Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts nach dem 7. SGB-IV-Änderungsgesetz

Zum Jahreswechsel sind einige Änderungen im Berufskrankheitenrecht in Kraft getreten. Dieser Beitrag stellt sie vor.

Zusammenfassung

Infolge des Siebten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 12. Juni 2020 – 7. SGB IV-ÄndG – (BGBl. I Nr. 28 S. 1248) tritt zum 1. Januar 2021 eine Reihe von Gesetzesänderungen in Kraft bezüglich der Definition, der Prävention und der Entschädigung von Berufskrankheiten. Große Bedeutung kommt dabei dem Wegfall des sogenannten „Unterlassungszwangs“ als Anerkennungsvoraussetzung bestimmter Berufskrankheiten zu. Anlass hierfür ist die Streichung der Ermächtigung in § 9 Abs. 1 SGB VII, die Entschädigung von Berufskrankheiten von der Unterlassung aller Tätigkeiten abhängig zu machen, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Negative Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Versicherten sollen zukünftig durch die Betonung des Präventionsauftrages für die Unfallversicherungsträger und die Einführung neuer Pflichten für die Versicherten zur Mitwirkung bei der Individualprävention verhindert werden. Um die Fortschreibung der Liste der Berufskrankheiten (BK-Liste) zu beschleunigen und den Prozess transparenter zu machen, soll der für die Beratung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) zuständige Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ (ÄSVB) institutionalisiert und durch die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin und Arbeitsschutz (BAuA) stärker unterstützt werden. Durch die Etablierung einer jährlichen Berichtspflicht soll die Transparenz der Forschung zu Berufskrankheiten durch die gesetzliche Unfallversicherung erhöht werden. Schließlich sollen auch die Möglichkeiten für die Unfallversicherungsträger zur Expositionsermittlung gestärkt werden. Mit den neuen Regelungen reagiert der Gesetzgeber auf die von verschiedenen Seiten seit Längerem zu diesen Punkten geäußerte Kritik[1] und greift Vorschläge[2] der DGUV auf.

Der Deutsche Bundestag hat am 12. Juni 2020 das „Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“ beschlossen. Der Gesetzgeber übernimmt darin zahlreiche Vorschläge, die im Jahr 2016 von den paritätisch durch die Sozialpartner besetzten Selbstverwaltungsorganen der DGUV im sogenannten „Weißbuch“[3] veröffentlicht wurden. Mit Inkrafttreten am 1. Januar 2021 gehen insbesondere im Recht der Berufskrankheiten weitreichende Änderungen einher.

1. Einwirkungsermittlung

Ein häufiger Kritikpunkt der bisherigen Berufskrankheitenverfahren betrifft die Ermittlung und Bewertung für die Entscheidung relevanter Einwirkungen bei der versicherten Tätigkeit (Exposition). Insbesondere bei lange in der Vergangenheit zurückliegenden Zeiten mit erkrankungsrelevanten Einwirkungen kann es zu Nachweisschwierigkeiten kommen.

Mit dem neu eingeführten § 9 Abs. 3a SGB VII werden einzelfallbezogene genauso wie systematische Ermittlungen der relevanten Einwirkungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen rechtlich verankert, wie sie auch in der Vergangenheit bereits bei Bedarf zugunsten der versicherten Personen durchgeführt wurden. Danach hat der Unfallversicherungsträger neben den bereits bislang in § 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Beweismitteln auch Erkenntnisse zu berücksichtigen, die er oder ein anderer Unfallversicherungsträger an vergleichbaren Arbeitsplätzen oder zu vergleichbaren Tätigkeiten gewonnen hat. Damit werden diese Verfahrensweisen gesetzlich verankert und Rechtssicherheit mit Blick auf die gesetzlichen Beweis- und vor allem Datenschutzanforderungen sowie auf die Duldungspflicht der Unternehmerinnen und Unternehmer bei systematischen Erhebungen an Arbeitsplätzen geschaffen. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen die Ermittlungen zu den Einwirkungen während der versicherten Tätigkeit dadurch erschwert sind, dass der Arbeitsplatz der Versicherten nicht mehr oder nur in veränderter Gestaltung vorhanden ist. Die Unfallversicherungsträger sollen darüber hinaus dazu einzeln oder gemeinsam tätigkeitsbezogene Expositionskataster erstellen. Grundlage für diese Kataster können Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen sowie aus Forschungsvorhaben sein. Außerdem können die Unfallversicherungsträger Erhebungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen durchführen. Auch damit wird eine bereits bestehende Praxis der Unfallversicherungsträger gesetzlich verankert und die Zusammenarbeit zwischen den Unfallversicherungsträgern gestärkt.

Bereits vor Inkrafttreten dieser Regelung hat die DGUV zusammen mit den Unfallversicherungsträgern eine „Handlungsempfehlung für die Ermittlung und Bewertung der Einwirkungen in Berufskrankheitenverfahren“ veröffentlicht.[4] Mit dieser werden Standards der Einwirkungsermittlung und -bewertung formuliert sowie die künftige gemeinsame Nutzung von Expositionskatastern vorbereitet. Zudem werden in einem „besonderen Teil“ zu einzelnen Berufskrankheiten spezifische Hinweise zur Ermittlung der Einwirkung gegeben und das bereits vorhandene Erfahrungswissen der Unfallversicherungsträger zusammenfassend dargestellt.

Außerdem wird eine zentrale Gruppe von Fachleuten übergreifend für alle Unfallversicherungsträger eingerichtet, die perspektivisch sogenannten „Non-liquet-Fällen“ entgegenwirken soll. Damit steht eine besondere Expertise aus verschiedenen Berufszweigen und Branchen zur Verfügung, wenn sich im Hinblick auf besondere, insbesondere weniger häufig anzutreffende Einwirkungen Beweisschwierigkeiten ergeben.

2. Wegfall des Unterlassungszwangs als Anerkennungsvoraussetzung bei Berufskrankheiten

Bislang machte der Verordnungsgeber bei neun von aktuell 80 in der Berufskrankheitenliste aufgeführten Krankheiten von der Möglichkeit des Unterlassungszwangs Gebrauch. Dies sind die BK-Nrn. 1315, 2101, 2104, 2108 bis 2110, 4301, 4302 und 5101. Unter diesen Berufskrankheiten sind mit den Hauterkrankungen, den obstruktiven Atemwegserkrankungen und den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäulen sehr anzeigenstarke Krankheitsbilder, sodass sie zusammen über ein Drittel (38 Prozent) aller BK-Verdachtsanzeigen ausmachen.[5] Allerdings zeigt ein Blick auf die Zahl der anerkannten Berufskrankheiten, dass diese Anzeigen, nicht zuletzt wegen des Unterlassungszwangs, nur in wenigen Fällen zu einer Anerkennung führen. So wurden zum Beispiel 2019 von 30.415 angezeigten Berufskrankheiten mit Aufgabezwang nur 1.184 anerkannt, was einem Anteil von unter vier Prozent entspricht.[6] Allerdings wurde in 17.108 Fällen eine berufliche Verursachung festgestellt, in denen die Anerkennung aber nicht erfolgte, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen[7] des BK-Tatbestandes nicht erfüllt waren. In diesen Fällen werden regelmäßig Leistungen nach § 3 Berufskrankheitenverordnung (BKV) zur Verhütung der Entstehung einer Berufskrankheit erbracht.

Nach der Gesetzesbegründung handelt es sich bei dem Unterlassungszwang um ein historisch überkommenes Instrument des Berufskrankheitenrechts, das heute nicht mehr erforderlich ist und dessen Auswirkungen zu unangemessenen Nachteilen für die Versicherten führen.[8] Nach allgemeiner Ansicht verfolgt der Unterlassungszwang vor allem zwei Ziele:

  1. Bagatellerkrankungen, die eine Aufgabe der schädigenden Tätigkeiten nicht rechtfertigen und für deren Schutz durch die gesetzliche Unfallversicherung kein Erfordernis gesehen wird, sind von der Entschädigung durch die gesetzliche Unfallversicherung auszunehmen.
  2. Aus Gründen der Prävention ist zu verhindern, dass Versicherte ihre Gesundheit durch ein Verbleiben am Arbeitsplatz weiter schädigen.[9]

Diese Zwecke können nach Ansicht des Gesetzgebers künftig mit anderen Maßnahmen erreicht werden. Um Verschlimmerungen zu vermeiden, soll in Zukunft die Individualprävention gestärkt und die aktive Mitwirkung der Betroffenen eingefordert werden. Der Ausschluss von Bagatellerkrankungen soll durch eine entsprechende Präzisierung der betroffenen BK-Tatbestände erfolgen.[10] Der Gesetzgeber reagiert damit auf die vielfach geäußerte Kritik am Unterlassungszwang[11] und folgt im Wesentlichen einem Vorschlag der DGUV.[12]

Dementsprechend wurden in § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII die Wörter „oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“ gestrichen. Gleichzeitig wurde dieser Passus bei den BK-Nrn. 1315, 2101, 2104, 2108-2110, 4301, 4302 und 5101 gestrichen.

Dadurch ist bei diesen BK-Nummern künftig eine Anerkennung als Berufskrankheit unabhängig von der Frage möglich, ob ein objektiver Zwang zur Tätigkeitsaufgabe vorliegt und die als schädigend identifizierte Tätigkeit auch tatsächlich aufgegeben wurde.

Gleichzeitig wurden einige dieser BK-Nummern hinsichtlich ihrer Tatbestandsmerkmale angepasst, um weiterhin Bagatellerkrankungen von der Entschädigung auszuschließen. Diese Berufskrankheiten lauten nun:

Nr. 1315: Erkrankungen durch Isocyanate

Nr. 2101: Schwere oder wiederholt rückfällige Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze

Nr. 2104: Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen

Nr. 2108: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben

Nr. 2109: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Halswirbelsäule) geführt haben

Nr. 2110: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben

Nr. 4301: Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie)

Nr. 4302: Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen

Nr. 5101: Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen

Keine Anpassung der BK-Tatbestände erfolgt bei den obstruktiven Atemwegserkrankungen. Dies wird damit begründet, dass nach der aktuellen MdE-Tabelle der für die Begutachtung dieser Erkrankungen einschlägigen „Reichenhaller Empfehlung“[13] bereits für die Frühstadien der Erkrankungen eine MdE von zehn Prozent vorgeschlagen wird. Daher sei bei diesen Krankheitsbildern nicht von einer Bagatellerkrankung auszugehen.[14] Auch bei den Erkrankungen durch Isocyanate (BK-Nr. 1315) wird auf eine Ergänzung des Tatbestandes verzichtet. Bei der BK-Nr. 5101 (Hauterkrankungen) wird darauf verwiesen, dass der Ausschluss von Bagatellerkrankungen bereits durch die bestehenden Tatbestandsvoraussetzungen „schwer oder wiederholt rückfällig“ erreicht werde.[15]

Bezüglich der BK-Nr. 2101 findet sich in der Gesetzesbegründung[16] der Hinweis, dass eine Anerkennung auch künftig nur erfolgen solle, wenn die Krankheit für die Versicherten erhebliche Auswirkungen hat. Erforderlich sei daher eine schwere Ausprägung der Erkrankung oder eine wiederholte Rückfälligkeit. Eine schwere Erkrankung in diesem Sinne liege zum Beispiel vor, wenn sie eine ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Monaten zur Folge habe. Eine wiederholte Rückfälligkeit sei mit dem dritten Auftreten der Erkrankung gegeben. Dies sei der Fall, wenn die Versicherten sich zwischen den einzelnen Erkrankungen deshalb weder in Heilbehandlung befanden noch arbeitsunfähig waren. Der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Erkrankungen sei dabei irrelevant.

Welche Kriterien künftig für das Tatbestandsmerkmal der Schwere bei den Hautkrankheiten heranzuziehen sind, wird aktuell zwischen der gesetzlichen Unfallversicherung und den Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften im Zuge der Aktualisierung der Begutachtungsempfehlung „Bamberger Empfehlung“ beraten. Dabei gehen die Überlegungen in folgende Richtung.

„Beurteilungskriterien für die ‚Schwere‘ der arbeitsbedingten Hauterkrankung im Sinne der BK-Nr. 5101 sind:

  • die klinische Symptomatik nach Morphe und Beschwerdebild, Ausdehnung, Verlauf und Dauer der Erkrankung unter Therapie- und Präventionsmaßnahmen
  • und die Ausprägung einer arbeitsbedingt verursachten Allergie.

Eine schwere Hauterkrankung im Sinne der BK-Nr. 5101 zeichnet sich durch ausgedehnte, dauerhaft bestehende oder chronisch rezidivierende Hautveränderungen mit erheblichem Krankheitswert aus, z. B. ein chronisches Ekzem mit Befall der gesamten Haut der Hände mit tiefen Rhagaden und ausgeprägter Infiltration.

Eine schwere Hauterkrankung im Sinne der BK-Nr. 5101 liegt im Regelfall dann vor, wenn durch angemessene Therapie- und Präventionsmaßnahmen keine wesentliche Besserung in einem Zeitraum von 6 Monaten zu erreichen ist. Eine angemessene Behandlung ist eine Therapie gemäß den jeweils aktuell gültigen Standards, z. B. medizinischer Leitlinien.

Eine nicht schwere Hauterkrankung im Sinne der BK-Nr. 5101 zeichnet sich z. B. durch einen begrenzten Befall der Haut und durch eine gute Besserbarkeit durch angemessene Therapie- und Präventionsmaßnahmen aus. Eine genau dokumentierte Behandlungsbedürftigkeit bringt Aufschluss über die ‚Schwere‘.

Bei einer klinisch nicht schweren Erscheinungsform kann die ‘Schwere‘ gegeben sein, wenn der Hautbefund nur durch einen erheblichen Aufwand (z. B. stationäre Therapie, systemische Therapie, ununterbrochene oder wiederholte aktive pharmakologische Therapie) bzw. andere intensivierte präventive Anstrengungen erzielt werden kann. Die regelmäßige Anwendung von basistherapeutischen Maßnahmen wird in diesem Zusammenhang nicht als aktive pharmakologische Therapie verstanden.

Die ‘Schwere‘ einer Hauterkrankung aufgrund der Ausprägung einer arbeitsbedingt verursachten Allergie kann auch angenommen werden, sofern das klinisch manifeste Krankheitsgeschehen durch die Sensibilisierung gegenüber einem nicht meidbaren Arbeitsstoff ausgelöst wird“.[17]

Bei den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule (BK-Nrn. 2108 bis 2110) wurden die Legaldefinitionen jeweils um das Tatbestandsmerkmal „die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen der Lenden- beziehungsweise der Halswirbelsäule geführt haben“ ergänzt. Nach der Gesetzesbegründung[18] soll die Ergänzung verdeutlichen, dass insbesondere Rückenbeschwerden in ihrer allgemeinen Form weiterhin keine Berufskrankheit darstellen. Dies entspricht den geltenden medizinischen Anforderungen, die seit jeher in den Merkblättern zu diesen Berufskrankheiten beschrieben werden, und bedeutet daher keine Verschärfung der bisherigen Anerkennungsvoraussetzungen.

3. Stärkung der Individualprävention

Da der Unterlassungszwang bei einigen Erkrankungen bislang auch die Gesundheit der Versicherten schützen sollte, wird die Bedeutung der Prävention künftig durch die Neufassung von § 9 Abs. 4 SGB VII  betont. Dieser Paragraf lautet dann:

„Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend. Pflichten der Unternehmer und Versicherten nach dem Zweiten Kapitel und nach arbeitsschutzrechtlichen Vorschriften bleiben hiervon unberührt. Kommen Versicherte ihrer Teilnahme- oder Mitwirkungspflicht nach Satz 3 nicht nach, können die Unfallversicherungsträger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder die Leistung einer danach erstmals festzusetzenden Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Anteil einer Rente, der auf eine danach eingetretene wesentliche Änderung im Sinne des § 73 Absatz 3 zurückgeht, bis zur Nachholung der Teilnahme oder Mitwirkung ganz oder teilweise versagen. Dies setzt voraus, dass infolge der fehlenden Teilnahme oder Mitwirkung der Versicherten die Teilhabeleistungen erforderlich geworden sind oder die Erwerbsminderung oder die wesentliche Änderung eingetreten ist. Absatz 3 und § 67 des Ersten Buches gelten entsprechend.“

Nach der Gesetzesbegründung soll mit diesen Regelungen dem Präventionsgedanken des bisherigen Unterlassungszwangs nach dessen Wegfall Rechnung getragen werden.

Zu beachten ist, dass die dort vorgesehenen Regelungen sich erfreulicherweise nicht auf die Berufskrankheiten beschränken, bei denen bisher der Unterlassungszwang vorgesehen war, sondern für alle Berufskrankheiten gelten. Dementsprechend hat der Gesetzgeber auch bewusst keine Anpassungen im Bereich des § 3 BKV vorgenommen. Die für die Durchführung individualpräventiver Maßnahmen sowohl vor als auch nach Anerkennung einer Berufskrankheit einschlägige Rechtsgrundlage des § 3 Abs. 1 und 2 BKV bleibt unverändert anwendbar. Damit besteht bei objektiver Notwendigkeit einer Tätigkeitsaufgabe weiterhin grundsätzlich ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und Übergangleistungen.

Durch das vorgesehene Zusammenwirken von Versicherten, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie Unfallversicherungsträgern soll das Ziel, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben bereits eingetretener Berufskrankheiten so weit wie möglich zu verhindern, künftig noch besser erreicht werden.

Zusätzlich werden die Unfallversicherungsträger ausdrücklich zu einer umfassenden Beratung über die mit der weiteren Ausübung der bisherigen Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen verpflichtet.

Dem steht die Pflicht der versicherten Person nach Anerkennung einer Berufskrankheit gegenüber, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken. Bisher bestanden lediglich die Pflichten aus den §§ 60 ff. SGB I zur Mitwirkung an Untersuchungen und Maßnahmen der Heilbehandlung.

Die nur auf Leistungen zur Teilhabe und Rentenleistungen beschränkten Konsequenzen einer fehlenden Mitwirkung werden damit begründet, dass die eigentliche Ursache des Gesundheitsschadens die schädigenden Einwirkungen am Arbeitsplatz seien. Daher wurden die für die Versicherten unmittelbar erforderlichen Leistungen, wie zum Beispiel Heilbehandlung oder Verletztengeld, von den Sanktionsmöglichkeiten ausgenommen. Weiterhin wurde die objektive Beweislast für den Ursachenzusammenhang zwischen der fehlenden Mitwirkung und dem Wiederaufleben oder der Verschlimmerung der Krankheit dem Unfallversicherungsträger auferlegt (vgl. § 9 Abs. 4 Satz 6 SGB VII). Damit bleiben die Sanktionsmöglichkeiten deutlich hinter den allgemeinen Regelungen bei fehlender Mitwirkung nach § 66 SGB I zurück.

Die stärkere Betonung der Präventionsaufgaben über § 3 BKV hinaus wird zur Intensivierung der bestehenden und zu weiteren Aktivitäten der Unfallversicherungsträger führen. Dabei können die langjährigen Erfahrungen aus der Prävention von Hauterkrankungen[19] genutzt und auf andere Erkrankungen übertragen werden. Dies geschieht bereits bei den Muskel-Skelett-Erkrankungen. Beispielhaft seien das Rücken- und das Kniekolleg genannt.[20] So bieten die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) für ihre Versicherten mit einschlägigen Belastungen und beginnenden Problemen ein nachhaltiges, individuelles und kostenloses Rückenprogramm in Kooperation mit Berufsgenossenschaftlichen Kliniken und Einrichtungen an. Die Versicherten erlernen dabei in einem dreiwöchigen Programm für ihre Branche spezifische rückengerechte Arbeitsabläufe. Neben berufsspezifischem Üben sind Sport- und Physiotherapien wichtige Bestandteile. Ein weiteres Beispiel ist das Präventionsprogramm der Berufsgenossenschaft für Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) für an Bäckerasthma erkrankte Versicherte, die im Beruf bleiben wollen.[21] Diese Programme gilt es zu intensivieren und auf andere für eine Prävention geeignete Krankheitsbilder zu übertragen. Daneben existieren Überlegungen, künftig zusätzliche Angebote wie zum Beispiel die Nutzung naturheilkundlicher Ansätze und Verfahren zur Salutogenese oder die Verwendung digitaler Medien wie Gesundheits-Apps als individualpräventive Maßnahmen anzubieten.

Auch die ausdrücklich im Gesetz festgeschriebene Pflicht der Unfallversicherungsträger zur umfassenden Aufklärung der Erkrankten über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen wird künftig die Aktivitäten und das Beratungsverständnis der gesetzlichen Unfallversicherung wesentlich beeinflussen. Derzeit werden Überlegungen zu krankheitsspezifischen Beratungsstandards und zur Klärung der Frage, wer in die Durchführung von individualpräventiven Maßnahmen einbezogen wird, angestellt.

So hat beispielsweise die DGUV zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) und dem Verband der Betriebs- und Werksärzte (VDBW) bereits im Zuge der Überarbeitung der „Empfehlung der Spitzenverbände der Unfallversicherungsträger, des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte und der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin über die Zusammenarbeit mit den Betriebsärzten in Verfahren zur Feststellung einer Berufskrankheit einschließlich von Maßnahmen nach § 3 BKV“[22] im Jahr 2013 eine stärkere Einbindung der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte in individualpräventive Maßnahmen der Verhältnisprävention vorbereitet. Aktuell schlagen DGAUM, der Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI), der VDBW und der Berufsverband selbstständiger Arbeitsmediziner und freiberuflicher Betriebsärzte (BsAfB) in „ASU Arbeitsmedizin – Sozialmedizin – Umweltmedizin“, 10/2020 eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den Unfallversicherungsträgern und den Betriebsärztinnen und Betriebsärzten bei allen individualpräventiven Maßnahmen vor, also auch bei Maßnahmen der Verhaltensprävention.

4. Rückwirkung

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)[23] ist eine Neuregelung grundsätzlich, sofern die einschlägige Rechtsvorschrift nichts anderes regelt, nur auf solche Sachverhalte anwendbar, die nach ihrem Inkrafttreten verwirklicht werden. Bisher wurde eine Rückwirkung von neuen oder erweiterten BK-Tatbeständen durch den Verordnungsgeber in § 6 BKV jeweils individuell geregelt. Da es sich hierbei aber um die Grundvoraussetzung für einen Leistungsanspruch handelt, wurde in der Literatur eine gesetzliche Regelung angemahnt.[24] Dem hat der Gesetzgeber mit dem neuen § 9 Abs. 2a SGB VII entsprochen und eine gesetzliche Rückwirkungsregelung geschaffen. Nach Nr. 1 dieser Vorschrift sind Krankheiten, die bei Versicherten vor der Bezeichnung als Berufskrankheit bereits entstanden waren, rückwirkend frühestens zu dem Zeitpunkt anzuerkennen, in dem die Bezeichnung in Kraft getreten ist. Für Erkrankungen, die noch nicht in der Liste der Berufskrankheiten verzeichnet sind, aber wie Berufskrankheiten nach § 9 Abs. 2 SGB VII anzuerkennen sind (Wie-Berufskrankheiten), wurde eine vergleichbare Regelung geschaffen. Diese sind nach § 9 Abs. 2a Nr. 2 SGB VII zu dem Zeitpunkt, in dem die notwendigen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse für eine Entscheidung nach § 9 Abs. 2 SGB VII vorgelegen haben, anzuerkennen; sofern der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ (ÄSVB) eine Empfehlung zur Anerkennung einer neuen Berufskrankheit beschlossen hat, ist der Zeitpunkt des Beschlusses maßgebend.

Nach dem neuen § 9 Abs. 2a SGB VII gelten die mit dem Wegfall des Unterlassungszwangs verbundenen Anerkennungserleichterungen auch für bereits vor dem 1. Januar 2021 Erkrankte. Da Leistungsansprüche frühestens zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles, also dem Inkrafttreten des Wegfalls des Unterlassungszwangs, entstehen können, kommen rückwirkende Leistungen für Zeiten vor dem 1. Januar 2021 auf der Grundlage des neuen Rechts nicht in Betracht.

Zusätzlich hat der Verordnungsgeber in § 12 BKV (neue Fassung) für die Unfallversicherungsträger die Verpflichtung geschaffen, Fälle von Amts wegen zu prüfen, in denen eine Anerkennung in der Vergangenheit, frühestens aber nach dem 1. Januar 1997, aufgrund der fehlenden Aufgabe der schädigenden Tätigkeit nicht erfolgen konnte. Infolge der bis zum 31. Dezember 2020 nach § 9 Abs. 4 SGB VII (alte Fassung) erforderlichen Befundanerkennung dürften die betroffenen Versicherten den Unfallversicherungsträgern in der Regel bekannt sein.

5. Ärztlicher Sachverständigenbeirat

Ein weiterer Kritikpunkt an der bisherigen Gesetzeslage war die häufig lange Dauer bis zur Einführung einer neuen Berufskrankheit und die mangelnde Transparenz des Verfahrens.[25] Neue Berufskrankheiten werden regelmäßig nach einer entsprechenden Empfehlung durch den dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) zugeordneten ÄSVB vom Verordnungsgeber in die BK-Liste aufgenommen. Beratungen im mit ehrenamtlich tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besetzten ÄSVB zogen sich oft über viele Jahre hin. Zudem war bis vor wenigen Jahren nicht bekannt, welche Personen dieses Gremium bildeten. Auch die Beratungsthemen wurden vertraulich behandelt und erst mit der Veröffentlichung einer Wissenschaftlichen Empfehlung für eine neue Berufskrankheit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Um dem abzuhelfen, wird in § 9 Abs. 1a SGB VII eine gesetzliche Grundlage für dieses Gremium geschaffen und dem Verordnungsgeber die Pflicht aufgegeben, die wesentlichen Grundlagen der Arbeit des ÄSVB in der BKV zu regeln.

In Zukunft wird auf Basis der §§ 7 bis 11 BKV zur Unterstützung des Sachverständigenbeirats deshalb bei der BAuA eine Geschäftsstelle eingerichtet. Neben rein organisatorischen Aufgaben soll die Geschäftsstelle insbesondere wissenschaftliche Vorarbeiten für die Beratungen des Sachverständigenbeirats leisten. Inhalte dieser Unterstützung betreffen vor allem die Durchführung sogenannter systematischer Reviews als Grundlage der eigentlichen Beratung. Darüber hinaus soll die BAuA die Arbeit des Sachverständigenbeirats durch Literaturrecherchen sowie bei der Erstellung von wissenschaftlichen Empfehlungen und Stellungnahmen unterstützen.

6. Forschung

Bereits in der Vergangenheit war der Auftrag zur Forschung im Bereich der Berufskrankheiten in § 9 Abs. 8 SGB VII verankert. Dieser wird nun durch zwei weitere Sätze ergänzt. Künftig besteht die Verpflichtung, einen jährlichen Report über die Forschungsaktivitäten der DGUV und der einzelnen Unfallversicherungsträger zu erstellen. Zu berichten ist über die Themen der Forschungsvorhaben, die Höhe der aufgewendeten Mittel und wer sie erhält sowie die Forschungsnehmer und Forschungsnehmerinnen externer Projekte. Hierdurch soll der Stellenwert der Forschung über Berufskrankheiten betont sowie die Transparenz der Forschung und der Forschungsförderung durch die gesetzliche Unfallversicherung erhöht werden. Gleichzeitig erhofft sich der Gesetzgeber dadurch Anreize für Dritte, neue Forschungsthemen vorzuschlagen und im Auftrag der gesetzlichen Unfallversicherung durchzuführen.

7. Pflicht zur Evaluation

Im neuen § 218f SGB VII verpflichtet der Gesetzgeber die Verbände der Unfallversicherungsträger, dem BMAS bis zum 31. Dezember 2026 einen gemeinsamen Bericht vorzulegen. Dieser informiert über die Umsetzung sowie die Wirkungen und die Ergebnisse der neu eingeführten Maßnahmen zum Wegfall des Unterlassungszwangs, zur Stärkung der Individualprävention, zur gesetzlichen Verankerung von Beweiserleichterungen und zur erhöhten Transparenz in der Berufskrankheitenforschung.