100 Jahre Berufskrankheiten-Verordnung – die Geschichte der Berufskrankheiten

Beim Vorliegen aller Voraussetzungen können mit Stand heute 85 Erkrankungen nach der Berufskrankheitenliste anerkannt werden. Bis dahin war es ein langer Weg, der bereits im 17. Jahrhundert begann.

Unter die heutigen Berufskrankheiten fallen so unterschiedliche Gruppen wie Erkrankungen der Atemwege, durch Infektionserreger oder durch chemische sowie physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten. Die meisten von ihnen sind schrittweise durch neue arbeitsmedizinische Erkenntnisse in die Liste[1] aufgenommen worden. Schon in der ersten Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) vom 12. Mai 1925 waren beispielsweise Erkrankungen durch Blei, Quecksilber, Arsen beziehungsweise ihre Verbindungen oder die Wurmkrankheit der Bergleute aufgeführt.[2] Betrachtet man die aktuelle Berufskrankheiten-Statistik, spielen diese Erkrankungen mit jährlichen Meldezahlen und Anerkennungen im Bereich von null bis drei Erkrankungsfällen keine Rolle. Dagegen sind die Infektionskrankheiten (BK-Nr. 3101) mit 54.199 anerkannten Erkrankungsfällen (2023) heutzutage Spitzenreiter der Statistik, was überwiegend auf die Covid-19-Pandemie der vergangenen Jahre zurückzuführen ist. Auch Krankheiten wie die Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) mit 7.609 und die Asbestose (BK-Nr. 4103) mit 954 anerkannten Fällen finden sich in der Erhebung von 2023 weit oben.[3] Ist also die heutige BKV ausschließlich ein Instrument der Rechtsanwendung der gesetzlichen Unfallversicherung oder in Teilen ein historisches Zeugnis der frühen Sozialversicherung?

Ein kurzer Streifzug durch das Industriezeitalter und die Entstehungsgeschichte der „Gewerbemedizin“[4] kann diese Frage vielleicht beantworten.

Die Entstehung von Arbeitsmedizin und Sozialversicherung

Schon lange bevor überhaupt an Sozialversicherung und Arbeitsschutz zu denken war, beschäftigte sich im ausgehenden 17. Jahrhundert der italienische Mediziner Bernardino Ramazzini (1633–1714) mit den „Krankheiten der Künstler und Handwerker“.[5] Er beschrieb mehr als 50 spezifische Erkrankungen verschiedener Berufe wie die Tuberkulose der Bergleute, die Bleivergiftung der Töpfer oder die Augenleiden der Drucker. Mit seiner Schrift, die um 1780 in mehreren Auflagen auch auf Deutsch erschien, legte er die Grundlagen für spätere arbeitsmedizinische Forschungen und Erkenntnisse. Ramazzini gilt daher als „Vater der Gewerbemedizin“.[6]

Die Bedeutung beruflich bedingter Erkrankungen nahm im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die industrielle Revolution und deren Folgen zu. Die Bevölkerung wuchs und in den Städten bildete sich eine am Rande des Existenzminimums lebende Industrie-Arbeiterschaft. Der Anteil der Beschäftigten in Industrie, Bergbau und Baugewerbe im Deutschen Reich stieg zwischen 1882 und 1907 von 35,51 auf 42,75 Prozent an.[7] Im Zuge dessen vermehrten sich hygienische und gesundheitliche Probleme in den Betrieben, insbesondere in der chemischen und der Metallindustrie. Die dadurch entstandenen gesellschaftlichen Spannungen führten im Kaiserreich zur sozialen Gesetzgebung Bismarcks. Mit Einführung der Sozialversicherungen und der Gründung der Berufsgenossenschaften als Träger der gewerblichen gesetzlichen Unfallversicherung ab 1884 konnten einige soziale Härten abgemildert werden. Allerdings waren berufsbedingte Erkrankungen noch nicht Gegenstand des Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884.[8] Erst in den Beratungen zur Neufassung des Sozialversicherungsrechts um 1910 wurde die Einbeziehung der Berufskrankheiten diskutiert. Die Reichsregierung eröffnete daher in der neuen Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 19. Juli 1911 lediglich eine Möglichkeit zur Aufnahme von Berufskrankheiten in das Unfallversicherungsrecht. Nach § 547 RVO konnte der Bundesrat eine entsprechende Ausdehnung beschließen, die Ausgestaltung der einzelnen Berufskrankheiten sollte durch ministerielle Verordnung erfolgen.[9] Das Fundament des Berufskrankheitenrechts war mit der RVO von 1911 gelegt.

Prävention vor dem Ersten Weltkrieg

Die Entschädigung zahlreicher berufsbedingter Erkrankungen, vor allem von Vergiftungen durch chemische Stoffe, konnte gleichwohl durch die Gleichstellung mit Arbeitsunfällen erreicht werden, wenn die schädigende Einwirkung während einer Arbeitsschicht eingetreten war. Die beruflich verursachten Erkrankungen auch der jüngeren Beschäftigten stellten dabei ein besonderes Problem dar: Den militärischen Stellen fiel vermehrt der schlechte Gesundheitszustand der Rekruten aus den Industrieregionen auf. Im preußisch-militaristisch geprägten Kaiserreich bedeutete dies eine Schwächung der Wehrfähigkeit, der mit staatlichen Mitteln entgegengewirkt werden sollte. Staatliche Gewerbemediziner sowie Werksärzte wirkten auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch präventive Maßnahmen hin. Zahlreiche Erkrankungen und ihre Ursachen wurden von Gewerbemedizinern dokumentiert, sodass sich schon vor dem Ersten Weltkrieg Hinweise auf überwiegend berufsbedingte Krankheiten verdichteten.

Der Erste Weltkrieg brachte für die Industrie und den Arbeitsschutz große Veränderungen und Herausforderungen. Vor allem die chemische und die Metallindustrie wuchsen durch die Rüstungsproduktion erheblich an. Gleichzeitig fehlten durch Einziehung eines großen Teils der männlichen Arbeiterschaft zum Kriegsdienst viele Fachkräfte, die durch ungelernte Kräfte wie Frauen und Kriegsgefangene ersetzt wurden. Besonders in der Sprengstoffherstellung traten vermehrt Krankheits- und Todesfälle auf, sodass auf Betreiben der Sozialdemokraten gegen Kriegsende eine Ausweitung der Unfallversicherung auf diesem Gebiet erfolgte. Damit war zwar eine spezielle Regelung für bestimmte Erkrankungsfälle getroffen worden, eine Öffnung des Unfallversicherungsrechts hin zur Entschädigung von Berufskrankheiten konnte indes noch nicht erreicht werden.[10]

Die Einführung der Berufskrankheitenliste

In den Wirren der frühen Weimarer Republik mit Revolutionsfolgen, wirtschaftlicher Not und Konsolidierung eines neuen Staatswesens standen besondere Fragen des Unfallversicherungsrechts zunächst nicht im Vordergrund. Erst nach Beendigung der wirtschaftlich auszehrenden Hyperinflation konnte das Thema Berufskrankheiten erneut aufgegriffen werden. Im September 1924 erfolgten darüber Beratungen beim Verband der Berufsgenossenschaften. Vertreter der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie befürworteten die Einführung einer Berufskrankheitenliste (BK-Liste) aufgrund der Erfahrungen und Erkenntnisse ihrer Gewerbeärzte. Eine Liste von chemischen Gewerbekrankheiten wurde daher als Vorschlag zur Einführung einer Berufskrankheiten-Verordnung vorgelegt. Der Schwerpunkt der am 12. Mai 1925 beschlossenen Berufskrankheiten-Verordnung lag insofern auf Erkrankungen durch chemische Einwirkungen.[11] Die Liste der anerkennungsfähigen Berufskrankheiten enthielt zunächst nur einige Krankheiten, bei denen ein Zusammenhang zur beruflichen Einwirkung nahezu offenkundig nachweisbar war. Hinsichtlich der Art der Erkrankungen wurde überwiegend auf genaue Krankheitsbilder verzichtet und lediglich der jeweils verursachende Gefahrstoff genannt.[12] Die erste BKV beinhaltete außerdem Leistungen an Versicherte, die ihre Tätigkeit aufgeben mussten, weil die Gefahr des Entstehens, Wiederauflebens oder Verschlimmerns einer Berufskrankheit bestand. Jedoch unterlagen der Versicherung zu dieser Zeit nur Beschäftigte bestimmter Betriebe mit besonderer Gefährdung.

Die Berufskrankheitenliste löste eine breite Fachdiskussion aus über die Notwendigkeit der Aufnahme weiterer „auf der Hand liegender“ Erkrankungen wie der Staublungenerkrankung der Bergleute. Nun war ein Durchbruch gelungen, der schon bald Erweiterungen der BK-Liste nach sich zog. Es hatte sich gezeigt, dass die Anzahl von und die Aufwendungen für Berufskrankheiten überschaubar blieben.[13] Mit der zweiten Änderung der BKV vom 11. Februar 1929 wurde die Liste um weitere elf Berufskrankheiten ergänzt, darunter die „Taubheit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit“ in Metallbetrieben, die „schwere Staublungenerkrankung“ (Silikose) im Bergbau und der Sandsteinverarbeitung sowie die Tropenkrankheiten für Beschäftigte in der Seeschifffahrt.[14]Die neuen Berufskrankheiten konnten rückwirkend für zehn Jahre anerkannt werden. Dies und die Erweiterung auf mehr Betriebe sowie auf die landwirtschaftliche und die See-Unfallversicherung verursachten einen Anstieg der entschädigten Berufskrankheiten von 323 (1927) auf 3.255 Fälle im Jahr 1930.[15]

Berufskrankheiten in der Zeit des Nationalsozialismus

Zu Anfang der 1930er-Jahre hatte sich der Versicherungsfall „Berufskrankheit“ im System der sozialen Sicherung etabliert. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich für das Berufskrankheitenrecht nicht viel, da das neue Regime kaum Ambitionen zur Änderung der gesetzlichen Unfallversicherung zeigte. Die Absicherung des „deutschen Arbeiters“ war für die NS-Machthaber ein Ziel, das sich mit den vorhandenen Strukturen der Sozialversicherung erreichen ließ. Allerdings wurde ab 1933 Druck auf die Unfallversicherungsträger ausgeübt, um jüdische sowie politisch nicht erwünschte Personen aus der Selbstverwaltung und aus den Verwaltungen zu entfernen. Mit der Einführung des „Führerprinzips“ schaffte die NS-Regierung zudem die demokratischen Strukturen der Selbstverwaltung ab.[16] Die fachliche Arbeit der arbeitsmedizinischen Forschung und die Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts wurden indes weitgehend unbeeinträchtigt bis in die Kriegszeit fortgeführt. Die „Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten“ vom 16. Dezember 1936[17] erweiterte die Liste um vier Berufskrankheiten, dabei auch die „Schwere Asbeststaublungenerkrankung“ sowie der Harnblasenkrebs der „Anilinarbeiter“, dessen Verursachung durch Farbstoffe mit aromatischen Aminen bereits 40 Jahre zuvor erstmals medizinisch dokumentiert worden war.[18]

Der Zweite Weltkrieg brachte ähnliche Probleme wie der Erste Weltkrieg: Bei einem Rückgang gelernter Fachkräfte und einem Anstieg ungelernter Arbeitskräfte, darunter Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene, wurde die Prävention zugunsten der Produktivitätssteigerung einer totalen Kriegswirtschaft zurückgedrängt. Dessen ungeachtet wurde die gesetzliche Unfallversicherung im Jahr 1942 auf weitere Personenkreise ausgedehnt, indem nicht mehr bestimmte Betriebe und ihre Angehörigen, sondern generell alle beschäftigten Personen unter Unfallversicherungsschutz gestellt wurden. Noch in der zweiten Kriegshälfte erfuhr die Liste der Berufskrankheiten eine Erweiterung um weitere Erkrankungen wie der „Asbestose in Verbindung mit Lungenkrebs“ und der Atemwegserkrankungen durch Aluminium- und Berylliumstaub.[19] Neueste arbeitsmedizinische Erkenntnisse aus Forschungen der 1930er-Jahre führten so zur Aufnahme des nach dem Krieg noch wesentlich relevanter werdenden asbestbedingten Lungenkarzinoms.

Nach Kriegsende: Ausbau und sozialpolitische Aspekte

Die Nachkriegszeit war zunächst geprägt vom Wiederaufbau und der finanziellen Konsolidierung der Unfallversicherungsträger. Erst nach Gründung der Bundesrepublik und dem Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs kam es zu neuen Entwicklungen im BK-Recht. In der Deutschen Demokratischen Republik entstand unter dem Dach des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds (FDGB) eine einheitliche Sozialversicherung, die die Unfallversicherung der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der Angestellten umfasste.[20] Diese führte die Entschädigung auf Grundlage der bisher etablierten Berufskrankheiten fort und entwickelte die BK-Liste bis zur Wiedervereinigung 1990 unter sozialen Gesichtspunkten weiter. In Westdeutschland spielten bei den erneuten BKV-Erweiterungen neben arbeitsmedizinischen Erkenntnissen ebenfalls sozialpolitische Aspekte eine Rolle. Die Aufhebung des Kriteriums der Erkrankungsschwere bei den Berufskrankheiten „Asbestose“ und „Silikose“ im Jahr 1952 und neun Jahre später die Erweiterung der lärmbedingten Taubheit um die Schwerhörigkeit führten dazu, dass mehr Betroffene gesetzliche Leistungen wegen ihrer Erkrankung erhalten konnten.[21] Inzwischen war die Zusammenarbeit zwischen arbeitsmedizinischer Forschung, unfallversicherungsrechtlicher Verwaltungsarbeit und der rechtssetzenden Tätigkeit des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) so weit gefestigt, dass in unregelmäßigen Abständen neue Berufskrankheiten in die BKV aufgenommen und bestehende Berufskrankheiten präzisiert wurden. Da zwischen dem aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand und der Aufnahme in die BKV eine längere Zeitspanne liegen kann, führte der Gesetzgeber 1963 die Möglichkeit einer Anerkennung als „Wie-Berufskrankheit“ ein. Derartige Erkrankungsfälle können seither entschädigt werden, auch wenn die Erkrankung noch nicht in die Berufskrankheitenliste aufgenommen worden ist.[22] Auch führten neue Forschungsergebnisse zur laufenden Erweiterung der Berufskrankheitenliste bis in die jüngste Zeit. Von der siebten Berufskrankheiten-Verordnung vom 20. Juni 1968[23] mit 47 Erkrankungen stieg die Zahl der anerkennungsfähigen Berufskrankheiten bis heute auf 85 an. Die derzeitige Systematik mit vierstelligem Nummernsystem entstand im Jahr 1976.[24]

Arbeitsmedizin und jüngste Entwicklungen

Des Weiteren wurde das Berufskrankheitenrecht in jüngster Zeit weiterentwickelt. So trat zum 1. Januar 2021 die „BK-Reform“ in Kraft, die den Wegfall des Zwangs zur Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit, der bei vielen Krankheiten wie der beruflich bedingten Hauterkrankung eine Voraussetzung zur Anerkennung als Berufskrankheit war, und eine Stärkung der Individualprävention beinhaltete.[25] Außerdem wurde der „Ärztliche Sachverständigenbeirat des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Sektion Berufskrankheiten“ (ÄSBV) mit seinen Aufgaben gesetzlich verankert. Der ÄSBV als medizinisch-wissenschaftliche Instanz hat eine wichtige Beratungsfunktion gegenüber der Bundesregierung hinsichtlich der Einführung neuer Berufskrankheiten.

Die Berufskrankheiten-Verordnung als historisches Zeugnis

Das Zusammenwirken von Arbeitsmedizin, gesetzlicher Unfallversicherung, Gesellschaft und Politik hat im Wesentlichen das Berufskrankheitenrecht von den Anfängen vor 100 Jahren bis in die Gegenwart gestaltet. Die BK-Liste ist auch heute ein wichtiges Instrument der gesetzlichen Unfallversicherung zur Rechtsanwendung. Sie stellt gleichfalls aufgrund des Fortschritts seit der industriellen Revolution bis zur Arbeitswelt 4.0 in Teilen ein historisches Quellendokument dar. Das zeigt sich in einigen BK-Tatbeständen, die für die Verhältnisse in früheren Arbeitswelten relevant waren, aber heute nicht mehr von Belang sind. Darüber hinaus ist die BK-Liste ein dynamisches, stetigen Entwicklungen unterworfenes Instrument der sozialen Sicherung, das auch künftigen Herausforderungen der arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gerecht werden kann.