Aus Betroffenen Beteiligte machen – der neue § 9 Abs. 4 SGB VII
Die Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts beinhaltet für die Unfallversicherung den Auftrag, ihre Präventionsaktivitäten zu intensivieren. Die Stärkung von Maßnahmen zur Individualprävention ist deshalb ein wichtiges strategisches Ziel. So gestalten der Leistungsbereich und die Prävention der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) diese Aufgabe.
Ausgangssituation
Gemäß § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) haben Arbeitgebende die mit ihrer Arbeit verbundenen Gefahren für Beschäftigte zu ermitteln und für den Arbeitsschutz erforderliche Maßnahmen festzulegen. Beschäftigte sind über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit während ihrer Arbeitszeit ausreichend und angemessen zu unterweisen und diesbezüglich zur Mitarbeit verpflichtet. Zusätzlich haben Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen für eine angemessene arbeitsmedizinische Vorsorge zu sorgen (§ 3 Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge – ArbMedVV). In Konkretisierung des allgemeinen gesetzlichen Präventionsauftrages der Unfallversicherungsträger nach § 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII erbringen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen seit Jahrzehnten wirksame individualpräventive Maßnahmen auf der Grundlage des § 3 Abs. 1 Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) für gefährdet tätige Versicherte, bei denen das Entstehen beziehungsweise Wiederaufleben einer Berufskrankheit (BK) oder deren Verschlimmerung droht. Gemäß § 14 SGB I haben die Versicherten einen Anspruch auf Beratung über ihre jeweiligen Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch. Zum 1. Januar 2021 ist der Unterlassungszwang bei insgesamt neun[1] der aktuell 82 BK-Tatbestände weggefallen. Die zuvor mit dem Unterlassungszwang verfolgten Zwecke sollen künftig auf anderen Wegen erreicht werden:
- durch die Stärkung von Maßnahmen der Individualprävention (IP) und
- durch die Einforderung der aktiven Mitwirkung der Betroffenen[2]
Stärkung der Individualprävention
Der durch das Siebte Gesetz zur Änderung des SGB IV (7. SGB IV ÄndG) neu gefasste Absatz 4 stellt auf eine schon eingetretene und anerkannte Berufskrankheit ab und gilt für alle BK-Tatbestände, nicht nur für jene, bei denen bisher der Unterlassungszwang zur Anerkennung gefordert war. Unter anderem werden in § 9 Abs. 4 SGB VII folgende Regelungen getroffen:
Satz 1 enthält – als Ultima Ratio – die bereits in § 3 Abs. 1 Satz 2 BKV genannte Verpflichtung der Unfallversicherungsträger, bei den Versicherten darauf hinzuwirken, eine gefährdende Tätigkeit zu unterlassen, wenn sich die Gefahr, dass die Krankheit wieder auflebt oder sich verschlimmert, nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen lässt. Satz 2 statuiert eine besondere Aufklärungspflicht der Unfallversicherungsträger über die mit der konkreten Tätigkeit verbundenen Gefahren und möglichen Schutzmaßnahmen.[3]
Zur Stärkung des Präventionsgedankens erweitert Satz 3 die bereits nach den §§ 60 ff. SGB I bestehenden Pflichten der Versicherten zur Mitwirkung bei ärztlichen Untersuchungen und Heilbehandlungen um einen neuen Aspekt: die Teilnahme an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger und die Mitwirkung an Maßnahmen zur Verhaltensprävention.[4]
Besteht die Gefährdung nach Anerkennung einer Berufskrankheit fort, steht die Vermeidung des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung der Berufskrankheit nicht in der alleinigen Selbstverantwortung der Versicherten. Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen haben die Pflicht, vorrangig Präventions- und Arbeitsschutzmaßnahmen der Verhältnisprävention anzubieten. Die Beschäftigten haben „nach ihren Möglichkeiten alle Maßnahmen (…) zu unterstützen und die entsprechenden Anweisungen des Unternehmers zu befolgen“. Die Pflichten von Arbeitgebern, Arbeitgeberinnen und Beschäftigten sind auch in § 21 Abs. 3 SGB VII beschrieben, in Abschnitt 2 und 3 ArbSchG oder in § 7 der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV; Pflicht zur Bereitstellung und Verwendung der persönlichen Schutzausrüstung) sowie in § 9 der Biostoffverordnung (BioStoffV).
Wird die gefährdende Tätigkeit fortgesetzt, gibt es darüber hinaus eine Schnittstelle zu den Unfallversicherungsträgern. Denn Versicherte sind auch verpflichtet, von den Unfallversicherungsträgern angebotene Präventionsmöglichkeiten zu nutzen, die geeignet sind, eine weitere Schädigung zu verhindern oder zumindest zu minimieren.[5]
Megatrend Gesundheit
Mit der Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts ist für die Unfallversicherungsträger der Auftrag verbunden, ihre Präventionsaktivitäten zu intensivieren. Dies deckt sich mit in der Gesellschaft zu beobachtenden Entwicklungen und Trends. So hat sich die Erhaltung der Gesundheit als Fundamentalwert in den vergangenen Jahren tief im menschlichen Bewusstsein verankert. Als zentrales Lebensziel prägt der Megatrend sämtliche Lebensbereiche, Branchen und Unternehmen. Prävention ist zum wichtigen Pfeiler der Gesundheitsversorgung und eines wachsenden Gesundheitsbewusstseins geworden; dies wirkt auch in die Ebene der betrieblichen Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes.[6]
Die Präventionsziele „Länger gesund arbeiten können“ beziehungsweise „Alters- und alternsgerechtes Arbeiten“ gewinnen zudem aufgrund des demografischen Wandels mit bestehendem Fachkräftemangel zunehmend an Bedeutung.[7]
Bezogen auf die Wirksamkeit von Maßnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes erweist sich die Einbeziehung des Individuums als ein Schlüssel zum Erfolg.[8]
Strategische Ziele
Die Geschäftsführerinnen- und Geschäftsführerkonferenz der DGUV hat den gesetzgeberischen Auftrag aufgegriffen und die Stärkung von individualpräventiven Maßnahmen (IP-Maßnahmen) zu einem wichtigen strategischen Ziel erklärt. Ein weiterer Handlungsschwerpunkt ist die (noch stärkere) Verzahnung von Prävention und Rehabilitation. Von diesen Themen leiten sich zahlreiche Aktivitäten wie Forschungsvorhaben, Pilotprojekte und DGUV-Arbeitsgruppen zu IP-Maßnahmen bei verschiedensten Erkrankungen ab. Anfang November 2022 ist zudem ein nächster trägerübergreifender Informations- und Erfahrungsaustausch zur Zusammenarbeit von Prävention und Rehabilitation geplant, in dem das Potenzial einer optimierten Zusammenarbeit beleuchtet werden wird.[9]
Umsetzung bei der BGHW
Das Berufskrankheitengeschehen bei der BGHW ist heterogen mit einem deutlichen Schwerpunkt beim Thema Hauterkrankungen (siehe Abbildung1). Insbesondere bei diesen ist seit vielen Jahren ein gestuftes Handlungskonzept etabliert, das abhängig von Schwere und Verlauf der Erkrankung über zunächst niederschwellige Angebote darauf abzielt, den Verbleib der Versicherten in ihrer Tätigkeit sicherzustellen.[10]
Das Verfahren hat sich insbesondere auch im Hinblick auf die Mitgliederstruktur mit einer großen Zahl von kleinen und mittleren Unternehmen sowie Großunternehmen mit meist vielen Filialen bewährt und trägt dem Grundsatz des § 69 Abs. 2 SGB IV Rechnung. Die persönliche, individuelle Beratung vor Ort am Arbeitsplatz durch Mitarbeitende der Prävention gilt zwar als aufwendig, aber diese besonders effektive Intervention war in Einzelfällen auch schon in der Vergangenheit Bestandteil des Maßnahmenspektrums. Sie wurde im Hinblick auf die mit der BK-Rechtsreform verfolgten Ziele systematisch ausgebaut.
Zusammenarbeitsmodell Prävention und Rehabilitation
Im Laufe des Jahres 2020 wurden die zukünftigen IP-Aktivitäten von Prävention und Rehabilitation aufeinander abgestimmt und prozessual verknüpft. Hierfür wurden gemeinsam Workflows und Schulungskonzepte erarbeitet, die eingesetzten Arbeitsmaterialien, Schnittstellen und Übergabepunkte wurden definiert und inhaltlich wie auch zeitlich abgeklärt. Sowohl im Leistungsbereich als auch in der Prävention wurden umfangreiche Schulungen, teilweise auch gemeinsam, durchgeführt. Wesentliches Element des Vorgehens bildet der Dokumentationsbogen zur Beratung am Arbeitsplatz, der ähnlich dem Reha-Plan unter aktiver Einbeziehung der Versicherten konkrete Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention festhält und von den Versicherten mitunterschrieben wird. Denn die Erfahrungen aus dem Reha-Management mit dem essenziellen Steuerungsinstrument Reha-Plan zeigen: Versicherte aktiv einzubinden, Wissen und Verständnis in einer Begegnung auf Augenhöhe im persönlichen Kontakt zu vermitteln und die Möglichkeit für Rück- und Verständnisfragen zu geben, macht die Versicherten handlungssicher und stärkt gleichzeitig ihre Eigenverantwortung.[11] Mit den betroffenen Versicherten Gespräche zu führen, motiviert diese.[12]
Fallbeispiel
Nach einem frühzeitigen Telefoninterview mit den Versicherten durch die BK-Sachbearbeitung erfolgt neben der Erteilung des Heilbehandlungsauftrags standardisiert eine persönliche oder telefonische beziehungsweise virtuelle Beratung durch Hautärztinnen und Hautärzte des BGHW-Netzwerks. Im Zuge dessen werden die Erkrankten mit passgenauen Hautmitteln und Arbeitsschutzhandschuhen versorgt. Die behandelnden Hautärztinnen und Hautärzte, gegebenenfalls auch Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, sind in das Verfahren eingebunden. In schwereren Fällen macht die Prävention – auch bereits vor Anerkennung einer BK-Nummer 5101 – einen Aufklärungs- und IP-Beratungsbesuch am Arbeitsplatz. Dabei werden auch die zur Verfügung stehenden Arbeitsschutzhandschuhe und Hautmittel auf ihre Eignung sowie die Handhabung durch die Versicherten überprüft und – wenn erforderlich – optimiert. In weniger schweren Fällen, die allein aufgrund der Dauer der Hauterscheinungen und IP-Maßnahmen als Berufskrankheit anzuerkennen sind, erfolgt der Beratungsbesuch zeitnah mit der Anerkennung.
In gleicher Weise wird auch bei anderen BK-Tatbeständen – angepasst an die dortigen Erfordernisse – vorgegangen.
Im Geschäftsjahr 2021 wurden 884 Aufklärungs- und IP-Beratungsgespräche am Arbeitsplatz durchgeführt, darunter auch in noch laufenden Altfällen nach § 3 Abs. 1 BKV sowie den nach § 12 BKV zu überprüfenden Sachverhalten.
Ausblick
Eine erste Evaluation der gemeinsam neu gestalteten Prozessabläufe erfolgte im Rahmen zweier Erfahrungsaustausche im November 2021 und Mai 2022. Trotz des nur kurzen Beurteilungszeitraums und der durch Corona geprägten Rahmenbedingungen fiel die Resonanz aus beiden Bereichen positiv aus. Aufgenommene Verbesserungsvorschläge fließen wie gewohnt qualitätssichernd in das Verfahren ein.