Neues Frühmeldeverfahren für Atemwegserkrankungen: Der Weg zur Stärkung der Individualprävention

Die Arbeitsgruppe (AG) "Frühmeldeverfahren Atemwege" der DGUV hat ein Frühmeldeverfahren zur Betreuung von Versicherten mit Atemwegserkrankungen entwickelt. Es soll die Individualprävention im Hinblick auf Berufskrankheiten der Nummern 1315 (ohne Alveolitis), 4301 und 4302 fördern. In Kürze startet die Pilotphase.

Ausgangssituation

Chronische Atemwegserkrankungen wie das Asthma bronchiale und die chronisch-obstruktive Bronchitis (COPD) sind häufige Erkrankungen von hoher sozioökonomischer Relevanz.[1] Das Berufsasthma ist die häufigste berufsbedingte Lungenerkrankung in der klinischen Praxis. Dabei fallen nicht nur die direkt entstehenden Kosten infolge ärztlicher Leistungen, Arzneimittelausgaben und Rehabilitation ins Gewicht. Auch die indirekten Kosten durch Produktionsausfälle während der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit sowie die aus der Erkrankung resultierenden Einschränkungen in der Lebensqualität der Betroffenen sind erheblich.

Arbeitsbedingte Atemwegserkrankungen treten in vielen Branchen auf. Besonders betroffen sind zum Beispiel der Gesundheitsdienst und das Friseurgewerbe, aber auch Metallbetriebe, Reinigungsunternehmen und die Nahrungsmittel herstellende Branche. Meist leiden die Betroffenen an Schnupfen, Husten oder Luftnot.

Allergien werden wegen der Häufigkeit ihres Auftretens und ihrer hohen sozioökonomischen Bedeutung für die Betroffenen und das Gesundheitssystem zu Recht als "Volkskrankheit" bezeichnet, die Lebenszeitprävalenz (LZP) für Asthma bronchiale wird mit 8,6 Prozent und für Heuschnupfen mit 14,8 Prozent beschrieben.[2] Die erste ärztliche Diagnose und Behandlung erfolgen meist in der hausärztlichen Praxis, fachärztlich behandelt wird häufig erst in einem fortgeschrittenem Stadium, bedingt auch durch die zum Teil regional unterschiedliche Fachärztedichte. In vielen Fällen spielen Allergien gegen Stoffe aus der allgemeinen Umwelt wie Pollen, Tierhaare oder Milben eine Rolle bei der Entstehung oder dem Unterhalt der Symptomatik. Eine Abgrenzung zu möglichen Auslösern aus dem beruflichen Bereich ist dabei häufig schwierig, wenn die Symptome nicht nur auf die Zeiten am Arbeitsplatz beschränkt sind. Auch anfangs eher mildere Symptome an den oberen Atemwegen können zu einer möglichen Unterschätzung der Erkrankung führen, insbesondere wenn Zeichen einer Obstruktion der tiefen Atemwege noch fehlen.

Der Nutzen von Primär- und Sekundärprävention bei Berufsasthma ist unstrittig, doch geeignete systematische Früherkennungsstrategien fehlen bislang.

Die Erkrankungen werden den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung bei begründetem Verdacht auf berufliche Verursachung meist durch die ärztliche Anzeige einer Berufskrankheit nach § 202 Siebtes Sozialgesetzbuch (SGB VII) bekannt gegeben. Bis dahin haben viele Betroffene bislang einen langen Weg hinter sich, da Verzögerungen bei der zutreffenden Diagnose immer wieder zu beobachten sind.

Epidemiologische Erkenntnisse, beispielsweise aus der Landwirtschaft – einer bezüglich der Entwicklung einer tätigkeitsbezogenen Atemwegserkrankung relevanten Branche –, belegen, dass die Symptome einer Rinderallergie zum Zeitpunkt der Anzeige als Berufskrankheit im Durchschnitt bereits mehr als neun Jahre bestanden hatten.[3] Dabei eröffnet gerade die frühzeitige Diagnosestellung Möglichkeiten, durch geeignete Präventionsstrategien die Erkrankungsfolgen einer Berufskrankheit gering zu halten beziehungsweise deren drohende Manifestation sogar gänzlich zu vermeiden und dadurch einen Verbleib im Arbeitsleben zu ermöglichen.[4]

Die frühe Diagnose von Asthma ist somit der erste und wesentliche Schritt zur Behandlung auch von beruflich bedingtem Asthma. Longitudinaluntersuchungen an Patienten und Patientinnen mit chronischem Asthma bronchiale zeigen eindrücklich, dass ein günstiger Verlauf der Symptomatik und weniger Funktionseinschränkungen zu beobachten waren bei Erkrankten mit einem Symptombeginn in jungen Jahren, weniger schwerer Atemwegsobstruktion bei der ersten Lungenfunktionstestung sowie mit dem zeitnahen Beginn einer angemessenen Therapie nach dem Auftreten erster Symptome.[5] Die Auswertung von kompensierten Ansprüchen für arbeitsbedingtes Asthma und klinische Reviews haben in den letzten Jahren eine Verringerung der Raten von anerkanntem berufsbedingtem Asthma in einigen Ländern wie zum Beispiel in Kanada, Frankreich und England beschrieben[6]; möglicherweise ist dies auf Präventivmaßnahmen zurückzuführen.

Der Nutzen von Primär- und Sekundärprävention bei Berufsasthma ist unstrittig ("Medical surveillance programs along with primary prevention (reducing exposure) may help to reduce the burden of OA."[7]). Geeignete systematische Früherkennungsstrategien fehlen jedoch bislang ("An accurate diagnosis made in a timely fashion can positively impact the health and socioeconomic burden associated with occupational asthma. Newer diagnostic tools are promising, but much work needs to be done to standardize and validate these testing methods."[8]). Die möglichen Rahmenbedingungen einer Früherkennungsstrategie von Berufsasthma im Bereich der deutschen Sozialversicherung wurden seit geraumer Zeit auch in den wissenschaftlichen Fachgesellschaften diskutiert.[9]

Neuerung im Berufskrankheitenrecht

Zum 1. Januar 2021 ist mit den jüngsten gesetzlichen Neuregelungen im Berufskrankheitenrecht der bis dahin für einige Berufskrankheiten geltende sogenannte Unterlassungszwang weggefallen. Somit können diese Erkrankungen nun auch als Berufskrankheit anerkannt werden, ohne dass die auslösende Tätigkeit aufgegeben wird.

Das jetzt zu erprobende Konzept des Frühmeldeverfahrens zielt darauf, Versicherte mit Gesundheitsstörungen der Atemwege, bei denen ausreichende Anhaltspunkte für eine individuelle Gefährdung am Arbeitsplatz vorliegen, zu identifizieren, um durch Individualprävention entgegenzuwirken.

Der bis dahin geltende Unterlassungszwang sollte sicherstellen, dass eine weitere Schädigung durch die Fortsetzung der auslösenden Tätigkeit verhindert wird. Das kann heutzutage auch durch Individualprävention erreicht werden. Diese wird somit durch die Gesetzesnovelle gestärkt. Die Unfallversicherungsträger haben künftig noch stärker die Aufgabe, für die Betroffenen, die unter gefährdenden Bedingungen weiterarbeiten, präventive Maßnahmen zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit anzubieten.

Das gilt auch für die Berufskrankheiten der Nummern 4301 und 4302 sowie 1315 ohne Alveolitis (siehe Infokasten). Sie betreffen folgende Krankheitsbilder:

  • die allergische Rhinopathie, unter der circa 20 Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden
  • das Asthma bronchiale, das sich durch eine chronische Entzündung des Bronchialsystems darstellt und
  • die chronisch-obstruktive Bronchitis (COPD)

Obstruktive Atemwegserkrankungen nach Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV):

• BK-Nr. 4301: Durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie)

• BK-Nr. 4302: Durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen

• BK-Nr. 1315 (ohne Alveolitis): Erkrankungen durch Isocyanate

Das neue Frühmeldeverfahren

Hier setzt das von der AG "Frühmeldeverfahren Atemwege" der DGUV konzeptionierte Frühmeldeverfahren an. Dieses zielt darauf, Versicherte mit Gesundheitsstörungen der Atemwege, bei denen ausreichende Anhaltspunkte für eine individuelle Gefährdung am Arbeitsplatz vorliegen, zu identifizieren, um durch geeignete individualpräventive Maßnahmen entgegenzuwirken, bevor ein klinisches Krankheitsstadium vorliegt, das die klinischen Voraussetzungen einer der oben genannten Berufskrankheiten erfüllt.

Derart identifizierten Versicherten sollen seitens der jeweiligen Unfallversicherungsträger gegebenenfalls frühzeitig Maßnahmen der individuellen Prävention angeboten werden, um die Gefahren am Arbeitsplatz zu reduzieren. Ein Gegensteuern im Frühstadium der Erkrankung kann das Risiko schwerer oder lebensbedrohlicher Gesundheitsschäden senken. Es besteht die echte Chance einer dauerhaften Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit und des Verbleibs im Berufsleben. Dadurch werden für die Versicherten soziale und wirtschaftliche Nachteile abgewendet. Zudem werden die Unfallversicherungsträger durch eine versichertenorientierte und schnelle individualpräventive Betreuung in die Lage versetzt, zeitnah über eine mögliche Berufskrankheit und entsprechende Leistungen zu entscheiden.

Das auch international innovative Konzept umfasst auf dem Weg zur Identifizierung der zur Individualprävention geeigneten Fälle folgende Schritte:

  • haus-, fach- oder betriebsärztliche Frühmeldung an den zuständigen Unfallversicherungsträger bei Einverständnis der betreffenden Person
  • Prüfung durch den Unfallversicherungsträger im Hinblick auf eine mögliche Gefährdung: Profiling zur individuellen Bedarfsklärung, Verifizierung der atemwegsschädigenden Einwirkung
  • weiterführende klinische Abklärung

Wissenschaftlich begleitete Erprobung

In Kürze startet die DGUV unter Beteiligung der Berufsgenossenschaften Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN), Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) sowie Holz und Metall (BGHM) eine Erprobung des neu entwickelten Verfahrens. Diese erstreckt sich auf die Pilotregionen Südniedersachsen/Thüringen, Mittelfranken und die Metropolregion München. Sie beginnt in Kürze und ist – inklusive der wissenschaftlichen Evaluation – vorerst auf 30 Monate begrenzt.

Für die Erprobung des neuen Verfahrens wurden gezielt Regionen unterschiedlicher industrieller Prägung ausgewählt, um Erkenntnisse zu diesbezüglichen Besonderheiten für die Implementierung des Frühmeldeverfahrens zu gewinnen, insbesondere im Hinblick darauf, Beschäftigte in unterschiedlich geprägten Betrieben – von Kleinbetrieben in ländlicher Region bis zu industriellen Großbetrieben in einer Metropolregion – zu berücksichtigen:

  • Charakteristisch für die Thüringer Industrie sind kleine Betriebsgrößen und eine breite Streuung in der Fläche, besonders im Westen und Süden des Landes.
  • Typisch für den Westen von Mittelfranken sind kleine Betriebsgrößen, größere Industrie konzentriert sich auf die Städte des Ostteils von Mittelfranken.
  • Der Großraum München ist das Wirtschaftszentrum Bayerns und gilt aufgrund der Branchenvielfalt und der hohen Dichte großer Unternehmen als einer der führenden europäischen Wirtschaftsräume.

Ein Gegensteuern im Frühstadium der Erkrankung kann  das Risiko schwerer oder lebensbedrohlicher Gesundheitsschäden senken. Es besteht die echte Chance einer dauerhaften Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit und des Verbleibs im Berufsleben.

In der Pilotphase sollen in den Pilotregionen – bei Einverständnis der Betroffenen –  Atemwegserkrankungen dem zuständigen Unfallversicherungsträger gemeldet werden, sobald Hinweise auf eine mögliche arbeitsplatzbedingte Erkrankung vorliegen, auch wenn die Hinweise noch nicht für einen anzeigepflichtigen, begründeten BK-Verdacht im Sinne von § 202 SGB VII ausreichen. Zusätzlich sollen für eine solche Meldung folgende Kriterien erfüllt sein:

  • Es bestehen Symptome einer Atemwegserkrankung, aber die Lungenfunktion zeigt keine Obstruktion auf.
  • Es wird ein Arbeitsplatzbezug der Beschwerden geschildert.
  • Es entstanden durch die Beschwerden Arbeitsunfähigkeitszeiten von mindestens vier Wochen innerhalb der letzten zwölf Monate oder es fanden, im Falle kürzerer AU-Zeiten, mindestens drei Behandlungen innerhalb der letzten zwölf Monate statt.
  • In der Anamnese werden atemwegsbelastende Einwirkungen am Arbeitsplatz angegeben.

Die in den Pilotregionen tätigen Haus-, Fach- und Betriebsärztinnen und -ärzte werden gezielt über das neue Verfahren informiert, damit sie aktiv daran mitwirken können. Zudem wird die Erprobungsphase wissenschaftlich begleitet, um Erkenntnisse zu gewinnen, ob sich das seitens der DGUV-AG vorgeschlagene Modell des Frühmeldeverfahrens in der Praxis bewährt und geeignet ist, die Frühmanifestation von Erkrankungen zu identifizieren, bei denen die Gefahr der Entwicklung einer Berufskrankheit der Nummern 1315 (ohne Alveolitis), 4301 und 4302 besteht.

 

Literatur

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Heutelbeck, A. R. R.; Janicke, N.; Hilgers, R.; Kütting, B.; Drexler, H.; Hallier, E., Bickeböller, H. (2007): German Cattle Allergy Study (CAS): Public health relevance of cattle-allergic farmers. Int Arch Occup Environ Health 81: 201–208

Heutelbeck, A. R. R.; Drexler, H. (2010): Auf dem Weg zum Arztverfahren Atemwege und Lunge – ein interdisziplinär erarbeitetes Eckpunktepapier. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 45:79–83

Heutelbeck, A.; Drexler, H.; Hallier, E.; Korn, M.; Lotz, G.; Nowak, D.; Schneider, J.; Letzel, S. (2013): Arztverfahren Atemwege und Lunge: Empfehlungen einer ad hoc-Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Klinische Umweltmedizin (DGAUM) zu Früherkennungskriterien für eine Zuweisung. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 48 (1)

Langen, U.;  Schmitz, R.;  Steppuhn, H.: Häufigkeit allergischer Erkrankungen in Deutschland: Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsbl 2013 ·56:698–706

Panhuysen, C. I.; Vonk, J. M.; Koëter, G. H.; Schouten, J. P.; van Altena, R.; Bleecker, E. R.; Postma, D. S. (1997): Adult patients may outgrow their asthma: a 25-year follow-up study. Am J Respir Crit Care Med 155(4):1267–72

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