„Stark sind wir, wenn Ehrenamt und Hauptamt gemeinsam Themen aufgreifen und lösen“

Die gesetzliche Unfallversicherung wird in diesem Jahr 140 Jahre alt. Wie tragfähig ist ihr Fundament angesichts der aktuellen politischen Lage? Dr. Stefan Hussy erinnert an den sozialen Beitrag des Systems und weist auf notwendige Veränderungen hin.

Herr Dr. Hussy, Ihre Zeit als Hauptgeschäftsführer geht in diesem Sommer zu Ende. Ihre Amtszeit war geprägt von Krisen: Coronapandemie, Krieg in Europa, Energie- und Wirtschaftskrise. Aus Ihrer Sicht: Welche Rolle hat die gesetzliche Unfallversicherung in einer Welt der Multi-Krisen?

Hussy: Die gesetzliche Unfallversicherung erweist sich in Zeiten besonderer Herausforderungen als Stabilitätsanker. Während der Coronapandemie haben wir zum Beispiel gemeinsam mit dem Bundesarbeitsminister den Corona-Arbeitsschutzstandard verkündet und anschließend branchenspezifische Arbeitsschutzstandards geliefert. Das war von großer Bedeutung, da wir damals weder die Gefährlichkeit des Virus vollständig einschätzen konnten noch Impfstoffe hatten. Dennoch musste die Wirtschaft am Laufen gehalten werden. Mit unserem Beitrag zum Sozialdienstleister-Einsatzgesetz haben wir die Regierung dabei unterstützt, die Reha-Infrastruktur des Landes zu erhalten. Insgesamt hat die Pandemie gezeigt, was das Land an der gesetzlichen Unfallversicherung hat.

Heißt das im Umkehrschluss: Pandemie vorbei, Unfallversicherung wieder im Hintergrund?

Hussy: Die Gefahr sehe ich durchaus. Dass aktuell manche das Thema „Arbeitsschutz“ unter dem Titel „Bürokratieabbau“ verorten, könnte in diese Richtung gehen. Allerdings gibt es einige Megatrends, denen wir alle nicht aus dem Weg gehen können. Dazu zählt der demografische Wandel in Deutschland. Auch wenn sich die wirtschaftliche Lage im Augenblick in manchen Branchen verschlechtert, stehen wir klar vor der Herausforderung, dass die Menschen möglichst lange gut und gerne arbeiten können sollen.

Mit ihrer Kompetenz, Unternehmen zu beraten, wie sichere und gesunde Arbeitsplätze gestaltet werden können, und Unternehmen auch dazu zu motivieren, eine Kultur der Prävention zu leben, kann die Unfallversicherung hier ein wichtiges Rädchen für das große Ganze sein.

Dr. Stefan Hussy ist seit 2019 Hauptgeschäftsführer der DGUV. Im Sommer 2025 geht er in den Ruhestand. | © DGUV
Dr. Stefan Hussy ist seit 2019 Hauptgeschäftsführer der DGUV. Im Sommer 2025 geht er in den Ruhestand. ©DGUV

Sie haben also nicht die Sorge, dass Prävention und Rehabilitation angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Deutschland ins Hintertreffen geraten könnten?

Hussy: Für die Unfallversicherung sage ich klar: Nein. Rehabilitation mit allen geeigneten Mitteln ist etwas, das uns als gesetzliche Unfallversicherung neben der bereits angesprochenen Prävention ausmacht. DGUV, die Unfallversicherungsträger und die BG Kliniken stehen damit für etwas Einzigartiges. Wir stellen immer wieder fest, dass sich Rehabilitation mit allen geeigneten Mitteln wirtschaftlich rechnet.

Und in der Prävention?

Hussy: Auch die Prävention ist und bleibt wichtig. Sie ist unser Alleinstellungsmerkmal, insbesondere durch die Branchenorientierung und Betriebsnähe. Sie muss aus meiner Sicht aber den technologischen Wandel noch stärker annehmen als bislang. Das betrifft zum Beispiel die Nutzung künstlicher Intelligenz, um Beratung und Besichtigungen der Unternehmen zu steuern, gilt aber auch für Angebote, die die Unfallversicherung zur Verfügung stellt. Ich denke da an das Vorschriften- und Regelwerk, das wir nicht nur digitalisieren, sondern für das wir auch einen Chatbot bereitstellen wollen. Dieser soll pragmatische und praktische Antworten auf Fragen zum Arbeitsschutz geben.

Wir müssen uns aber auch immer wieder die Frage stellen, wie wir das Vorschriften- und Regelwerk möglichst bürokratiearm und verständlich gestalten können. Wo passen unsere Vorgaben und wo schießen wir über das Ziel hinaus bei der Konkretisierung des Regelwerks?

Sind wir vielleicht sogar zu weit gegangen? Zu den Präventionsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung gehören ja Beratung und Überwachung.

Hussy: Überwachung ist wichtig. Ein Argument, warum uns die Schließung des Dienstordnungsrechts Sorgen gemacht hat, …

… das sogenannte DO-Recht verlieh den Aufsichtspersonen einen dem Beamtenrecht ähnlichen Status …

Hussy: … war ja, dass wir hoheitlich tätig sind. Dieses unterschiedliche Portfolio, das wir haben, dass wir beraten, aber dass wir auch überwachen, dass wir anordnen und dass wir Bußgelder verhängen können, dieses Portfolio ist ganz wichtig für die Gesamtschau dessen, was die Unfallversicherung ausmacht in ihrer Prävention. Aber: Mit Vorschriften kann ich nur ein bestimmtes Sicherheitsniveau erreichen. Wenn ich weiterkommen will, muss ich die Kultur in den Unternehmen verändern. Das beginnt damit, dass wir die Sinnhaftigkeit von Prävention vermitteln. Das können Sie nicht nur durch Überwachung erreichen. Dazu brauchen Sie auch noch die anderen Präventionsleistungen. Diese Klaviatur, auf der wir spielen können, die macht uns einzigartig als Unfallversicherung.

Das heißt, aus Ihrer Sicht haben wir schon eine gute Balance gefunden?

Hussy: Balance ist nichts Statisches – die Rahmenbedingungen ändern sich ja immer wieder. Die Balance in der Prävention muss immer in die jeweilige Zeit passen; auch zu den Erwartungen einer Gesellschaft, wie konkret die Vorgaben sein sollen. Balance ist aber auch eine Frage des Menschenbildes, das meinen Umgang mit den Unternehmen charakterisiert. Wenn ich davon ausgehe, dass Unternehmerinnen und Unternehmer ihre Beschäftigten mögen und ihnen nichts Böses wollen – und meine ehrliche Erfahrung ist in der Mehrzahl der Fälle: „Das ist so“ –, dann muss ich auch Vertrauen in sie haben. Das gilt nicht nur für die Unfallversicherung, sondern insgesamt für die Gesellschaft.

Das bedeutet?

Hussy: Vertrauen in Unternehmensführung und Menschen zu haben, bedeutet, dass ich sie nicht durch bis ins Detail ausformulierte Vorschriften gängle, sondern Gestaltungsspielraum gebe.

Wir haben den Ansatz des Begleitens, Beratens, Betreuens systematisch entwickelt. Heute geht es eher darum, die Arbeitgebenden in ihrer Fürsorgepflicht zu unterstützen. Da hat sich vom Mindset her sehr viel geändert.

Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die DGUV als Verband für solche Entwicklungen?

Hussy: Die DGUV als Spitzenverband vertritt die Interessen der Unfallversicherung gegenüber politischen Gremien. Sie ist die Stimme der gesetzlichen Unfallversicherung. Wenn ich sehe, dass wir unseren Themen immer wieder Gehör verschaffen konnten – sei es während der Coronapandemie oder beim Thema Gewalt –, dann zeigt das, dass wir die gesetzliche Unfallversicherung als kompetente Ansprechpartnerin positionieren können, die auch so wahrgenommen wird. Das sage ich ganz selbstbewusst.

Als DGUV sind wir gleichzeitig aber auch Dienstleister für unsere Mitglieder. Das alles haben wir in unserer Strategie 2029 sehr genau beschrieben, und deswegen habe ich das Thema Strategie und Führung im Verband sehr stark vorangetrieben. Unsere Mitglieder, aber auch das Ehrenamt und die Beschäftigten wissen sehr genau, was die DGUV ist und wofür sie steht.

Gibt es Bereiche, in denen Sie gerne weitergekommen wären?

Hussy: Die Themen Zukunft und Strategie sind mir sehr wichtig. Das zeigt sich in unserer Strategie und den Zukunftstrends, mit denen wir uns in Workshops der Selbstverwaltung und der Geschäftsführerkonferenz auseinandergesetzt haben.

Dieses Denken über das Morgen hinaus – was bei einer Organisation, die dieses Jahr 140 Jahre wird ist, nicht fernliegt –, das ist etwas, das ich gerne noch verstärkt gesehen hätte. Ich stelle fest, dass das mit den Mitgliedern sehr gut klappt, dass wir auf der Ebene der Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen eine sehr gute, stetige Zusammenarbeit haben.

Auch die Selbstverwaltung hat sich in Workshops mit grundsätzlichen Fragen befasst, für die die Unfallversicherung Antworten finden muss. Diese Betrachtungen aus den Perspektiven von Ehrenamt und Hauptamt ergänzen sich und sind eine gute Basis für die Zukunft der Unfallversicherung.

Wo sehen Sie die Herausforderungen für die Zukunft?

Hussy: Ein Thema, das sicherlich bleibt, ist die Digitalisierung. Wir haben viel erreicht in den vergangenen Jahren, aber wir müssen noch schneller und mutiger werden, wenn wir nicht ins Hintertreffen geraten wollen. Das zeigt mir der Blick über den Tellerrand. Andere Länder digitalisieren mit einer Dynamik, mit der wir nicht gewohnt sind zu agieren.

Wichtiger als die konkreten Herausforderungen erscheint mir aber, dass wir ein Fundament haben, auf dem wir stehen. Dieses Fundament ist das SGB VII, das ist unsere Satzung, und ich hoffe auch, dass sich Themen wie die Strategie 2029 weiterentwickeln.

Sie würden also sagen: Das Fundament ist 140 Jahre alt, aber es trägt?

Hussy: Ob es trägt, hängt vom Umgang der Akteure miteinander ab. Stark sind wir dann, wenn Ehrenamt und Hauptamt gemeinsam Themen aufgreifen, bearbeiten und lösen. Die Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts ist ein Beispiel hierfür, aber auch in einigen anderen Punkten hat die Selbstverwaltung bei uns einen enormen Gestaltungsspielraum, viel größer als in anderen Sozialversicherungszweigen.

Unsere Selbstverwaltung hat gezeigt, dass sie lösungsorientiert, konsensorientiert und orientiert an ihren Aufgaben, nämlich dem Schutz der Versicherten und der Wahrung der Interessen der Unternehmen, ausgerichtet ist. Entscheidungen sind hierbei häufig ein Kompromiss und entstehen im Regelfall durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Hauptamt. Auf dieser Basis können wir uns jeder Herausforderung stellen.

Gemeinsame Positionen zu finden, kann uns sehr schnell gelingen. Das zeigen Beispiele wie unsere Position „Keine Gewalt bei der Arbeit und im Ehrenamt“, zur Cannabis-Legalisierung und zum Angriff auf die Ukraine.

Mit solchen Positionen mischt sich die Unfallversicherung in gesellschaftliche Debatten ein. Soll, muss Sozialversicherung das aus Ihrer Sicht tun?

Hussy: Wir sind als Sozialversicherung ein wichtiger Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Wir sind außerdem ein wichtiges Element sozialer Stabilität. Es steht uns nicht zu, uns parteipolitisch zu äußern oder vereinnahmen zu lassen, aber uns zu Themen zu äußern, die uns und unser Land ausmachen, halte ich für richtig und wichtig. Unser Grundgesetz ist ein wertvoller Schatz. Auch die Sozialversicherung muss für die Werte des Grundgesetzes einstehen. Idealerweise tun das alle Sozialversicherungszweige gemeinsam.

Eine persönliche Frage zum Abschluss: Was planen Sie für den kommenden Lebensabschnitt?

Hussy: Mehr Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden verbringen. Das ist in den Jahren des Pendelns nach Bonn, Mannheim und Berlin etwas zu kurz gekommen, und ich freue mich, das nun ändern zu können. 

Herr Dr. Hussy, wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte Stefan Boltz.

Dr. Stefan Hussy ist seit 2019 Hauptgeschäftsführer der DGUV. Im Sommer 2025 geht er in den Ruhestand. Der promovierte Ingenieur begann seine berufliche Laufbahn in der Stahlindustrie, bevor er 1993 als Aufsichtsperson zur (damaligen) Norddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft wechselte. Es folgten Positionen als Präventionsleiter des Gemeinde-Unfallversicherungsverbands Hannover/Landesunfallkasse Niedersachsen und bei der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW), wo er ab 2016 Mitglied der Geschäftsführung war.