Geschichte der Selbstverwaltung in der Unfallversicherung (Teil III)
Nach dem Ende des Nationalsozialismus entstand in der Bundesrepublik wieder eine selbstverwaltete Sozialversicherung. Die nun paritätische, von Beschäftigten und Arbeitgebenden besetzten Selbstverwaltungsorgane waren und sind ein wichtiger Bestandteil der Demokratie. Wiederherstellung, Ausbau, Reformen und Umbau sind die Dynamiken eines stetigen Entwicklungsprozesses bis heute.
Mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und des von ihr angefachten Zweiten Weltkriegs stand auch die Unfallversicherung 1945 vor einem Neuanfang. Die Arbeit der Berufsgenossenschaften setzte sich unter Aufsicht und Kontrolle der Militärbehörden fort. Die Organisationsstruktur blieb grundsätzlich bestehen. Eine Wiedereinsetzung der Selbstverwaltung konnte sich unter den verschiedenen Besatzungsmächten zunächst allerdings nicht vollziehen.
Die Währungsreform von 1948 brachte auch für die soziale Sicherung finanzielle Einbußen mit sich: Die Guthaben und Rücklagen wurden abgewertet, während die Renten in voller Höhe in D-Mark erbracht werden mussten.
Die Teilung Deutschlands vollzog sich auch auf dem Gebiet der Sozialversicherung: In der Sowjetischen Besatzungszone wurde diese vereinheitlicht und in der DDR dann unter neuer Trägerschaft zur „Sozialversicherung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds“. Somit lag der Arbeitsschutz in der DDR allein unter staatlicher Kontrolle. In den westlichen Besatzungszonen vertraute man auf bestehende Institutionen, in der Bundesrepublik dann auch wieder auf das Strukturprinzip der Selbstverwaltung.
Wiedereinführung der Selbstverwaltung in der Bundesrepublik
Die Arbeit der gesetzlichen Unfallversicherung in der neu gegründeten Bundesrepublik musste mit entsprechenden neuen Gesetzen und Gesetzesreformen legitimiert werden. Das am 23. Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz (GG) regelte zunächst nur, dass dem Bund die Gesetzgebung für Arbeitsrecht, Arbeitsschutz und Arbeitsvermittlung sowie für die Sozialversicherung die konkurrierende Gesetzgebung zustanden. Das bedeutete, dass die Länder nur dann Befugnisse hatten, wenn der Bund von seinem Recht kein Gebrauch machte (Artikel 72 und 74 Abs. 12).[1] Artikel 87 regelte zudem die bundes- und landesunmittelbare Zuständigkeit über die Versicherungsträger.[2] Ganz grundsätzlich garantierte das Grundgesetz auch die Koalitionsfreiheit, also die Bildung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen nach Artikel 9 Abs. 3.[3] Es legte den Grundstein hin zu einer sozial- und rechtsstaatlichen Demokratie, in der auch die selbstverwaltete Sozialversicherung eine wichtige Gestaltungsrolle spielen sollte.
Erste Versuche der Wiedereinsetzung der Selbstverwaltung gab es auf Landesebene im Freistaat Bayern, wo Ende 1948 ein Gesetz zur Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung erlassen wurde.[4] Verwirklicht wurde diese Einzellösung allerdings nicht. Bis es zu einer bundeseinheitlichen Regelung kam, sollte es weitere drei Jahre dauern. Am 22. Februar 1951 trat das „Gesetz über die Selbstverwaltung und die Veränderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung“ in Kraft.[5] Das 1934 installierte Führerprinzip wurde hiermit endgültig beseitigt. Dabei revidierte das neue Selbstverwaltungsgesetz nicht nur die Eingriffe der Nationalsozialisten in die Organisationsstruktur der Sozialversicherung. Es stellte auch die Selbstverwaltung wieder her und vereinfachte sie, indem es für alle Sozialversicherungszweige eine paritätische Selbstverwaltung vorsah. Allerdings gab es hier einige wenige Ausnahmen, wie die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften.
Um die unterschiedlichen Erwerbsstrukturen abzubilden, setzten sich deren Vertreterversammlungen zu je einem Drittel aus der versicherten Arbeitnehmerschaft, den Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte und den Arbeitgebenden zusammen. Ansonsten blieb es bei den Ersatzkassen bei einer reinen Versichertenvertretung und bei der Knappschaftsversicherung wurde die Zweidrittelmehrheit der Versichertenvertreter wiederhergestellt.
Die paritätische Zusammensetzung bedeutete gerade für die Unfallversicherung eine wesentliche Änderung gegenüber dem Zustand vor 1933 und zugleich eine Stärkung der Beschäftigtenseite. Bei der Krankenversicherung bedeutete die paritätische Besetzung jedoch einen Machtverlust für die Beschäftigten. Sie hatten hier zuvor zwei Drittel gestellt. Aus diesem Grund standen die sozialdemokratische Opposition und die Gewerkschaften dem Gesetz auch ablehnend gegenüber.[6]
Neu regelte das Gesetz zudem die Organisationsstruktur, also die Vorsitze, Vorstände und Geschäftsführungen der Organe sowie Beisitze bei den Versicherungsämtern. Als weiteres Element der Demokratisierung wurde der Ablauf der Urwahlen für eine Vertreterversammlung getrennt nach Unternehmern und Versicherten festgelegt. Die Vorschlagslisten hierzu erstellten jeweils die Gewerkschaften und die Vereinigungen der Arbeitgeber. Die Vertreterversammlung wählte dann ebenfalls getrennt den Vorstand. Für die Durchführung der ordentlichen Wahlen hatte der Bundesminister für Arbeit eine Wahlordnung zu erlassen und einen Bundeswahlbeauftragten zu bestellen. Diese bestimmte auch die Richtlinien zur Wahl der Beisitzer bei den Oberversicherungsämtern.[7]
So stellte ein mit sechs Seiten recht kurzes Gesetz die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung wieder her und bereitete die Basis für eine lebendige Ausgestaltung der Demokratie auch im sozialen Bereich.
Reformen und Ausdehnungen in den 1950er-Jahren
Nach Erlass des kurz als „Selbstverwaltungsgesetz“ bezeichneten Gesetzestextes war die Arbeit des Gesetzgebers zur Wiederherstellung einer selbstverwalteten Sozialversicherung noch nicht beendet. Viele Stellschrauben waren nachzuziehen. Schon 1952 kam es zum ersten Änderungs- und Ergänzungsgesetz. Es diente unter anderem der Ausdifferenzierung der Besonderheiten der verschiedenen Unfallversicherungsträger und der Konkretisierung zu den Wahlen.[8] Eine Wahlordnung wurde daraufhin erlassen. Auf dieser Grundlage fanden 1953 die ersten Wahlen zu den Organen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung statt.[9]
1952, im Jahr vor diesen Wahlen, erfolgte eine weitere Ausdehnung der Unfallversicherung durch die Fünfte Berufskrankheiten-Verordnung. Nun waren es insgesamt 40 Berufskrankheiten, für die Entschädigungsleistungen gezahlt wurden.[10] Als besonders schwerwiegend stellte sich in der Versicherungspraxis insbesondere in der Frühphase der Bundesrepublik die Silikose, umgangssprachlich Staublunge, der Bergleute heraus. Sie wurde mit unterschiedlichen Ansätzen und großem Aufwand bekämpft.[11]
Mitte der 1950er-Jahre vollzog sich außerdem die institutionelle Neuorganisation der Sozialversicherung. Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit ordnete das Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom 3. September 1953 neu. Es sah folgenden Instanzenweg vor: Nach Vorverfahren in von den Versicherungsträgern einzurichtenden Widerspruchsstellen waren Sozialgerichte, Landessozialgerichte und dann das Bundessozialgericht zuständig.[12] Letzteres nahm im September 1954 in Kassel seine Arbeit auf.
Auch eine andere Einrichtung bekam eine neue rechtliche Grundlage. Den Zweck dieses neuen Gesetzes verrät sein langer Titel: „Gesetz über die Errichtung des Bundesversicherungsamts, die Aufsicht über die Sozialversicherungsträger und die Regelung von Verwaltungszuständigkeiten in der Sozialversicherung und der betrieblichen Altersfürsorge“, kurz: Bundesversicherungsamtsgesetz.[13] Anstelle des Reichsversicherungsamts trat nun das Bundesversicherungsamt als selbstständige Bundesbehörde mit Sitz in Berlin.
Ohne gesetzliches Zutun gingen die Berufsgenossenschaften auf dem Feld der Heilbehandlung schon früh dazu über, neue berufsgenossenschaftliche Krankenhäuser zu errichten. Geführt wurden diese Einrichtungen unter der Trägerschaft von Vereinen, zu denen sich meist mehrere Berufsgenossenschaften zusammenschlossen.[14] Schließlich passte 1957 ein Gesetz zur Neuregelung der Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung die bisherigen Renten dem veränderten Lohn- und Preisgefüge an.[15]
Die Politik forcierte den Wiederaufbau eines starken Sozialstaats. Dieser war von einem großen wirtschaftlichen Aufschwung, dem sogenannten Wirtschaftswunder, begleitet. Die günstigen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen eröffneten den Unfallversicherungsträgern den Spielraum für die Reformen und Ausdehnungen in dieser Zeit.
Das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz von 1963
Rückblickend erscheint in den 1960er-Jahren besonders ein Gesetz prägend, das Neuregelungsgesetz von 1963. Ihm gingen zähe politische Verhandlungen voran. Die Gesetzesreform fasste das dritte Buch der Reichsversicherungsordnung, das bisher die gesetzliche Unfallversicherung abdeckte, völlig neu. Bemerkenswerte inhaltliche Änderungen bildete etwa die Dynamisierung der Renten. Wie dies zuvor schon bei der großen Reform der Altersrenten von 1957 erfolgte, gab es nun eine Anpassung der Unfallrenten an den Zuwachs der Löhne und Gehälter. Bei der Rentenbemessung entfiel nun zudem eine Berücksichtigung von Vorschäden einer verletzten Person und es kam zu einer Neuordnung des Abfindungsrechts.
Neu war zudem, dass der Unfallverhütung ein höherer Stellenwert beigemessen wurde. Sie stand fortan als gleichrangige Aufgabe neben der Unfallentschädigung.[16] Auch die medizinische und berufliche Rehabilitation wurde weiter gestärkt.
Außerdem enthielt das Gesetz eine Regelung, wonach die auch aufgrund hoher Rentenlasten in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindliche Bergbau-Berufsgenossenschaft (BBG) durch Umverteilung, also finanzielle Leistungen der anderen gewerblichen Berufsgenossenschaften, entlastet wurde.[17] Diese Vorgabe der Lastenverteilung unter den Versicherungsträgern vonseiten des Gesetzgebers stieß nicht auf deren Wohlwollen und stellte letztlich auch einen Eingriff in die Selbstverwaltung dar. In diese Richtung ging auch ein Versuch der Zusammenlegung der Berufsgenossenschaften, der allerdings keinen Einzug in das Gesetz fand. Es kam zwar zu einer Aufforderung des Arbeitsministeriums an den Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG), einen Zusammenlegungsplan zu erstellen – was heftige Debatten auslöste –, doch blieb diese letztlich ohne Folgen.[18]
Als weitere Änderungen in den 1960er-Jahren sind zudem die Ausdehnung auf 47 Berufskrankheiten (1961) und die weitere Anpassung der Renten (1964) zu verbuchen.[19]
Neuausrichtung der Sozialpolitik ab 1969
Während die große Koalition von 1966 bis 1969 kaum Neuerungen in der Sozialversicherung mit sich brachte, änderte sich dies mit dem Regierungsantritt von Willy Brandt 1969. Es herrschte eine Aufbruchsstimmung und die sozialliberale Koalition stand ganz im Zeichen eines Ausbaus der sozialen Sicherung. Sie legte den Schwerpunkt auf eine vorsorgende Sozialpolitik. Arbeits- und Unfallschutz standen weit oben in dem umfangreichen Reformkatalog.[20] Exemplarisch für die soziale Agenda steht etwa die Rentenreform von 1972 oder das Aktions- und Forschungsprogramm „Humanisierung des Arbeitslebens“, das 1974 aufgelegt wurde und letztlich bis 1989 in über 1.600 Einzelprojekten Forschung für eine menschengerechte Arbeit vorantrieb.[21]
Auch die Unfallversicherung war wichtiger Teil der Reformpolitik, sowohl auf dem Feld der Gesetzgebung als auch praktisch im Ausbau des Arbeitsschutzes.
Im Jahr 1972 erfolgte eine wesentliche Ausweitung des versicherten Personenkreises durch das „Gesetz über Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten“.[22]
Im Folgejahr nahm die Regierung mit dem „Gesetz zur Weiterentwicklung des Selbstverwaltungsrechts und zur Vereinfachung des Wahlverfahrens“[23] und einer Verordnung zur Änderung der Wahlordnung für die Sozialversicherungen[24] notwendige Anpassungen zur Verbesserung des Wahlverfahrens vor.
Ein großes Reformvorhaben dieser Zeit war eine Zusammenfassung des mittlerweile unübersichtlich gewordenen Sozialversicherungsrechts. Schon ab 1969 gab es Bemühungen, das Sozialrecht in einem Sozialgesetzbuch nach Vorbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zusammenzufassen. Es sollte die Reichsversicherungsordnung (RVO) und die vielen geltenden Spezialgesetze ersetzen.
Für die Unfallversicherung bedeutete dies insofern eine Erleichterung, da nun auch bisher ungeschriebene verwaltungsrechtliche Regelungen kodifiziert wurden und so für die Praxis Rechtsklarheit geschaffen wurde.
Von 1976 an begann die Veröffentlichung der verschiedenen Teile des Sozialgesetzbuchs (SGB) zunächst mit einem allgemeinen Teil.[25] Der vierte Teil enthielt dann gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung, darunter auch für das Selbstverwaltungsrecht.[26] Erst 1997 trat der siebte Teil in Kraft, mit dem Titel und zugleich Auftrag: „Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch“.[27] Es transformierte das dritte Buch der Reichsversicherungsordnung sachlich weitgehend unverändert.
Parallel zu den gesetzlichen Reformen kam es auch zu einem Ausbau der medizinischen Rehabilitation und der Verbesserung auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes. Schon mit der Gründung der Bundesrepublik war auch die berufsgenossenschaftliche Unfallverhütungsarbeit wieder aufgenommen worden. So gab der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften ab 1949 die Zeitschrift „Unfallwehr“ heraus. Schon ab Ende der 1960er-Jahre begann die Neugestaltung der Unfallverhütungsvorschriften. Neben diesen blieb es bei weiteren altbewährten Mitteln, wie etwa dem Unfallverhütungsplakat. Gerade in den 1970er-Jahren kam es zu einer Intensivierung der Bemühungen. Abbildung 2 steht beispielhaft dafür. Es zeigt Plakate, die 1975 in Ausstellungen in Essen und Düsseldorf einem großen Publikum gezeigt wurden und von diesem auch bewertet werden konnten.
Neben der Stärkung des Arbeitsschutzes innerhalb der gesetzlichen Unfallversicherung gab es in den 1970er-Jahren gesetzliche und institutionelle Bemühungen vonseiten des Staates. 1973 war etwa das „Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit“, kurz: Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG), erlassen worden. Es stellte auch den Berufsgenossenschaften neue Instrumente zur Verfügung. Ganz im Zeichen dieser Arbeitsschutzoffensive stand auch die Gründung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (BAU) 1971 in Dortmund. Die Arbeitsschutzthematik wurde sogar Gegenstand einer Briefmarken-Dauerserie, die von 1971 bis 1973 erschien und einprägsame schematischen Darstellungen zeigte.
Blieben die Reformbemühungen in den frühen 1970er-Jahren noch unverkennbar, was sicher auch der noch guten wirtschaftlichen Lage geschuldet war, setzten ab Mitte der 1970er-Jahre die Wirtschafts- und Beschäftigungskrisen dem weiteren Ausbau des Sozialstaats engere Grenzen.
1980er-Jahre, Wiedervereinigung und neue Herausforderungen
Nach der Sozialstaatsexpansion der 1970er-Jahre bedingten die schwache Haushaltslage und die hohe Arbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren einen Konsolidierungskurs. Einsparungen waren notwendig geworden. Letztlich führten Fragen der Sozialstaatsfinanzierung mit zum Bruch der sozialliberalen Koalition und zum Beginn der CDU-Kanzlerschaft unter Helmut Kohl.[28]
1985 durfte die gesetzliche Unfallversicherung sich selbst feiern. Das 100-jährige Jubiläum stand an, begleitet von zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen. Dies war auch ein Gedenken und eine Anerkennung an 100 Jahre erfolgreiche Selbstverwaltung.
Das Gesundheitsreformgesetz (GRG) von 1988[29] führte die endgültige Alleinzuständigkeit der Unfallversicherung bei allen Unfällen ein und hob somit die Vorleistungspflicht der Krankenkassen auf. Die nun klare Abgrenzung der Versicherungszweige bedeutete eine finanzielle Mehrbelastung und erhöhten Verwaltungsaufwand. Begleitet von Debatten trat diese Umstellung erst 1991 in Kraft.[30]
Die nächste große Herausforderung an die Unfallversicherung stellte die Wiedervereinigung dar. Weitere Reformvorhaben wurden von diesem Aufgabenkomplex zunächst verdrängt. Die Angleichung des Rechts und die Übertragung der Unfallversicherung auf die neuen Bundesländer erfolgten durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990. Bei der praktischen Umsetzung halfen das Improvisationstalent und das Engagement der Selbstverwaltungsorgane, so etwa bei der Übertragung der Versicherungsfälle und der institutionellen Ausdehnung. Von der Forschung wird der Transformationsprozess auf diesem Feld als Erfolg bewertet.[31] Es handelte sich um eine enorme Leistung, die sowohl soziale Sicherheit im Betrieb schuf als auch Vertrauen in den Sozialstaat im Allgemeinen.
Die weiteren jüngsten zeitgeschichtlichen Entwicklungen seien hier nur in Kürze zusammengefasst: Allgemein die Sozialversicherung betreffend kam es 1992 zu einer dritten großen Rentenreform und 1995 zur Einführung der Pflegeversicherung als neuem Versicherungszweig. Er war im Übrigen ohne eigene Selbstverwaltungsorgane ausgestattet und grundsätzlich an die gesetzliche Krankenversicherung angeknüpft.
Wie bereits erwähnt, fand 1996 durch den Gesetzgeber die Überführung der Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (SGB) VII statt. Bald danach setzten weitere Reformbestrebungen ein. Es kam sogar zu Privatisierungsdebatten.[32] Gleichzeitig stieg der Fusionsdruck auf die Unfallversicherungsträger. Bemühungen der Berufsgenossenschaften um eine starke Reduzierung ihrer Zahl mündeten so 2008 im „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung – Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz (UVMG)“ vom 30. Oktober 2008.[33] Es ließ die Zahl von 2004 noch 35 existierenden gewerblichen Berufsgenossenschaften auf nur noch neun Träger 2011 zusammenschmelzen. Auch die Zahl der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand sank auf 24. Diese umfangreiche Reform soll den Schlusspunkt dieses Überblicks bilden. Eine Einschätzung der langfristigen Wirkungen gilt es abzuwarten.
Selbstverwaltung zwischen Auf- und Umbau
Nicht zufällig erscheint die Entwicklung der Selbstverwaltung in der Unfallversicherung nach 1945 wie eine Aneinanderreihung von Reformprozessen und Gesetzesänderungen. Die staatlichen Gesetzesaktivitäten, motiviert durch politische Leitlinien oder äußere Zwänge, vor allem in Form von wirtschaftlichen Krisensituationen, prägten die kontinuierliche Weiterentwicklung. Die Berufsgenossenschaften als Selbstverwaltungsorgane begleiteten und beeinflussten diese mal mehr und mal weniger. In den Konzentrationsprozessen bleibt es zudem wichtig, dass die Nähe zu den Versicherten wie auch den Mitgliedsunternehmen nicht verloren geht.
Indes blieben und bleiben die Aufgaben bestehen und insbesondere Rehabilitation und die Prävention wurden in ihrer Bedeutung gestärkt. Hier gilt es, Freiräume konstruktiv zu nutzen. Denn trotz sinkender Unfallquoten bleibt die präventive Aufgabenstellung der gesetzlichen Unfallversicherung eine Daueraufgabe, die es stets innovativ mit Leben zu füllen gilt. Für praxisgerechte Lösungen ist hier eine unmittelbare Gestaltung und Mitwirkung der Beschäftigten und der Arbeitgebenden prädestiniert. Zuletzt sollte auch die demokratische Legitimierung durch die Sozialwahlen ein stetiges Reformfeld für eine lebendige Demokratie sein.