Erste Erfahrungen mit der Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts
Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) berichtet über ihre Erfahrungen mit der Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts (BK-Recht) und gibt einen Ausblick auf künftige Entwicklungen.
Wissenstransfer innerhalb der BG BAU
Um die umfangreichen Auswirkungen der Reform[1] auf das BK-Recht zielgerichtet an die Mitarbeitenden aus dem Bereich der Berufskrankheiten weitergeben zu können, wurde frühzeitig eine zweitägige Informationsveranstaltung geplant. Durch die Corona-Pandemie konnte diese jedoch nicht in Präsenz durchgeführt werden.
Als Alternative wurde eine Schulung für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren initiiert. Im November 2020 wurden alle Führungskräfte im Bereich der Berufskrankheiten digital durch das Referat Berufskrankheiten der Abteilung Steuerung Rehabilitation und Leistungen der Hauptverwaltung geschult. In dieser Veranstaltung wurde ausführlich über die Veränderungen infolge der Gesetzesreform informiert, über die Auswirkungen diskutiert und bereits offene Fragen geklärt. Die Führungskräfte schulten dann als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Dezember 2020 wiederum die eigenen Teams. Weiterhin wurden regionsübergreifende Workshops zu den durch die Gesetzesänderung maßgeblich betroffenen Berufskrankheiten durchgeführt. Hier erfolgte eine Darstellung der Auswirkungen an Fallbeispielen, zum Beispiel wie sich die Bewertung der Schwere einer Hauterkrankung bei der Berufskrankheit nach Nr. 5101 auf zukünftige Verfahren auswirkt.[2]
Darüber hinaus wurden die erstellten Schulungsunterlagen eingesprochen, sodass die Mitarbeitenden jederzeit die Möglichkeit haben, sich diese im Videoformat anzusehen und erneut anzuhören. Somit können sich auch neue Mitarbeitende die Schulungsunterlagen aufrufen und die Auswirkungen durch die Gesetzesänderung nachvollziehen. Des Weiteren erfolgt ein regelmäßiger Austausch auf Ebene der Führungskräfte, um Problemlagen aus der weiteren Praxis zu identifizieren und zu lösen.
Durch die genannten Maßnahmen und Informationsangebote sollte eine möglichst reibungslose Umsetzung der gesetzlichen Änderungen erreicht werden.
Im Folgenden werden die bisherigen Erfahrungen dargestellt. Inhaltliche Schwerpunkte liegen dabei auf dem Wegfall des Unterlassungszwangs sowie den Aktivitäten zur Stärkung der Individualprävention.
Wegfall des Unterlassungszwangs
Bis zum 31. Dezember 2020 war es für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 1315, 2101, 2104, 2108, 2109, 2110, 4301, 4302 und 5101 notwendig, dass die versicherte Person die gefährdende Tätigkeit unterlassen hat (sogenannter Unterlassungszwang). Hintergrund dieser Regelung war die Überlegung des Gesetzgebers, dass auf diesem Wege eine weitere Schädigung durch die Fortsetzung der gefährdenden Tätigkeit zu verhindern sei.
Diese besondere versicherungsrechtliche Voraussetzung hat in der Praxis dazu geführt, dass eine Berufskrankheit abgelehnt werden musste, weil die versicherte Person die gefährdende Tätigkeit nicht aufgeben wollte oder subjektiv aus wirtschaftlichen Gründen nicht aufgeben konnte. In diesen Fällen bestand ausschließlich die Möglichkeit, Leistungen nach § 3 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) zu erbringen (zum Beispiel präventive Maßnahmen am Arbeitsplatz).
Durch die zum 1. Januar 2021 in Kraft getretenen Gesetzesänderungen wurde der Unterlassungszwang in den genannten neun Berufskrankheiten und im § 9 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII gestrichen. In der Praxis bedeutet dies, dass nunmehr jede der aktuell 82 Berufskrankheiten unabhängig davon anerkannt werden kann, ob die gefährdende Tätigkeit weiter ausgeübt wird oder nicht.
Weiterhin wurden bei den folgenden Berufskrankheiten Erweiterungen an der Legaldefinition durch Konkretisierungen des relevanten Krankheitsbildes vorgenommen, um unter anderem Bagatellerkrankungen auszuschließen:[3]
Geänderte Tatbestände der Berufskrankheiten
Nr. 2101: Schwere oder wiederholt rückfällige Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze
Nr. 2108: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben
Nr. 2109: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Halswirbelsäule) geführt haben
Nr. 2110: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der Lendenwirbelsäule) geführt haben
Bei der Berufskrankheit nach Nr. 2101 wurde die Legaldefinition um „schwere oder wiederholt rückfällige Erkrankung“ erweitert. Die Schwere ist nach der Gesetzesbegründung anzunehmen, wenn eine ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Monaten vorgelegen hat. Alternativ kann mit dem dritten Auftreten der Erkrankung (sogenannte wiederholte Rückfälligkeit) die Erweiterung der Legaldefinition erfüllt werden, wenn sich die versicherte Person zwischen den einzelnen Erkrankungen deshalb weder in Heilbehandlung befand noch arbeitsunfähig war. Bei den Berufskrankheiten nach Nr. 2108, 2109 und 2110 wurde jeweils die Legaldefinition um „die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen der Lenden- bzw. der Halswirbelsäule geführt haben“ erweitert. Nachgewiesene, degenerative Veränderungen wie eine Osteochondrose, mit der keine chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionsausfällen einhergehen, sollen hiermit abgegrenzt werden.[4]
Bei folgenden Berufskrankheiten sind keine Erweiterungen der Legaldefinitionen vorgenommen worden: BK-Nr. 1315 (Erkrankungen durch Isocyanate), BK-Nr. 2104 (vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen), BK-Nr. 4301 (durch allergisierende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen einschließlich Rhinopathie), BK-Nr. 4302 (durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen) und BK-Nr. 5101 (schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen).
Im Zuge der Gesetzesänderungen wurde auch § 12 BKV neu eingeführt. Hieraus ergibt sich für die Unfallversicherungsträger die Verpflichtung, frühere Entscheidungen nach § 9 Abs. 4 SGB VII a. F. von Amts wegen zu überprüfen.[5] Bei den Berufskrankheiten, an denen Erweiterungen an der Legaldefinition vorgenommen wurden, wäre es möglich, dass eine Berufskrankheit nach den neuen Kriterien nicht anerkannt werden kann, weil die neuen Voraussetzungen für die Anerkennung nicht vollständig vorliegen. Bei den Berufskrankheiten nach Nr. 2108, 2109 und 2110 wird jedoch bereits in den zugehörigen Merkblättern auf eine entsprechende gesundheitliche Schädigung hingewiesen. Darüber hinaus konnte auch bei der Berufskrankheit nach Nr. 2101 festgestellt werden, dass alle aufgegriffenen Fälle die Voraussetzungen der Schwere oder wiederholten Rückfälligkeit erfüllten. Im Ergebnis ist es damit bei der Überprüfung der wieder aufgegriffenen Fälle zu keiner negativen Entscheidung gekommen, die sich auf das Krankheitsbild bezieht. Nach den Erfahrungen der BG BAU spielt die Erweiterung der Legaldefinitionen bei der Überprüfung früherer Entscheidungen nach § 9 Abs. 4 SGB VII a. F. eine untergeordnete Rolle. Vielmehr können die Unfallversicherungsträger durch den Wegfall des Unterlassungszwangs mehr Berufskrankheiten anerkennen.
Stärkung der Individualprävention
Durch die Gesetzesänderungen unverändert geblieben ist § 3 der BKV als Rechtsgrundlage für die Durchführung individualpräventiver Maßnahmen. Das hat zur Folge, dass sowohl vor als auch nach der Anerkennung einer Berufskrankheit entsprechende Maßnahmen erbracht werden können.
Ein besonderer Fokus wurde mit der Gesetzesänderung auf die Stärkung der Individualprävention gelegt. Die Neufassung des § 9 Abs. 4 Satz 1 bis 3 SGB VII lautet:
„Besteht für Versicherte, bei denen eine Berufskrankheit anerkannt wurde, die Gefahr, dass bei der Fortsetzung der versicherten Tätigkeit die Krankheit wiederauflebt oder sich verschlimmert und lässt sich diese Gefahr nicht durch andere geeignete Mittel beseitigen, haben die Unfallversicherungsträger darauf hinzuwirken, dass die Versicherten die gefährdende Tätigkeit unterlassen. Die Versicherten sind von den Unfallversicherungsträgern über die mit der Tätigkeit verbundenen Gefahren und mögliche Schutzmaßnahmen umfassend aufzuklären. Zur Verhütung einer Gefahr nach Satz 1 sind die Versicherten verpflichtet, an individualpräventiven Maßnahmen der Unfallversicherungsträger teilzunehmen und an Maßnahmen zur Verhaltensprävention mitzuwirken; die §§ 60 bis 65a des Ersten Buches gelten entsprechend.“
Gemäß § 9 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB VII ergibt sich folglich, dass bei anerkannten Berufskrankheiten, bei denen die versicherte Person weiterhin einer gefährdenden Tätigkeit nachgeht, eine besondere Aufklärungs- und Beratungspflicht durch die Unfallversicherungsträger erforderlich ist. Diese Pflicht gilt nicht nur für die ehemaligen Berufskrankheiten mit Unterlassungszwang, sondern für alle Berufskrankheiten.
Die Aufklärung und Beratung der versicherten Person kann über verschiedene Kanäle und Anlässe erfolgen. Im Sinne der strategischen Ausrichtung der BG BAU sollte diese jedoch idealerweise persönlich in Sprechstunden, durch die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt oder am Arbeitsplatz erfolgen. Für die persönlichen Beratungen am Arbeitsplatz steht bei der BG BAU die Präventionsberatung zur Verfügung. Diese wird nach einer Anerkennung beauftragt, die versicherte Person am Arbeitsplatz aufzusuchen und neben einer ausführlichen Beratung zu den vorliegenden Gefahren am Arbeitsplatz insbesondere über mögliche Schutzmaßnahmen aufzuklären. Gemeinsam mit der versicherten Person und dem Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin sollen geeignete individuelle Maßnahmen ausgewählt werden, um der Progredienz der Erkrankung entgegenzuwirken und eine Weiterarbeit in der beruflichen Tätigkeit zu ermöglichen. Im Jahr 2022 wurden so beispielsweise fast 500 Versicherte mit einer anerkannten Berufskrankheit nach Nr. 5103 (Hautkrebs durch UV-Strahlung) am Arbeitsplatz beraten.[6]
Um den Versicherten weitere Möglichkeiten anbieten zu können, sind neue individualpräventive Maßnahmen zu entwickeln. Bei der BG BAU wurde beispielsweise das bestehende Portfolio von Knie- und Rückenkolleg um das neue Angebot Hüftkolleg erweitert.
Außerdem wurden folgende Sprechstundenformate etabliert und ausgedehnt: Muskel-Skelett-Erkrankungssprechstunde, Hautsprechstunde und die Atemwegssprechstunde. Hierzu werden die Versicherten zu Beginn des Verfahrens zu einer entsprechenden Sprechstunde eingeladen, um schnellstmöglich den Sachverhalt ermitteln zu können, gegebenenfalls bereits entsprechende Maßnahmen nach § 3 BKV einzuleiten und eine individuelle Beratung durchzuführen.
Aktueller Ausblick
Auch wenn die Gesetzesänderungen bereits zum 1. Januar 2021 in Kraft getreten sind, gibt es weiterhin Themenbereiche, die sich aufgrund ihrer Komplexität noch in der Diskussion oder Aktualisierung befinden. Dies betrifft zum Beispiel die Bamberger und Reichenhaller Begutachtungsempfehlungen, die derzeit überarbeitet werden, um sie an die neue Gesetzesänderung anzupassen. Für die Überarbeitungszeit wurden hierfür bereits Regelungen getroffen, um eine Handlungsfähigkeit der Unfallversicherungsträger sicherzustellen.[7] Es bleibt abzuwarten, ob eine einheitliche Bewertung der Begutachtungsempfehlungen zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) erzielt werden kann. Die bisherige Bewertung der MdE erfolgte auf der Grundlage, dass die gefährdende Tätigkeit bereits aufgegeben wurde.
Des Weiteren werden derzeit Kriterien erarbeitet, in welchen Fallkonstellationen – als Ultima Ratio – auf die Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit durch die Unfallversicherungsträger hingewirkt werden muss (§ 9 Abs. 4 Satz 1 SGB VII). Diese Entscheidung muss in Absprache mit ärztlichen Sachverständigen, dem Unfallversicherungsträger, dem Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin und im Besonderen der versicherten Person erfolgen.
Im Fokus der Entscheidungen eines Unfallversicherungsträgers muss immer die versicherte Person stehen. Deshalb sind die Unfallversicherungsträger gehalten, weitere Maßnahmen der Individualprävention zu entwickeln, um den Versicherten passgenaue Angebote unterbreiten zu können. Gemeinsam mit der versicherten Person und dem Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin müssen die Unfallversicherungsträger mit allen geeigneten Mitteln versuchen, dem Entstehen einer Berufskrankheit oder der Verschlimmerung einer bereits eingetretenen Berufskrankheit entgegenzuwirken und somit eine Weiterarbeit in der beruflichen Tätigkeit zu ermöglichen.
Welche Auswirkungen und welcher Nutzen der gesetzlichen Änderungen sich ableiten lassen, wird letztlich auch unter Berücksichtigung des § 218f SGB VII zu bewerten sein. In diesem Zusammenhang ist dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bis zum 31. Dezember 2026 ein Bericht über die Umsetzung und Wirkungen der Gesetzesänderungen vorzulegen.