerkschaften

Einen wichtigen Entwicklungsschritt für die Selbstverwaltung markiert die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertretung der Arbeitnehmerschaft. Erste Maßnahmen in diese Richtung erfolgten bereits während des Ersten Weltkriegs. Der Staat band sie als legitime Interessenvertretung der Arbeiterschaft im Vaterländischen Hilfsdienstgesetz von 1916 mit in die Kriegswirtschaft ein. Motive dafür lagen in der Wahrung des Friedens in der Heimat und der Aufrechterhaltung der Produktion. Damit trat erstmals ein neuer wichtiger Akteur auch für die Weiterentwicklung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung auf. 

Mit der Errichtung der ersten deutschen Demokratie ab 1918 ging auch eine weitere Integration der Gewerkschaften einher. Dies geschah in Form der völligen Koalitionsfreiheit, also dem uneingeschränkten Recht auf Zusammenschluss zu Interessenvertretungen, der Einführung von Mitbestimmungsrechten und der Anerkennung als Tarifpartner in der Lohnpolitik. Maßgeblich drückte sich dies im „Stinnes-Legien-Abkommen“ vom 15. November 1918 aus, benannt nach dem Industriellen Hugo Stinnes und dem Gewerkschaftsführer Carl Legien. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft bildeten die Zentralarbeitsgemeinschaft, die bis 1924 bestand und eine Zusammenarbeit in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen regelte, wie etwa die Einführung des Achtstundentages und der Tarifverträge. Dieses Zweckbündnis entstand vor dem Hintergrund drohender Sozialisierung von Unternehmen. Im Jahr 1920 schuf der Gesetzgeber mit dem Betriebsrätegesetz die Grundlage für die betriebliche Mitbestimmung. So wirkte sich die Demokratisierung auch auf den Bereich des Wirtschaftslebens aus. Auf diese Weise erhielt die Arbeiterschaft mehr Mitbestimmungsrechte im Arbeitsschutz. Eine sozialpartnerschaftliche Sozialpolitik mit der Selbstverwaltung als Grundkonstrukt wurde zu einem wichtigen Leitbild der Weimarer Republik. Die Phase der rechtlichen Anerkennung sollte jedoch mit der Zerschlagung der Gewerkschaften noch im Jahr der Machtergreifung 1933 jäh enden.

Von der Inflation zur Innovation

Zunächst zeigten die wirtschaftlichen Krisen, insbesondere die 1923 auf ihren Höhepunkt kommende Inflation, wie wichtig und wie groß der Bedarf an einem System der sozialen Sicherung war. Die Geldentwertung bedeutete einen schweren Schlag für die Sozialversicherung und ihre Träger, allen voran die Rentenversicherung, deren Rücklagen verloren gingen. Auch auf die Unfallversicherung wirkte sich die Inflation stark aus: Der Gesetzgeber musste immer wieder auf die Geldentwertung reagieren. Mit einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen wurden die Erhöhungen der Zulagen und der Renten geregelt, die aber mit der rasanten Geldentwertung nicht Schritt halten konnten. Gerade die Personengruppen, die Sozialrenten bezogen, gehörten zu den Hauptverlierern der Inflationszeit. Als Konsequenz der Inflationserfahrung kam es zu einer breiten Reformdebatte um die Renten und Leistungen der Unfallversicherung. 

Schon in der Krisenphase gab es Reformvorhaben, die die Selbstverwaltung der Unfallversicherung betrafen. So wurden die in der Reichsversicherungsordnung festgeschriebenen Wahlmodi der Selbstverwaltungsgremien durch das „Gesetz über Änderung der Wahlen nach der Reichsversicherungsordnung“ von 1922 geändert. Dessen erster Artikel regelte mit dem Wechsel des Wortes „Männer“ zu „Deutschen“, dass nun erstmals auch Frauen für die Wahlen in die Versicherungsbehörden zugelassen waren. Neben dieser sicherlich bedeutendsten Änderung kam es zu weiteren Anpassungen, die zu einer Demokratisierung der Wahlverfahren führten. Darunter fielen etwa auch die Regelung des Einbezugs landwirtschaftlicher Berufsgenossenschaften und das Festschreiben des Prinzips der Verhältniswahl.[3] 1923 folgte eine Verordnung über Vereinfachungen in der Sozialversicherung. Diese legte fest, dass mindestens ein Vertreter oder eine Vertreterin der Versicherten bei der Feststellung von Leistungen beteiligt werden musste.[4] Hiermit erfolgte eine gewisse Demokratisierung der Versicherungsverfahren, wenn dies auch noch keine paritätische Regelung bedeutete. Neben dieser Demokratisierung bedeutete eine weitere „Verordnung über Versicherungsträger in der Unfallversicherung“ einen Eingriff in die Selbstverwaltung vonseiten der Politik. Sie erlaubte Eingriffe des Reichsarbeitsministers in den Bestand der Berufsgenossenschaften und ließ es ebenso zu, Landesversicherungsanstalten zu Trägern der Unfallversicherung zu machen.[5] Gebrauch gemacht wurde von dieser der Krisensituation geschuldeten Ermächtigung nicht.

Unfallverhütungspropaganda und Leistungsausdehnung ab 1925

Zu wesentlichen Neuerungen kam es zunächst auf dem Feld der Prävention. War diese bisher von eher technischen Regularien geprägt wie den Unfallverhütungsvorschriften, rückte unter dem Schlagwort der „Unfallverhütungspropaganda“ nun der Mensch in den Mittelpunkt. Schon in den frühen 1920er-Jahren erfuhr die Prävention einen Bedeutungszuwachs. Das lag sicherlich auch daran, dass man die damit verbundenen Sparpotenziale erkannte. Dies spiegelte sich zunächst institutionell wider, etwa in der Gründung der Zentralstelle für Unfallverhütung (1920), der Arbeitsgemeinschaft für Unfallverhütung (1921) und der Unfallverhütungsbild G. m. b. H. (1924). Letztere gab mit ihrem Namen schon die neue Stoßrichtung vor: Mit Mitteln der kommerziellen Reklame sollte nun nach dem Vorbild der amerikanischen „Safety first“-Bewegung für den Unfallschutz geworben werden. Mittel der Wahl bildete dabei das Plakat; die neu herausgegebenen Bilder wurden aber auch auf Lohntüten, Werbemarken oder Flugblätter gedruckt. Zudem entstanden später auch Filme und Rundfunksendungen. Abbildung 1 zeigt ein frühes Beispiel, das im Reichsarbeitsblatt und seiner Beilage abgedruckt wurde. Das Unfallverhütungsplakat stellt letztlich bis heute das wichtigste präventive Medium dar.[6]

Neben diesem Paradigmenwechsel auf dem präventiven Tätigkeitsfeld der Berufsgenossenschaften kam es 1925 auch zu einer wichtigen und umfangreichen Ausweitung des Leistungsspektrums. Nach jahrelangen Beratungen sorgte die „Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten“, kurz: Berufskrankheitenverordnung, vom 12. Mai 1925 dafür, dass nun erstmals auch Erkrankungen der Berufswelt entschädigt wurden. Zunächst umfasste das Gesetz nur eine begrenzte Zahl von elf genau definierten Leiden. Dies waren Erkrankungen, die durch Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen, Benzol, Schwefelkohlenstoff verursacht wurden, sowie Hautkrebse, die durch verschiedene Schadstoffe ausgelöst wurden. Ebenso wurden der graue Star bei Glasmachern, Erkrankungen durch Röntgenstrahlen, die Wurmkrankheit und die Schneeberger Lungenkrankheit bei Bergleuten anerkannt. 

Auch wenn so zunächst nur wenige spezielle Symptome abgedeckt waren, stellte die Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten eine wichtige Zäsur dar. Eine stetige Ausweitung erfolgte: zuerst 1929 mit einer Ausdehnung auf Silikose, umgangssprachlich „Staublunge“, der Bergleute und Erkrankungen durch Pressluftwerkzeuge sowie Berufskrankheiten von Seeleuten, wie Skorbut.[7]

Außerdem trat 1925 das „Zweite Gesetz über die Änderung in der Unfallversicherung“ in Kraft. Es regelte die Anpassung der Unfallrenten an das aktuelle Lohnniveau und weitete den Versicherungsschutz aus auf Unfälle, die auf dem Weg zur oder von der Arbeit stattfanden, die sogenannten Wegeunfälle. Kostensteigernd wirkte sich auch die Pflicht aus, die Heilbehandlung nun schon nach der achten Woche zu übernehmen. 

Das neue Gesetz legte den Berufsgenossenschaften zudem die Pflicht zur Berufsfürsorge, also organisatorische und finanzielle Hilfe für Arbeitsunfallopfer zur Erlangung eines Arbeitsplatzes, auf. 1928 kam es zu einem dritten Ausdehnungsgesetz, das den Versichertenkreis ausweitete, unter anderem auf Feuerwehren und Rettungsdienste, das Feld der Heil-, Pflege- und Kureinrichtungen, Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und des  Gesundheitsdienstes. Gerade in der wirtschaftlichen Hochphase der Weimarer Republik erlebte die Unfallversicherung also eine enorme Erweiterung ihres Aufgabenfeldes, wie es bis heute noch Bestand hat. Die zum Ende der 1920er-Jahre einsetzende Weltwirtschaftskrise bremste diese Entwicklung allerdings. Angesichts der schwierigen finanziellen Lage wurde seitens der Unternehmen der Ruf nach Kürzungen auf der Leistungsseite laut. Durch mehrere Notverordnungen wurden dann 1932 geringfügige Renten gekürzt und der Staat musste Überbrückungskredite für von der Krise besonders betroffene Berufsgenossenschaften leisten. Finanziell besser aufgestellte Berufsgenossenschaften stützten die schwächeren, um staatliche Eingriffe in die Selbstverwaltung zu verhindern. Denn auch in dieser Krise gab es Druck zur zwangsweisen Zusammenlegung von Berufsgenossenschaften.[8]

Abbildung 1: Ab den 1920er-Jahren werden verstärkt Plakate in der Präventionsarbeit eingesetzt. | © Reichsarbeitsverwaltung: Das Arbeiterschutzbüchlein der Reichsarbeitsverwaltung, Berlin 1926, S. 27
Abbildung 1: Ab den 1920er-Jahren werden verstärkt Plakate in der Präventionsarbeit eingesetzt. ©Reichsarbeitsverwaltung: Das Arbeiterschutzbüchlein der Reichsarbeitsverwaltung, Berlin 1926, S. 27

Arbeitslosenversicherung

Schon im Stinnes-Legien-Abkommen von 1918 hatten die Arbeitgeber und Gewerkschaften gefordert, eine paritätisch besetzte Arbeitsverwaltung einzurichten. Erst mit der wirtschaftlichen Hochphase der Weimarer Republik wurde 1927 durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung eine staatliche Arbeitslosenversicherung eingeführt. Dieser neue Sozialversicherungszweig löste die bisher bestehende Erwerbslosenfürsorge der Gemeinden ab. Nun bestand erstmals ein gesetzlicher Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer je hälftig finanzierten.

Die Selbstverwaltung funktionierte in der Arbeitslosenversicherung nach einem eigenen neuen System. Die Selbstverwaltungsgremien, die Verwaltungsausschüsse, waren über die Organisationsstruktur hinweg in drittelparitätischer Form besetzt. Berücksichtigt wurden neben den Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch solche der öffentlichen Körperschaften. Dies war als Kompensation für das Zurückdrängen der Kommunen aus dem bisherigen Verfahren gedacht.

Für die Besetzung der Gremien waren für die Vertreter der Sozialpartner keine Wahlen vorgesehen; dies erfolgte für die Arbeitsämter und Landesarbeitsämter über Vorschlagslisten der „wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“, also Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Für das höchste Gremium, die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, bestimmten die jeweiligen Abteilungen des Reichswirtschaftsrats. Unter den Vertretern der Arbeitnehmer mussten mindestens zwei Angestellte sein. Im Übrigen regelte der § 14 auch, dass in allen Organen Frauen vertreten sein sollten.[9]

Bei der Einführung der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um eine wichtige Ausweitung der deutschen Sozialversicherung und zudem um eine arbeitnehmerfreundliche Weichenstellung. Allerdings war dieser Schritt nach Kriegsende auch lange überfällig, denn im europäischen Vergleich hinkte man bei diesem Zweig hinterher.

In der Weltwirtschaftskrise stieß die Arbeitslosenversicherung aufgrund der massiv steigenden Arbeitslosenzahlen an ihre Grenzen. Im Streit um ihre Zukunft zerbrach 1930 sogar die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik und beendete so den sozialdemokratisch geprägten Weimarer Staatsinterventionismus.[10]

Unfallversicherung im Nationalsozialismus

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte auch auf die Sozialpolitik und gerade das dort herrschende Prinzip der Selbstverwaltung große Auswirkungen. Schwerpunkt der sozialen Politik bildete die Beschäftigungspolitik, vor allem über die Überwindung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die einsetzende Aufrüstung. Die Gewerkschaften als Sozialpartner in der Selbstverwaltung wurden verboten und durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) ersetzt. 

Die neuen Machthaber hatten für die Sozialversicherung nach der Machtergreifung keine ideologische Konzeption. Eine fundamentale Umwandlung war nicht geplant, weswegen die bestehende Funktionsweise und Struktur weitgehend unangetastet blieben. Es kam nicht zu radikalen Reformprojekten, was die gesetzliche Grundlage der Sozialversicherung betraf.[11]

Dennoch war die nationalsozialistische Politik für die Arbeit der Unfallversicherung bestimmend. Grundsätzlich bestand Kompatibilität zwischen den Zielen der Sozialversicherung und denen der Nationalsozialisten. Der Nationalsozialismus hatte durchaus ein eigenes Interesse an der Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Sein Ziel war die Stärkung der „Volksgesundheit“ als Voraussetzung für die wirtschaftlichen und militärischen Pläne des Regimes. Der Schutz der Gesundheit mit präventiven Mitteln ließ sich problemlos dem der völkischen Ideologie, des Schutzes der „Volksgesundheit“, des „Volkskörpers“ und damit der „Volksgemeinschaft“ unterordnen.[12] Wer nicht zu dieser Volksgemeinschaft zählte, wurde ausgeschlossen. So auch aus der Sozialversicherung und ihren Gremien. Im Sinne der Gleichschaltung war ein erster Schritt die personelle „Säuberung“.[13] Dies erfolgte durch zwei harmlos klingende Gesetze bereits im Frühjahr 1933: das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“[14] und das „Gesetz über Ehrenämter in der sozialen Versicherung und der Reichsversorgung“[15]. Mit diesen wurden alle verfolgten Gruppen aus der öffentlichen Verwaltung und Selbstverwaltungsgremien ausgeschlossen, also alle mit „nichtarischer“ Abstammung und solche, „die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“[16]. Gemeint waren Mitglieder der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und der Kommunistischen Partei. Auch aus den Ehrenämtern in der Unfallversicherung wurden jüdische Unternehmer ausgeschlossen. Die Repressionen trafen auch jüdische Ärztinnen und Ärzte, die aus der Sozialversicherung ausgeschlossen wurden, was sie vielfach ihrer Existenzgrundlage beraubte.[17]

Schnell geriet auch die Selbstverwaltung der Sozialversicherung unter Druck. In der Unfallversicherung geschah dies auf verschiedenen Ebenen durch die Einführung des „Führerprinzips“, das „Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung“ vom 5. Juli 1934[18]. Dieses sogenannte Aufbaugesetz beseitigte alle Formen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung. In Artikel 7, § 1 hieß es dazu sehr kurz gefasst: „Jeder Träger der Sozialversicherung hat einen Leiter. Die in den Gesetzen über die Sozialversicherung vorgesehenen Organe der Versicherungsträger fallen weg.“[19] 

In der Unfallversicherung bedeutete dies, dass die Geschäfte der Versicherungsträger von staatlich eingesetzten Leitern wahrgenommen wurden. Ein behördlicherseits bestellter Beirat beriet diese in Fachfragen. Der Beirat bestand aus „Betriebsführern“, einem Vertreter der Ärzteschaft und der Gebietskörperschaften. Sein Einfluss blieb aber begrenzt.[20]

Ein großer Expertenkreis verblieb unbehelligt auf seiner Position im Reichsarbeitsamt und im Reichsversicherungsamt und arrangierte sich mit den neuen Machthabern und den neuen Strukturen. Ein Beispiel für die Unterordnung unter das Regime lieferte der Verband der deutschen gewerblichen Berufsgenossenschaften, der 1935 in einer Denkschrift zum 50-jährigen Bestehen der Unfallversicherung das Führerprinzip mit den Leitern beschönigend als „Neuen Geist der Selbstverwaltung“ bezeichnete.[21]

Weitere Gesetzgebung und der Zweite Weltkrieg

Der Verlust der seit der Einführung im Kaiserreich bestehenden Selbstverwaltung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmerschaft führte indes nicht dazu, dass sich die Unfallversicherung nicht weiterentwickelte. Selbst im Krieg sollte es noch zu einer Ausdehnung des Leistungsumfangs kommen. 

Weitere repressive Eingriffe, die nun die Empfängerinnen und Empfänger von Renten betrafen, erzeugte das 1936 erlassene „Gesetz über die Änderung einiger Vorschriften der Reichsversicherung“. Es entzog die Renten bei staatsfeindlicher Betätigung.[22]

Eine Ausdehnung der Unfallversicherung brachte die im selben Jahr eingeführte dritte Berufskrankheitenverordnung mit sich. Die Zahl der Berufskrankheiten stieg von 22 auf 26, nun wurden unter anderem schwere Asbestosen entschädigt.[23] 

Im Jahr 1939 weitete das „Fünfte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung“ den Versichertenkreis auf SS- und SA-Angehörige aus und änderte den Versicherungsschutz bei bestimmten Details.[24]

Ein sechstes Änderungsgesetz erfolgte im Kriegsjahr 1942. Es wirkte sich tiefgreifender aus, da es die Einbeziehung aller Beschäftigten in allen Unternehmen vorsah, also eine pauschale Ausdehnung des Versicherungsschutzes bedeutete.[25] Diese stellte den Übergang von der Betriebsversicherung hin zu einer Personenversicherung dar. 

Dieser Leistungsausbau im Krieg hatte – ebenso wie verschiedene andere Aufbesserungen der Sozialleistungen – einen stark propagandistischen Hintergrund zur Beruhigung der „Heimatfront.“[26] 

Sehr kompatibel mit der nationalsozialistischen Politik und Ideologie zeigte sich auch die seit Mitte 1925 angewandte Unfallverhütungspropaganda. Mit den hier entstandenen Medien und der spezifischen Bildsprache ließen sich auch die politischen Botschaften der Nationalsozialisten in den Betrieb transportieren.[27] Unfallschutz war zudem ein wichtiger Aspekt für eine funktionierende Kriegswirtschaft (siehe Abbildung 2). Sie wurde ausgebaut und flächendeckend eingesetzt. 

An dieser Stelle muss konstatiert werden, dass bezüglich der Unfallversicherung in der Zeit des Nationalsozialismus noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Nicht nur die Abwicklung der Selbstverwaltung, sondern auch die Verwaltungs- und Entschädigungspraxis vor und im Krieg wie auch der Umgang mit Zwangsarbeit und Konzentrationslagern sowie die personellen Kontinuitäten nach 1945 sind noch weitgehend unerforscht. 

Abbildung 2: Die Nationalsozialisten nutzten die Unfallverhütungspropaganda, um ihre politischen Botschaften in die Betriebe zu tragen. | © Reichsarbeitsblatt, 1940 (29), S. 180
Abbildung 2: Die Nationalsozialisten nutzten die Unfallverhütungspropaganda, um ihre politischen Botschaften in die Betriebe zu tragen. ©Reichsarbeitsblatt, 1940 (29), S. 180

Kontinuität durch die Krisenzeiten?

Seit der Einführung der Reichsversicherungsordnung im Kaiserreich bis 1945 blieben die Funktion und die Verfahren der Unfallversicherung größtenteils bestehen. Dies spricht grundsätzlich für ein prinzipiell resilientes System, und dies obwohl nach der Machtergreifung 1933 eines der wichtigsten Legitimationsprinzipien, die Selbstverwaltung, als tragendes Konstrukt eliminiert wurde. Erst nach 1945 sollte dieses tragende Element erneuert werden. Vermeintlichen Leistungsausdehnungen in der NS-Zeit steht entschieden eine bedeutende Einschränkung entgegen, nämlich der Ausschluss aller als staatsfeindlich und rassenideologisch ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen, die auch in diesem Kontext Opfer des Nationalsozialismus sind. Unter dieser Voraussetzung lässt sich in der NS-Zeit nur schwerlich von einer „Sozial“-Versicherung sprechen.