100 Jahre Berufskrankheiten aus richterlicher Sicht
Berufskrankheiten (BKen) sind seit kurz nach ihrer Einführung vor 100 Jahren durch die „Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten“ vom 12. Mai 1925 (RGBl. I S. 69) Gegenstand richterlicher Entscheidungen. Der Beitrag will die Bedeutung von BKen für die richterliche Praxis aufzeigen.
Im Unterschied zur Verwaltung werden in den gerichtlichen Statistiken BKen nicht gesondert erfasst, sondern sind in den nur allgemein erfassten Verfahren zur gesetzlichen Unfallversicherung enthalten. Es sind also keine genauen quantitativen Angaben über die Häufigkeit von BK-Verfahren oder ihre Bedeutung bei den Gerichten möglich. Möglich sind nur mittelbar Rückschlüsse.
Quantitatives
Bezogen auf das Reichsversicherungsamt (RVA) führt die Durchsicht seiner Amtlichen Nachrichten für die Jahrgänge 1925 bis 1935 nur zu zwei Entscheidungen über BKen. Eine Auswertung der bei juris veröffentlichten Urteile des durchgehend und zumeist allein für Streitigkeiten aus der allgemeinen gesetzlichen Unfallversicherung zuständigen 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) für die Jahre von 1960 bis 2020 in Zehnerschritten zeigt folgenden Befund: Von allen veröffentlichten Urteilen betrafen Streitigkeiten um die Feststellung einer BK oder die Gewährung von Leistungen aufgrund einer BK in den ersten Jahrzehnten von 1960 bis 1990 nur jeweils wenige, nicht mehr als zehn Prozent aller Urteile. Einen gewissen Anstieg zeigen die Jahre 2000 und 2010 mit zuletzt fast 40 Prozent der Urteile, während im Jahr 2020 von den 15 Urteilen nur eines ein solches BK-Verfahren betraf.[1]
Diese begrenzte Bedeutung von BK-Verfahren für die richterliche Tätigkeit wird gestützt durch die Auswertung von allgemeinen, überblicksartigen Veröffentlichungen von Richtern des 2. Senats des BSG: In dem im Jahr 1973 veröffentlichten Vortrag von Brackmann, der schon beim RVA tätig und ab 1954 bis 1980 Vorsitzender des Unfallsenats am BSG war, über „Die gesetzliche Unfallversicherung im Wandel der Zeiten“ zum 25-jährigen Bestehen der Arbeitsgemeinschaft der Bau-Berufsgenossenschaften kommen die BKen nicht vor.[2]
20 Jahre später in einem Beitrag von Krasney, der in den 1960er-Jahren zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 1971 Richter und schließlich ab 1980 bis Ende 1996 Vorsitzender des 2. Senat des BSG war, über „Die gesetzliche Unfallversicherung – Bestand und Wandel in mehr als 100 Jahren“[3] über sieben Seiten werden BKen kurz auf der letzten halben Seite abgehandelt. Im Jahr 2021 widmen Spellbrink, ab 2012 Richter und ab 2016 bis 2022 Vorsitzender des 2. Senats, und Karmanski, Richter des 2. Senats, in ihrem zweiteiligen Beitrag „Die Gesetzliche Unfallversicherung in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts“[4] über insgesamt 21 Seiten circa zwei Seiten den BKen – also rund zehn Prozent.
Qualitatives
BK-Verfahren gehören innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit mit zu den schwierigsten Verfahren. Ihre Bearbeitung stellt für Richterinnen und Richter oftmals eine besondere Herausforderung dar. Denn als Richterin oder Richter ist man im Unterschied zu den spezialisierten BK-Sachbearbeitenden bei den Unfallversicherungsträgern aufgrund des Fachkammer-/Fachsenatsprinzips allenfalls sachkundig im Bereich gesetzliche Unfallversicherung, nicht aber hinsichtlich BKen.
BK-Verfahren sind oft gekennzeichnet durch eine Gemengelage von juristischen, medizinischen und technischen Fragen zu
- den unterschiedlichen Bezeichnungen der Listen-BKen sowie deren Abgrenzung von den Wie-BKen,
- den schwierigen Kausalitätsfragen zwischen den besonderen Einwirkungen, denen eine bestimmte Personengruppe infolge ihrer versicherten Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt war, und der Krankheit,
- der Konkretisierung dieser Einwirkungen hinsichtlich ihrer Art und ihres Ausmaßes sowie
- dem Erkrankungsverlauf und dem Krankheitsbild.
Diese Aspekte sind entscheidend für die Kausalitätsbeurteilung (vgl. § 9 Abs. 1 bis 3 Sozialgesetzbuch – SGB – VII).[5] Weitere Probleme können sich ergeben aus der oft langen Latenzzeit zwischen den Einwirkungen und dem Auftreten der Erkrankung, wie bei den Asbest-BKen, sowie dem Zusammenwirken mehrerer versicherter und unversicherter Einwirkungen bei der Verursachung einer Krankheit, wie bei der Synkanzerogenese.[6]
Gerichtspraxis
Diese Schwierigkeiten auf der abstrakt-theoretischen Ebene setzen sich bei der praktischen Arbeit im Einzelfall fort: Die Informationsmöglichkeiten für Richterinnen und Richter zu den einzelnen BKen sind zwar heute im Zeitalter des Internets ungleich besser als noch Anfang der 1990er-Jahre. Dennoch kann sich die oder der Einzelne nicht in alle technischen und medizinischen Fragen einarbeiten, zumal der Umfang der Informationen zugenommen hat.[7]
Die Ermittlungsmöglichkeiten nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind denkbar weit und umfassen neben der Einholung von „Auskünften jeder Art“ die Anhörung von Beteiligten, Vernehmung von Zeugen, Einholung von Gutachten, Einnahme des Augenscheins vor Ort, also zum Beispiel eine zeitaufwendige Besichtigung des Arbeitsplatzes (vgl. § 106 Abs. 3 SGG). Beschränkungen im Rahmen der Ermittlungen, wie sie für die Unfallversicherungsträger gelten (vgl. § 199 Abs. 3, § 200 SGB VII), unterliegen die Richterinnen und Richter nicht.
Voraussetzung ist freilich ein Überblick über die aufgezeigte Gemengelage, um die richtigen Ermittlungen durchzuführen und zum Beispiel Sachverständige zu finden und auszuwählen.[8] Die Probleme, die richtigen Sachverständigen in schwierigen BK-Verfahren zu finden, sind trotz Zunahme der einschlägigen Regelungen über Sachverständige (vgl. § 118 Abs. 1 SGG, §§ 402 bis 413 Zivilprozessordnung – ZPO) seit Jahrzehnten unverändert: Wer ist überhaupt einschlägig fachkompetent und wissenschaftlich ausgewiesen sowie hinreichend neutral und unabhängig, um die von mir als Richter zu treffende und zu verantwortende Entscheidung auf ihre oder seine Aussage stützen zu können? Eine gewisse Nähe der Sachverständigen zum beklagten Unfallversicherungsträger ist oft nicht zu vermeiden, denn wissenschaftliche Forschung lebt vom Austausch und die Gewinnung neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere zur Fortentwicklung des BK-Rechts gehört zu den gesetzlichen Aufgaben der Unfallversicherungsträger (§ 9 Abs. 8 SGB VII). Und zu bestimmten Erkrankungen gibt es bundesweit nur drei oder vier wirklich kompetente, wissenschaftlich ausgewiesene Personen mit Sachverstand, von denen gegebenenfalls schon eine im Verwaltungs- und eine weitere im Widerspruchsverfahren tätig war.
Sind darüber hinaus Ermittlungen zu Art und Ausmaß der Einwirkungen erforderlich, ist die lange Dauer eines BK-Verfahrens vor Gericht über Jahre hinweg schon in einer Instanz oftmals vorprogrammiert. Ein gegebenenfalls aufgrund dieses Umstands nicht zu vermeidender Richterwechsel führt aufgrund der notwendigen Einarbeitungszeit ebenfalls in der Regel zu einer Verzögerung.
BK-Verfahren ist nicht gleich BK-Verfahren: Während Verfahren um die „Massen-BKen“[9] wie die BK-Nr. 2301 Lärmschwerhörigkeit oder die BK-Nr. 5101 Hautkrankheiten mehr oder weniger nach bestimmten Schemata abgearbeitet werden können, ist dies bei selten vorkommenden oder bei neuen BKen nicht so. Besondere Schwierigkeiten stellen sich, wenn die Grundlagen für die Feststellung der jeweiligen Listen-BK unklar oder umstritten sind, zum Beispiel ab welchem Ausmaß der Einwirkungen der Ursachenzusammenhang mit der Krankheit nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu bejahen ist. Hierbei handelt es sich um die Frage nach einer sogenannten generellen Tatsache über den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, die am Sozialgericht X nicht anders zu beantworten ist als am Sozialgericht Y und die gegebenenfalls vom BSG festgestellt werden kann.[10]
Aktuelles
Von den letztlich doch zahlreichen Entscheidungen über die 100 Jahre hinweg waren manche von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung des BK-Rechts.[11]
Aktuell wird die Entscheidung des BSG vom 22. Juni 2023 zu psychischen BKen verstärkt erörtert, nach der die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) eine Krankheit ist, die wegen der besonderen Einwirkungen, denen Rettungssanitäter und Rettungssanitäterinnen gegenüber der übrigen Bevölkerung ausgesetzt sind, die allgemeinen Voraussetzungen für die Anerkennung als Wie-BK bei dieser Personengruppe erfüllt.[12] Von der Aussage als solcher abgesehen, beinhaltet das Urteil in der Sache jedoch wenig Neues, denn dass wiederholte traumatische Ereignisse zu einer PTBS führen können, dürfte heute als Alltagswissen gelten.[13] Zu den oben aufgezeigten entscheidenden Fragen in BK-Verfahren hinsichtlich der Art und des Ausmaßes der versicherten besonderen Einwirkungen, dem Erkrankungsverlauf, dem konkreten Krankheitsbild und den Maßstäben zur Beurteilung des Kausalzusammenhangs zwischen Einwirkungen und Krankheit vor dem Hintergrund möglicher konkurrierender Ursachen enthält das Urteil allerdings fast nichts. Vielmehr wurde das Verfahren zurückverwiesen und sein Fortgang ist nicht allgemein bekannt.
Dass nicht nur dieses Verfahren, sondern BK-Verfahren an sich für die zuständigen Richterinnen und Richter häufig besondere Herausforderungen darstellen, dürfte daher auch in Zukunft gelten, aber das macht sie auch interessant.