Ein Beispiel für die erfolgreiche Arbeit der Selbstverwaltung

Vor 100 Jahren wurde die erste Berufskrankheiten-Verordnung verabschiedet. Von damals elf ist die Zahl auf aktuell 85 Erkrankungen in der Berufskrankheitenliste gestiegen. Diese Fortschreibung hat die Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen erfolgreich begleitet, zuletzt mit dem „Weißbuch zur Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts“.

Im Jahr 1925 wurde die Zuständigkeit der gesetzlichen Unfallversicherung auf Berufskrankheiten ausgeweitet. Vor dem Hintergrund der Reichsversicherungsordnung (RVO) waren zwei Modelle diskutiert worden: Sollte man eine Generalklausel einführen, oder könnte ein Listensystem die Berufskrankheiten erfassen und differenzieren? Der Reichstag entschied sich zugunsten des Listensystems, das bis heute Bestand hat. Die erste BK-Liste enthielt elf Erkrankungen in Bergbau und Gewerbe, wie zum Beispiel Erkrankungen durch Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen, Benzol oder Teer. Schon 1929 kamen weitere zehn Berufskrankheiten hinzu, darunter die „schwere Staublungenerkrankung“ (Silikose). Begleitend wurde das Silikose-Forschungsinstitut gegründet, aus dem das heutige Institut für Prävention und Arbeitsmedizin der DGUV (IPA) hervorgegangen ist.

Diese Parallelität der Entwicklungen weist bereits auf das Prinzip „Alles aus einer Hand“ hin: von Forschung und Prävention bis zu Rehabilitation und Nachsorge. Die Selbstverwaltung verkörpert dieses Prinzip. Sie steht für Eigenverantwortung, aber auch für die Fähigkeit, sich wandelnden Anforderungen zu stellen und dafür neue, adäquate Lösungen zu finden.

In der gesetzlichen Unfallversicherung beeinflusst die Selbstverwaltung nicht nur die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen zur Prävention, Rehabilitation und zum Beitragsrecht. Sie nimmt auch Einfluss auf das Recht der Berufskrankheiten. Dass sich dieses Recht in nunmehr 100 Jahren bewährt hat, ist auch ihr Verdienst. Denn sie hat darauf hingewirkt, dass sich verändernde Gesundheitsrisiken bewertet und berücksichtigt wurden.

Die vorläufig letzte Wegmarke in diesem Prozess hat der Bundestag im Mai 2020 gesetzt. Damals beschloss er mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (7. SGB IV-ÄndG) die Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts. Zum 1. Januar 2021 traten die neuen Regelungen in Kraft.

Zuvor hatten sich alle relevanten Gruppen an Reform-Überlegungen beteiligt: Vertreterinnen und Vertreter der Sozialpartner, Parteien, Bund und Länder. Die Unfallversicherung hatte selbst auf den Ebenen der Selbstverwaltung und Verwaltung analysiert, wo bisherige Regelungen Probleme bereiten und wie zukunftsweisende Lösungen aussehen könnten. Ende 2016 war es so weit: Berufsgenossenschaften und Unfallkassen legten auf der Grundlage von Beschlüssen der Selbstverwaltung in einem „Weißbuch zur Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts“ ihre Vorschläge vor. Sie sollten auf der Basis bestehender Regelungen das Berufskrankheitenrecht weiterentwickeln und an die veränderten Bedingungen der Arbeitswelt anpassen.

Das Weißbuch der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat den Gesetzgeber überzeugt, er hat die Vorschläge des Weißbuches in weiten Teilen aufgegriffen. Für das System der gesetzlichen Unfallversicherung insgesamt und für das Ehrenamt im Besonderen war dies eine schöne Bestätigung der eigenen Arbeit. An die wichtigsten Neuerungen des Weißbuches[1] sei hier nur in Stichpunkten erinnert:

  • Der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten (ÄSBV) wurde rechtlich verankert mit dem Ziel, mehr Rechtssicherheit und Transparenz zu schaffen. Der ÄSVB berät das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bei der Entscheidung, welche Krankheiten in die Berufskrankheitenliste aufgenommen werden. Wenn seine Prüfung ergibt, dass eine Krankheit die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII erfüllt, empfiehlt er, sie in die Liste aufzunehmen, und erstellt hierzu eine wissenschaftliche Begründung.
  • Der Ausbau der Berufskrankheiten-Forschung wurde beschlossen.
  • Der Unterlassungszwang, aufgrund dessen in der Vergangenheit einige Erkrankungen nur dann als Berufskrankheit anerkannt werden konnten, wenn die schädigende Tätigkeit aufgegeben werden musste und auch aufgegeben wurde, fiel weg und im Gegenzug wurden Maßnahmen zur Individualprävention gestärkt.
  • Maßnahmen zur Erleichterung der Ermittlung krankheitsverursachender Einwirkungen insbesondere bei lange zurückliegenden Einwirkungen wurden beschlossen.
  • Das Gesetz schuf eine einheitliche Rückwirkungsregelung für neu in die Berufskrankheitenliste aufzunehmende Erkrankungen und sorgte dadurch für mehr Rechtssicherheit.

Wie haben sich die 2020 beschlossenen Veränderungen ausgewirkt? Wie machen sie sich für Versicherte und Unternehmen bemerkbar? Antworten auf diese Fragen erwarten wir im kommenden Jahr mit dem ersten Evaluationsbericht zu den Weiterentwicklungsmaßnahmen. Wir hoffen natürlich, dass wir unserem Ziel, das Berufskrankheitenverfahren transparenter zu machen und seine Rahmenbedingungen zu verbessern, einen Schritt näher gekommen sein werden.

Die Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts zeigt exemplarisch, wie Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter die gesetzliche Unfallversicherung zum Wohl von Versicherten in Betrieben, Schulen, in der Ausbildung und im Ehrenamt gestalten können. Der Prozess war gekennzeichnet von vielen Diskussionen und dem Bemühen, alle beteiligten Gruppen zu hören und einzubeziehen. Das kostete Zeit und Geduld. Aber genau dieser Prozess des einander Zuhörens, des Abwägens und Aushandelns von Interessen bildet die Basis erfolgreicher Arbeit innerhalb der Selbstverwaltung. Das gilt umso mehr, als es in der Unfallversicherung oft um komplexe Themen geht, die entschieden werden müssen. Auch dafür ist das Berufskrankheitenrecht ein gutes Beispiel.

Die Umsetzung der Vorschläge aus dem Weißbuch in geltendes Recht kann deshalb nicht hoch genug wertgeschätzt werden. Sie zeigt den Erfolg des – manchmal auch mühsamen – Ringens um die beste Lösung, den guten Kompromiss innerhalb von Gremien, die eine enge Verbindung haben zu dem System, das sie vertreten. Durch diese Erfahrung in ihrer Wirksamkeit bestärkt, ist es auch in Zukunft das Ziel der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter, die Herausforderungen der gesetzlichen Unfallversicherung eigenverantwortlich zu lösen und das System auch weiterhin für die Zukunft gut und erfolgreich aufzustellen.