Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts ‒ Auswertung der Gesamtstatistik
Anhand der Daten zum BK-Geschehen 2021 lassen sich erste Auswirkungen der Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts erkennen. Näher betrachtet werden unter anderem die Anerkennungen bei Berufskrankheiten mit ehemaligem Unterlassungszwang sowie die Stärkung der Individualprävention.
Wegfall des Unterlassungszwangs
Eine wesentliche Änderung im Rahmen der Weiterentwicklung des BK-Rechts ist der Wegfall des sogenannten „Unterlassungszwangs“.[1] Dieser war bis zum 31. Dezember 2020 eine Anerkennungsvoraussetzung bei neun von aktuell 82 Berufskrankheiten. Bei den BK-Nummern 1315, 2101, 2104, 2108 bis 2110, 4301, 4302 und 5101 wurde der Passus „die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können“ aus den Tatbeständen in Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) gestrichen. Im Jahr 2020 sind zu diesen Berufskrankheiten insgesamt 27.245 Anzeigen eingegangen.[2] Das entspricht einem Anteil von 26 Prozent an allen Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit im Jahr 2020. Dass dieser Anteil im Jahr 2019, dem letzten Jahr vor der Corona-Pandemie, noch bei 37 Prozent lag, ist vor allem auf die starke Zunahme von Anzeigen im Zusammenhang mit COVID-19 zurückzuführen.[3] Im Jahr 2020 wurde in 1.207 Fällen eine Berufskrankheit mit Unterlassungszwang anerkannt. In weiteren 15.775 Fällen wurde zwar die berufliche Verursachung festgestellt, die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit waren jedoch nicht erfüllt. Nach dem Wegfall des Unterlassungszwangs ist die Zahl der Anerkennungen dieser Berufskrankheiten erwartungsgemäß deutlich gestiegen: Im Jahr 2021 wurden 6.178 Berufskrankheiten anerkannt. In Abbildung 1 ist die Entwicklung bei den Atemwegserkrankungen (BK-Nummern 1315, 4301 und 4302) dargestellt. Die Zahl der Anerkennungen hat sich 2021 bei den durch allergisierende Stoffe verursachten obstruktiven Atemwegserkrankungen (einschließlich Rhinopathie) im Sinne der BK-Nummer 4301 gegenüber dem Vorjahr mehr als verfünffacht (+430 Prozent). Bei den Erkrankungen durch Isocyanate im Sinne der BK-Nummer 1315 zeigt sich eine Verdopplung (+126 Prozent) der Anerkennungen. Die Anerkennungen der durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachten obstruktiven Atemwegserkrankungen im Sinne der BK-Nummer 4302 sind um rund ein Drittel (+34 Prozent) gestiegen.
Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der Anerkennungen bei den fünf durch mechanische Einwirkungen verursachten Berufskrankheiten, bei denen bis Ende 2020 die Unterlassung der gefährdenden Tätigkeiten eine Anerkennungsvoraussetzung einer Berufskrankheit war. Die Zahl der Anerkennungen hat sich bei den Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze (BK-Nummer 2101) trotz Konkretisierung des Tatbestands in Bezug auf schwere oder wiederholt rückfällige Erkrankungen gegenüber dem Vorjahr verdreifacht (+195 Prozent).[4] Bei den vibrationsbedingten Durchblutungsstörungen an den Händen (BK-Nummer 2104) hat sich die Zahl der Anerkennungen gegenüber dem Jahr 2020 mehr als verdoppelt (+142 Prozent). Bei den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugenhaltung (BK-Nummer 2108) hat sich die Zahl der Anerkennungen im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr trotz Konkretisierung des Tatbestands in Bezug auf chronische oder chronisch-rezidivierende Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) fast verdoppelt (+88 Prozent). Auch bei den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die ebenfalls in Bezug auf chronische oder chronisch-rezidivierende Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Halswirbelsäule) im Tatbestand der Berufskrankheit konkretisiert wurden (BK-Nummer 2109), und bei den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die nun nach Konkretisierung des BK-Tatbestands zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) führen müssen (BK-Nummer 2110), ist ein Anstieg der Anerkennungen im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen.
Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Anerkennungen bei den schweren oder wiederholt rückfälligen Hauterkrankungen im Sinne der BK-Nummer 5101. Die Zahl der Anerkennungen hat sich im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr mehr als verzehnfacht (+934 Prozent).
Überprüfung früherer Bescheide nach § 12 BKV
Ein Teil der zusätzlichen Anerkennungen von Berufskrankheiten mit ehemaligem Unterlassungszwang im Jahr 2021 erfolgte in Fällen, die im Zeitraum vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 2020 nur deshalb nicht anerkannt werden konnten, weil die versicherte Person die gefährdende Tätigkeit trotz objektiven Unterlassungszwangs nicht unterlassen hat (§ 9 Abs. 4 SGB VII a. F.). Dass diese Fälle durch die Unfallversicherungsträger von Amts wegen erneut überprüft werden müssen, hat der Gesetzgeber mit der Ergänzung der Berufskrankheiten-Verordnung um § 12 BKV zum 1. Januar 2021 festgelegt.
Daten zum Stand der Überprüfungen liegen in der bei der DGUV geführten Gesamtstatistik nicht vor. Die folgenden vier gewerblichen Berufsgenossenschaften (BG) liefern über die DGUV-Gesamtstatistik hinausgehende Daten im Rahmen einer freiwilligen Sondererhebung zur Evaluation der Änderungen im Berufskrankheitenrecht gemäß § 218f SGB VII an die DGUV:
- BG Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI)
- BG der Bauwirtschaft (BG BAU)
- BG Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN) und
- BG Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
Die Auswertung der vorläufigen Daten der Sondererhebung zeigt, dass bis Ende 2021 in 1.584 Fällen mit der Überprüfung nach § 12 BKV begonnen wurde. In mehr als drei Viertel dieser Fälle konnte die Überprüfung bereits abgeschlossen werden: 43 Prozent der Fälle wurden anerkannt, 57 Prozent der neu aufgegriffenen Fälle mussten ohne Anerkennung eingestellt werden (siehe Abbildung 4).
In Abbildung 5 sind die Gründe für die Einstellung der Überprüfung entsprechend ihrer Häufigkeit dargestellt. Der mit Abstand häufigste Grund mit einem Anteil von 70 Prozent an allen Einstellungen ist das fehlende Interesse der versicherten Person am Fortgang des Verfahrens. In einigen Fällen war die aktuelle Adresse der versicherten Person trotz aller Bemühungen nicht ermittelbar (elf Prozent) oder die Daten zum Fall mussten nach Ende der Aufbewahrungsfrist vernichtet werden (neun Prozent).
Stärkung der Individualprävention
Unverändert durch die Änderungen im Berufskrankheitenrecht blieb § 3 BKV als Rechtsgrundlage für die Durchführung individualpräventiver Maßnahmen – sowohl vor als auch nach Anerkennung einer Berufskrankheit. Die Bedeutung der Individualprävention wurde jedoch durch die Neufassung des § 9 Abs. 4 SGB VII hervorgehoben. Diese Regelungen gelten für alle Berufskrankheiten und sind nicht auf die Berufskrankheiten mit ehemaligem Unterlassungszwang beschränkt.
In den Statistiken zu Berufskrankheiten wird dementsprechend ab dem Jahr 2021 für alle Berufskrankheiten die Zahl der Fälle erfasst, in denen im Berichtsjahr erstmalig eine Maßnahme nach § 3 BKV gewährt wurde. Im Jahr 2021 waren dies 29.816 Fälle. Besonders häufig ‒ in 14.726 Fällen ‒ war dies bei Hauterkrankungen im Sinne der BK-Nummer 5101 der Fall. Auch bei anderen Berufskrankheiten wurde im Jahr 2021 häufig erstmalig eine Maßnahme nach § 3 BKV gewährt: bei Lärmschwerhörigkeit im Sinne der BK-Nummer 2301 in 5.604 Fällen und bei BK-Nummer 2108 in 2.428 Fällen. Dass fast die Hälfte der Fälle auf BK-Nummer 5101 entfällt, verwundert nicht. Zwischen der DGUV und der Ärzteschaft wurde vor 50 Jahren am 1. Juli 1972 ein Frühmeldeverfahren (das sogenannte „Hautarztverfahren“) vertraglich vereinbart. Danach sollen Ärztinnen und Ärzte bereits bei der bloßen Möglichkeit einer arbeitsbedingten Krankheitsursache die zuständige Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse informieren, um dieser die Möglichkeit für passgenaue Maßnahmen der Individualprävention zu geben.[5] In der Regel übernehmen die Unfallversicherungsträger die Kosten der erforderlichen berufsdermatologischen Diagnostik und Behandlung. In 96 Prozent der Fälle von Hautkrankheiten im Sinne der BK-Nummer 5101, in denen im Jahr 2021 erstmalig eine Maßnahme nach § 3 BKV gewährt wurde, übernahm die gesetzliche Unfallversicherung die ambulante Heilbehandlung. In mehr als einem Drittel der Fälle wurden den Versicherten persönliche Schutzmaßnahmen wie Schutzhandschuhe oder Hautschutz und -pflegepräparate von ihrem Unfallversicherungsträger zur Verfügung gestellt. Dass in 45 Prozent der Fälle von BK-Nummer 5101 mehr als eine Maßnahme gewährt wurde, zeugt vom weiten Spektrum der zur Verfügung stehenden Maßnahmen der Individualprävention bei Hauterkrankungen.
Die Zahl der Fälle, in denen im Berichtsjahr erstmalig eine Maßnahme nach § 3 BKV gewährt wird, macht nur einen Teil der Fälle aus, in denen im jeweiligen Jahr überhaupt Maßnahmen der Individualprävention veranlasst werden. Im Jahr 2021 haben die gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand über alle Berufskrankheiten insgesamt 115.791 Maßnahmen nach § 3 BKV erbracht.[6] Auch hier entfällt ein großer Anteil (62 Prozent) auf BK-Nummer 5101 mit 72.293 Maßnahmen, die in 37.112 Fällen gewährt wurden. Abbildung 6 gibt einen Überblick über die Anzahl der im Jahr 2021 bei BK-Nummer 5101 gewährten Maßnahmen. In sechs Prozent der Fälle wurden sogar mehr als fünf Maßnahmen gewährt.
In Abbildung 7 wird für BK-Nummer 5101 der Anteil der verschiedenen Gruppen von Maßnahmen der Individualprävention dargestellt. Hervorzuheben sind die Aufklärungen und Beratungen im Sinne des neu gefassten § 9 Abs. 4 Satz 2 SGB VII. Demnach sind die Versicherten von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zu berücksichtigen ist, dass diese Aufklärung gewöhnlich auch Bestandteil von Hautschutzseminaren und Hautsprechstunden sowie stationären Heilverfahren im Rahmen einer Tertiären Individual-Prävention (sogenannte „TIP-Maßnahme“) ist. Separat ausgewiesen werden daher insbesondere die Aufklärungen nach § 9 Abs. 4 Satz 2 SGB VII, die am Arbeitsplatz der versicherten Person zum Beispiel durch den Präventionsdienst durchgeführt werden.
Einwirkungsermittlung
Im Zuge der Weiterentwicklung des BK-Rechts wurde § 9 SGB VII um den Absatz 3a ergänzt. Mit diesem Absatz wurden Beweismittel gesetzlich verankert, die die Unfallversicherungsträger bereits in der Vergangenheit bei Bedarf zugunsten der versicherten Personen berücksichtigt haben. Im Jahr 2021 musste keine Anerkennung einer Berufskrankheit aus dem Grund verwehrt werden, dass die Einwirkung nicht im Vollbeweis gesichert werden konnte. Es gab mithin keine sogenannten Non-liquet-Fälle, in denen ein Unfallversicherungsträger nach Ausschöpfung aller ihm als geeignet erscheinenden Ermittlungsmöglichkeiten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Einwirkung zwar möglich erscheint, aber weder eindeutig bewiesen noch eindeutig widerlegt werden kann.
Zum 1. Januar 2021 neu eingerichtet wurde die Zentrale Expertenstelle für BK-Einwirkungen. Diese trägerübergreifend besetzte Expertenstelle unterstützt die Unfallversicherungsträger bei Bedarf bei der Beurteilung schwieriger Einwirkungssituationen in BK-Verfahren, insbesondere bei sogenannten Non-liquet-Fällen. Im Jahr 2021 wurden insgesamt drei Fälle an die Expertenstelle gemeldet. Die Beantwortung erfolgte jeweils ‒ unter Einbeziehung von bis zu drei Expertinnen und Experten ‒ innerhalb von 5 bis 7 Tagen.