Schichtsysteme im Graubereich – aktuelle Empfehlungen und offene Fragen

Jeder Betrieb ist einzigartig – und somit auch jeder Schichtbetrieb. Liest man nationale und internationale wissenschaftliche Stellungnahmen und Empfehlungen, so wird deutlich, dass einige wichtige Fragen der Arbeitszeitgestaltung Spielraum lassen. Wo sind sich Expertinnen und Experten einig? Wo sind Fragen offen? Was bedeutet dies für die Zukunft der Schichtarbeitsgestaltung?

Schichtsysteme in der Praxis

In Deutschland arbeiten laut Statistischem Bundesamt etwa 4,5 Millionen Menschen in Nachtarbeit. Bei der Gestaltung der Arbeitszeiten in einzelnen Betrieben spielen betriebliche Anforderungen, Möglichkeiten in den Planbesetzungen von Schichtgruppen und Wünsche der Beschäftigten eine Rolle. Eine Untersuchung von betrieblichen Schichtsystemen hinsichtlich der Umsetzung von Empfehlungen zur Arbeitszeitgestaltung in der Metall- und Elektroindustrie hat gezeigt, dass nur etwa ein Drittel der Betriebe alle arbeitswissenschaftlichen Empfehlungen umsetzt beziehungsweise umsetzen kann (Altun et al., 2019). Dieser Beitrag beleuchtet, wie die Empfehlungen für die Prävention von gesundheitlichen Auswirkungen durch Schichtarbeit umgesetzt werden und welche offenen Fragen es in den Empfehlungen noch gibt.

Nationale und internationale Empfehlungen

Ende 2020 wurden zwei national und international zentrale Forschungsarbeiten mit Empfehlungen zu Schichtarbeit veröffentlicht. In der S2k-Leitlinie "Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit" entwickelten Expertinnen und Experten konsensbasierte Empfehlungen auf Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den wichtigsten gesundheitlichen Endpunkten, die in der Forschung im Zusammenhang mit Schichtarbeit diskutiert werden (AWMF, 2020). An der Leitlinie war auch das Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der DGUV (IPA) beteiligt. Es hat sich teils federführend vor allem bei den Themengebieten Krebserkrankungen, Schlaferkrankungen und Reproduktion eingebracht. Dabei wurde nicht nur die Rolle verschiedener Schichtsysteme betrachtet, sondern beispielsweise auch spezifische therapeutische Aspekte und deren Bedeutung für eine mögliche Wiedereingliederung in Schichtarbeit. Somit ist diese Leitlinie insbesondere für die arbeitsmedizinische Praxis relevant. Dr. Anette Wahl-Wachendorf, Ärztliche Leiterin des Arbeitsmedizinischen Dienstes der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) und Vizepräsidentin des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW), erläutert hierzu: "Aus meiner Sicht gibt die Leitlinie Hinweise für zahlreiche Branchen. So spielt Schichtarbeit durchaus auch in der Bauwirtschaft –  beispielsweise bei nächtlichen Montagearbeiten ohne störenden Publikumsverkehr –  eine Rolle. Die Leitlinie ist für unseren betriebsärztlichen Alltag von großer Bedeutung. Auf ihrer Grundlage können wir für Unternehmen und Versicherte Empfehlungen ableiten und in die tägliche Beratung einfließen lassen."

Eine Untersuchung von betrieblichen Schichtsystemen hinsichtlich der Umsetzung von Empfehlungen zur Arbeitszeitgestaltung in der Metall- und Elektroindustrie hat gezeigt, dass nur etwa ein Drittel der Betriebe alle arbeitswissenschaftlichen Empfehlungen umsetzt beziehungsweise umsetzen kann.

Ebenfalls Ende 2020 wurden die Ergebnisse einer großen skandinavischen Forschungsinitiative mit Empfehlungen für die Gestaltung von Schichtarbeit und Arbeitszeit vorgestellt (WOW, 2020). Sowohl in der Leitlinie zu Schicht- und Nachtarbeit als auch in den WOW-Empfehlungen wird deutlich, dass die wissenschaftliche Datenlage für eine Reihe von Aspekten auf Grundlage der aktuellen Forschungsergebnisse nicht ausreichend ist.

Die Expertengruppen sind sich einig: so wenige Nachtschichten wie möglich und nur so viele wie notwendig. Die meisten Beschäftigten passen sich sowohl körperlich als auch sozial nur während der Tage der eigentlichen Nachtarbeit den veränderten Bedingungen an. Unmittelbar an den freien Tagen danach versuchen sie ein normales Leben, angepasst an ihre üblichen Tagesrhythmen, zu führen – auch bei nur kurzen Freizeitphasen. In einer Studie in der Metall- und Elektroindustrie hielt etwa die Hälfte der untersuchten Betriebe ein oder zwei freie Tage nach Nachtschichten zur Erholung bereit, die andere Hälfte sogar drei und mehr Tage (Altun et al., 2019). Dies zeigt, dass es vielen Betrieben offensichtlich möglich ist, der Forderung Altuns nachzukommen, nach einer Nachtschichtphase eine möglichst lange Ruhephase folgen zu lassen.

Graubereiche und offene Fragen

Vergleichsweise wenige Studien gibt es zu Dauernachtarbeit. Ob sich Beschäftigte in Dauernachtarbeit an den freien Tagen weniger stark an das "normale Leben" anpassen als andere Beschäftigte in Nachtarbeit, ist noch ungeklärt. Neue Einblicke kann eine Längsschnittstudie zu den sozialen, psychischen und physiologischen Konsequenzen von Dauernacht- und Zwölfstundenschichten geben, die das IPA in Kooperation mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchführt. Weiterhin fehlen für eine Reihe von Aspekten sowohl Feldstudien mit detaillierten Beobachtungen der individuellen Anpassungsprozesse als auch Interventionsstudien. So ist zum Beispiel weitestgehend unklar, ob sich gesundheitliche Auswirkungen von Schichtarbeit durch moderne Beleuchtung verbessern lassen (Rabstein et al., 2018). Das IPA führt gemeinsam mit dem Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und Maritime Medizin in Hamburg (ZfAM) und der Technischen Universität Ilmenau hierzu eine Interventionsstudie zu Beleuchtung und Schichtarbeit durch. Die Desynchronisation biologischer Rhythmen im Körper und deren Anpassung an Nachtarbeit insbesondere bei sensiblen Subgruppen ist ein weiteres wichtiges Thema. Dieses komplexe Zusammenspiel verschiedenster biologischer Parameter und weitere offene Fragen, etwa zu tageszeitlichen Präferenzen, werden auch in der IPA-Feldstudie "Gesundheitsauswirkungen von Schichtarbeit" untersucht.

Die Zukunft ist individuell

Aus arbeitsmedizinischer Perspektive liegt die Zukunft der Arbeitszeitgestaltung somit nicht nur in der Verbesserung der Schichtsysteme und Arbeitsbedingungen per se, sondern auch in der Berücksichtigung individueller Faktoren wie Vorerkrankungen oder Alter. Prof. Albert Nienhaus von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) weist darauf hin, wie wichtig es aufgrund des demografischen Wandels ist, bessere Erkenntnisse dazu zu gewinnen, welche Aspekte der Schichtarbeit in spezifischen Altersgruppen besonders berücksichtigt werden sollten. "Es muss uns gelingen, Schichtpläne so flexibel zu gestalten und die Arbeitsumgebung so zu optimieren, dass die gesundheitlichen Risiken für Beschäftigte in allen Altersgruppen minimiert werden. Dann können wir auch in Zukunft die Rund-um-die-Uhr-Versorgung zum Beispiel im Gesundheitswesen aufrechterhalten."

Auch wenn es anhand von wissenschaftlichen Studien bald gelingen sollte, die Bedeutung der individuellen Faktoren in Empfehlungen für die Schichtplangestaltungen zu konkretisieren, so ist es möglicherweise dennoch ein langer Weg bis zur Umsetzung in die Praxis. Je nach Branche und Sektor sind hier unterschiedliche Maßnahmen und Regeln notwendig.

Literatur

Altun, U. et al. (2019): ifaa-Studie "Auswertung von Schichtmodellen nach arbeitswissenschaftlichen Kriterien", www.arbeitswissenschaft.net/angebote-produkte/broschueren/azv-bro-arbeitszeitstudie (abgerufen am 23.03.2021)

AWMF  (2020): S2k-Leitlinie "Gesundheitliche Aspekte und Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit". Registernummer 002-030, www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/002-030.html (abgerufen am 23.03.2021)

Rabstein, S. et al.: Studie zu Schichtarbeit – Licht ins Dunkel. In: DGUV Forum 11/2018, S. 20–21

WOW (2020): Working Hours, Health, Well-Being and Participation in Work-Live. Summary of the key WOW recommendations. WOW (2015–2019), www.ttl.fi/en/summary-of-the-key-wow-recommendations (abgerufen am 23.03.2021)