Aufgaben und Herausforderungen für die Arbeitsmedizin
Die Arbeitswelt, wie wir sie kennen, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Ganz aktuell hat die Corona-Pandemie einschneidende Veränderungen beispielsweise im Hinblick auf das Homeoffice bewirkt. Das gilt gleichermaßen für die Arbeitsmedizin, die sich den daraus resultierenden Herausforderungen stellen muss. DGUV Forum sprach hierzu mit Isabel Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA).
Sehr geehrte Frau Rothe, welche großen Herausforderungen sehen Sie als Präsidentin der BAuA für die Arbeits- und Betriebsmedizin in den kommenden Jahren?
ROTHE: Die Herausforderungen sind sehr vielfältig. Allem voran ist der dynamische Wandel der Arbeitswelt zu nennen. Durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitsprozesse erleben wir neue Formen der Steuerung und Taktung, den Einsatz neuer Arbeitssysteme und eine Zunahme der orts- und zeitflexiblen Arbeit sowie der digitalen Kommunikation. Es verändern sich auch die Belegschaften selbst, zum Beispiel durch längere, aber weniger kontinuierliche Erwerbsbiografien, durch den demografischen Wandel sowie durch veränderte Werte und Präferenzen.
Die Arbeitsmedizin ist wie alle Akteure im Bereich von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit gefordert, diesen Wandel sachgerecht zu begleiten. Dabei stellen sich vielfältige Fragen: Wie soll die Arbeit künftig gestaltet sein, wo liegen die gesundheitlichen Risiken, beispielsweise bei der weiteren Verdichtung oder Entgrenzung der Arbeit, aber wo liegen auch die Chancen, etwa durch den Einsatz von Assistenzsystemen und die differenzielle Gestaltung der Arbeit für die jeweilige Arbeitsperson? Wie können wir Menschen besser unterstützen, die mit Einschränkungen oder Vorerkrankungen am Arbeitsleben teilhaben oder nach Krankheitsepisoden in das Arbeitsleben zurückkehren? Wie erreichen wir die Beschäftigten, wenn die orts- und zeitflexible Arbeit weiter zu- und das tägliche Miteinander im Betrieb weiter abnimmt? Gerade hinsichtlich des letzten Punktes haben wir während der Pandemie einiges gelernt, und ich würde mich freuen, wenn wir dieses miteinander reflektieren und für zukünftige Vorgehensweisen auswerten würden.
Ist die Arbeitsmedizin für den demografischen Wandel ausreichend vorbereitet?
ROTHE: Diese Frage würde ich gern auf zwei Ebenen aufgreifen. Einerseits gilt es, die Belegschaften in den Unternehmen auch im Kontext des demografischen Wandels kompetent zu unterstützen. Andererseits findet der demografische Wandel auch bei den Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmedizinern selbst statt und es stellt sich die Herausforderung, für Nachwuchskräfte zu sorgen.
Im Jahr 2019 betrug das durchschnittliche Renteneintrittsalter bereits 64,3 Jahre – eine Zahl, die in den Jahrzehnten davor nicht vorstellbar war – und das gesetzliche Rentenalter steigt weiter an. Die Arbeitsmedizin hat vor diesem Hintergrund zentrale Beratungsaufgaben bezüglich gesundheitlicher Aspekte altersgerechter Arbeit. Auch wenn wir dabei das Ideal verfolgen, dass durch gute Arbeitsgestaltung und optimale arbeitsmedizinische Vorsorge die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten erhalten werden können, so ist es zunehmend wichtig, auch im Rahmen der Sekundär- und Tertiärprävention aktiv zu sein. Durch gute differenzielle Arbeitsgestaltung und arbeitsmedizinische Vorsorge können Beschäftigte auch bei gesundheitlichen Einschränkungen möglicherweise noch sehr gut am Arbeitsprozess teilhaben. Professionelle Return-to-Work-Prozesse, in denen die beteiligten Gesundheitseinrichtungen sowie die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte möglichst eng zusammenarbeiten, ermöglichen die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach längeren Erkrankungen deutlich besser.
Angesichts flexibler und zunehmend flüchtiger Strukturen sollten Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner stärker in ihre Sichtbarkeit investieren und den Beschäftigten erweiterte Vorsorgeangebote in Form von Beratung und medizinischer Untersuchung machen.
Durch den demografischen Wandel stellt sich für viele Professionen – auch für die Arbeitsmedizin – verschärft die Frage der Nachwuchsgewinnung. Ich halte es für dringend notwendig, dass Aktivitäten, wie beispielsweise im Aktionsbündnis Arbeitsmedizin, fortgesetzt und noch ergänzt werden. Die BAuA wird sich hier auch weiterhin engagieren.
Sie erwähnten bei den großen Herausforderungen auch das Stichwort "Digitalisierung". Wie wird diese die Rolle von Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmedizinern zukünftig verändern?
ROTHE: Der Wandel der Arbeitswelt verändert auch die Rolle der Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner, insbesondere durch die zunehmende Flexibilität von Zeit und Ort und die Zunahme digitaler Kommunikation. Die Funktion des Betriebs als sozialer Ort der unmittelbaren persönlichen Begegnung nimmt ab, es entsteht eine neue Unsichtbarkeit der Arbeitsschutzakteure im betrieblichen Alltag, die deren Vernetzung mit der Arbeitsrealität der Beschäftigten erschwert. Der Beratungsgegenstand Arbeitsplatz reicht über den Betrieb hinaus und umfasst unterschiedliche Arbeitsumgebungen und Organisationsformen im häuslichen Bereich oder auf Dienstreisen.
Angesichts flexibler und zunehmend flüchtiger Strukturen sollten Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner stärker in ihre Sichtbarkeit investieren und den Beschäftigten erweiterte Vorsorgeangebote in Form von Beratung und medizinischer Untersuchung machen. Dies kann auch durch neue Formate in Form von digitalen Beratungs- und Unterstützungsangeboten bis hin zu medizinischen Untersuchungsangeboten mittels Telemedizin gelingen.
Für die Beschäftigten geht die Digitalisierung auch mit einer höheren Arbeitsverdichtung und ständigen Erreichbarkeit einher. Wie sehen Sie hier die zukünftigen Aufgaben der Arbeitsmedizin?
ROTHE: Zunächst sollten in allen Unternehmen Gestaltungsstandards für die digitale Arbeit, unter anderem zur Erreichbarkeit, etabliert werden. Dabei wäre es sehr wünschenswert, dass hier stets auch die arbeitsmedizinische Expertise einfließt, insbesondere im Hinblick auf die Einschätzung möglicher Gesundheitsgefahren. Um diese Standards im betrieblichen Alltag dann tatsächlich umzusetzen, braucht es die operative Gestaltungskompetenz aller Akteure, nicht zuletzt der Führungskräfte, der Betriebsmedizin und der Beschäftigten selbst. Hier sind aus meiner Sicht die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte gefragt, bei allen Anlässen, etwa im Rahmen allgemeiner Beratungs- und Unterstützungsangebote, im Kontext der Gefährdungsbeurteilungen, aber auch bei individuellen Gesprächen im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge, auf die Selbstgestaltungskompetenzen der Beschäftigten hinzuwirken.
Ich halte es für wichtig, dass wir bei der Gestaltung orts- und zeitflexibler Arbeit nicht nur auf Faktoren wie Leistungsmenge und Erreichbarkeit, auf die vielfältigen psychischen Belastungen, auf Bewegungsmangel und die angemessene ergonomische Gestaltung achten, sondern auch gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel die Risiken von kardiovaskulären und metabolischen Erkrankungen, in den Blick nehmen. Hier kann die Arbeitsmedizin einen wesentlichen Beitrag leisten.
Die SARS-CoV-2-Pandemie ist seit 2020 eine globale gesellschaftliche Herausforderung. Welche besondere Verantwortung ergibt sich für die Arbeitsmedizin im Rahmen solcher Pandemien?
ROTHE: Nach meiner Wahrnehmung hat die Pandemie die Arbeitsmedizin auf vielen verschiedenen Ebenen ganz besonders gefordert und auch sichtbar gemacht.
Auf der betrieblichen Ebene war es von großer Bedeutung, dass die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ihre medizinische Perspektive zur Einschätzung der gesundheitlichen Risiken des SARS-CoV-2-Virus und zur Entwicklung entsprechender Schutzmaßnahmen eingebracht haben. Das hat manche Diskussion versachlicht und das Entwickeln angemessener Lösungen erleichtert. Von zentraler Bedeutung waren ebenfalls die Beratung zu allen Fragen rund um Erkrankungen und Quarantänemaßnahmen sowie die Angebote zur Wunschvorsorge für besonders schutzbedürftige Beschäftigte.
Überbetrieblich waren und sind die Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner bei der Entwicklung der staatlichen und berufsgenossenschaftlichen Regelwerke sehr präsent. Ich selbst war mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der BAuA an der Erstellung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel beteiligt und habe es als außerordentlich bereichernd und sachdienlich erlebt, dass die Fachperspektiven der drei Ausschüsse, Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed), Ausschuss für Biologische Arbeitsstoffe (ABAS) und Ausschuss für Arbeitsstätten (ASTA), so eng miteinander verzahnt werden konnten.
Für den weiteren Verlauf der Pandemie hoffe ich, dass es den Betriebsärztinnen und Betriebsärzten gelingen wird, durch gute und sachliche Aufklärung die Akzeptanz des Impfangebotes bei den Beschäftigten zu erhöhen und idealerweise durch Angebote in den Betrieben auch zu einer möglichst hohen Impfquote beizutragen.
Welche Rolle spielt – insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen in der SARS-CoV-2-Pandemie – die Politikberatung durch die Wissenschaft für die Weiterentwicklung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit?
ROTHE: Die SARS-CoV-2-Pandemie hat ganz deutlich gezeigt, welche Bedeutung der wissenschaftlichen Politikberatung generell und auch in unserem Themengebiet zukommt. Es gab viele Besonderheiten; so war der Zeitdruck unglaublich groß und die wissenschaftlichen Erkenntnisse mussten fortlaufend aktualisiert werden. Insgesamt hat sich gezeigt, wie wertvoll gerade diejenige Wissenschaft ist, die nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse generieren oder den Stand der Wissenschaft bewerten kann, sondern auch in der Lage ist, hieraus Ableitungen bis hin zu praxisorientierten Handlungsempfehlungen zu generieren. Auch war es wichtiger denn je, dass Wissenschaft verständlich kommunizieren kann, sich also erklärt.
Bei dieser Übersetzung von Wissenschaft in die Praxis haben sich die Gremien bewährt, die multilateral zusammengesetzt sind, wie beispielsweise die staatlichen Ausschüsse des Arbeitsschutzes, die mit Vertreterinnen und Vertretern der Wissenschaft, des Arbeitsschutzes und Sozialpartnern plural besetzt sind. Trotz anspruchsvoller Debatten zeigte sich letztlich doch, dass eine verantwortungsvolle und präzise Abwägung aller Maßnahmen möglich ist. Diese Maßnahmen werden gut von der Praxis angenommen, was beispielsweise unsere Expertenbefragung bestätigt hat. Das Beispiel veranschaulicht eindrücklich, das die stringente Fachlichkeit der Wissenschaft im Dialog mit den Vertreterinnen und Vertretern der anderen Bänke zu umsetzbaren Lösungen führt, die den Beschäftigten ein hohes Schutzniveau bieten.
Auf der betrieblichen Ebene war es von großer Bedeutung, dass die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ihre medizinische Perspektive zur Einschätzung der gesundheitlichen Risiken des SARS-CoV-2-Virus und zur Entwicklung entsprechender Schutzmaßnahmen einbrachten. Das hat manche Diskussion versachlicht und das Entwickeln angemessener Lösungen erleichtert.
Welche Bedeutung hat im Rahmen der Politikberatung hier konkret die Forschung der BAuA zu potenziell schädigenden beruflichen Einwirkungen und der Krankheitsentstehung?
ROTHE: Ich persönlich habe die Wahrnehmung, dass die Politik zunehmend elaborierte und verlässliche wissenschaftliche Grundlagen einfordert. Dabei geht es nicht nur um Erkenntnisse zur Erkrankungsgenese sondern um zahlreiche andere Themen, zum Beispiel zu stofflichen Risiken, zum Wandel der Arbeit oder der Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen. Zugleich stellt ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Arbeitsbedingungen alle Akteure der forschenden Arbeitsschutz-Community vor große Herausforderungen.
Als Ressortforschungseinrichtung haben wir in der BAuA den Anspruch an uns selbst, im Zuge der sogenannten "Vorlaufforschung" möglichst heute schon auf unsere Forschungsagenda zu setzen, was morgen für politisches Handeln relevant sein könnte. Die Ergebnisse unserer Forschungsanstrengungen fließen sowohl in unmittelbare Beratungsprozesse und wissenschaftsbasierte Gremien als auch in die Recht- und Regelsetzung ein. Das reicht von gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über Technische Regeln und Regulationsentscheidungen bis hin zu Europäischen Richtlinien.
Wissenschaft und Forschung bilden die Grundlage für evidenzbasierte Medizin. Wie können evidenzbasierte Ansätze zukünftig noch besser für die Ableitung von betrieblichen Präventionsmaßnahmen genutzt werden?
ROTHE: Valide reproduzierbare Erkenntnisse sollten der Goldstandard für die Ableitung von Präventionsmaßnahmen sein und bleiben. Allerdings sind die metaanalytischen Prozesse und Evidenzbewertungen sowie die erforderliche Konsentierung in der Fach-Community häufig sehr aufwendig und erfordern stets eine Vielzahl bereits abgeschlossener Forschungsarbeiten. Dies steht zunehmend im Widerspruch zur Dynamik des Wandels der Arbeit, der immer wieder ein breites Spektrum zeitnäherer Erkenntnisse erfordert.
Gerade in der SARS-CoV-2-Pandemie mussten wir lernen, auf Basis bestmöglicher wissenschaftlicher Erkenntnisse zeitnah handlungsfähig zu sein und dabei auch in ganz besonderem Maße interdisziplinär und transdisziplinär zu agieren. Ich gehe davon aus, dass wir aus dieser Erfahrung auch langfristig lernen können, und habe in diesem Zusammenhang ebenfalls mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, dass sich der Wissenschaftsrat zu Anfang dieses Jahres bereits ausführlich hiermit beschäftigt hat.
Die drei Forschungsinstitute der gesetzlichen Unfallversicherung arbeiten bereits mit der BAuA zusammen. Wo sollte beziehungsweise kann diese Zusammenarbeit künftig noch intensiviert werden?
ROTHE: Zwischen allen wissenschaftlichen Instituten der DGUV – dem IPA (Institut für Prävention und Arbeitsmedizin, Anm. d. R.), dem IFA (Institut für Arbeitsschutz, Anm. d. R.) sowie dem IAG (Institut für Arbeit und Gesundheit, Anm. d. R.) – und der BAuA besteht nach meiner Wahrnehmung ein sehr guter Austausch auf Arbeitsebene, der immer wieder zu konkreter Zusammenarbeit führt. Ich möchte an dieser Stelle an das Projekt MEGAPHYS ("Mehrstufige Gefährdungsanalyse physischer Belastungen am Arbeitsplatz", Anm. d. R.) und die Studie zur Dauernachtschicht erinnern. MEGAPHYS wurde im vergangenen Jahr abgeschlossen und bietet Unternehmen eine wissenschaftsbasierte und praxisnahe Handlungshilfe, um Muskel-Skelett-Belastungen zu beurteilen und die Arbeitswelt entsprechend zu gestalten. In der Dauernachtschichtstudie, die in Kooperation mit dem IPA durchgeführt wurde, geht es um psychische Belastungen bei dieser besonderen Schichtarbeitsgruppe, die sowohl mit etablierten psychometrischen Standardinstrumenten als auch objektiven Parametern zur Messung von chronischem Stress durchgeführt wurde. Zudem gibt es zahlreiche Kooperationen im Rahmen nationaler und internationaler Gremien, zum Beispiel PEROSH – Partnership for European Research in Occupational Safety and Health. Um den Austausch systematisch fortzuentwickeln, haben wir auch in unseren Beratungsgremien, dem Kuratorium, dem wissenschaftlichen Beirat und dem DASA-Beirat, jeweils Mitglieder aus der DGUV und wollen das auch so fortsetzen. Wir freuen uns immer, wenn sich aus den verschiedenen Kontexten unserer Zusammenarbeit weitere Ideen für zukunftsorientierte Kooperationen ergeben.
Das Interview führte Monika Zaghow, Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der DGUV – Institut der Ruhr-Universität Bochum (IPA).
Die BAuA
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Als Ressortforschungseinrichtung ist sie zuständig für alle Fragen von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und der menschengerechten Gestaltung bei der Arbeit. Über 750 Beschäftigte arbeiten am Sitz in Dortmund oder an den Standorten in Berlin und Dresden sowie einer Außenstelle in Chemnitz.