Scholz´ Grundsatzrede – Zeitenwende für Europa?

Nachrichten aus Brüssel | © Adobe Stock/somartin
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Fünf Jahre haben sich die Deutschen Zeit gelassen, um auf Emmanuel Macrons Europarede in der Pariser Universität Sorbonne zu antworten. Der französische Präsident forderte damals vor den Studierenden ein souveränes Europa mit einem eigenständigen Finanzministerium. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich nicht zu den Reformvorschlägen. Nun aber ist Bundeskanzler Olaf Scholz mit einer Grundsatzrede zu Europa vor Studierende getreten – diesmal in Tschechien, an der Karls-Universität in Prag.

In 60 Minuten legte der Bundeskanzler seine Version von der Zukunft Europas dar. Zwei Dinge fielen – neben inhaltlichen Reformvorschlägen – hierbei besonders auf: die Ortswahl der Rede und der wiederkehrende Begriff „Zeitenwende“. Kommen wir zunächst zum Setting. Scholz hielt seine Rede in Prag. Die Stadt gehörte früher zum Ostblock und war Schauplatz des Prager Frühlings. Zudem hat der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala bis Ende dieses Jahres den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne. Auffallend war zudem, dass Scholz in seiner Europarede gleich zwölf Mal von einer „Zeitenwende“ sprach. Damit nahm er bewusst Bezug auf seine am 27. Februar 2022 gehaltene Rede im Bundestag zum Ukrainekrieg. Dort sprach er zum ersten Mal von einer Zeitenwende.

Scholz stellte in Prag vier Ideen für den künftigen Weg der Europäischen Union vor. Erstens: Eine Osterweiterung der EU mit den westlichen Balkanstaaten und den Ländern Ukraine, Moldau und perspektivisch auch Georgien soll angestrebt werden. Damit könne die EU von 27 auf bis zu 36 Mitgliedstaaten wachsen und mit 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern zum größten Binnenmarkt der Welt werden. Allerdings bedarf es laut Scholz bei so vielen Mitgliedstaaten Reformen der EU, damit die Handlungsfähigkeit weiterhin bestehen bleibe. Schon jetzt können Länder wichtige Entscheidungen durch das Einstimmigkeitsprinzip mit einem Veto blockieren. Scholz warb in seiner Rede deshalb für das Mehrheitsprinzip, vor allem bei den Themen Sanktionspolitik und Menschenrechte. Zudem solle vermieden werden, dass der EU-Apparat durch die Osterweiterung personell noch weiter wächst. So dürfe das Europäische Parlament nicht noch größer werden, wenn neue Mitgliedstaaten hinzukommen. Zudem könne sich Scholz vorstellen, dass zwei Kommissarinnen oder Kommissare gemeinsam einen Politikbereich verantworten.

Zweitens: Stärkung der Souveränität Europas. Die EU solle Vorreiter bei Schlüsseltechnologien werden, etwa in Sachen Mobilität, Energie, Raumfahrt und Verteidigung. Bei Letzterem schwebt Scholz vor, dass EU-Mitgliedstaaten enger bei einer gemeinsamen Beschaffung und Herstellung von Rüstungsprojekten zusammenarbeiten.

Drittens: Scholz möchte, dass festgefahrene Konflikte in der EU gelöst werden. In seiner Europarede sprach er in diesem Zusammenhang vor allem von der Migrationspolitik. Staaten wie Belarus nutzen die Uneinigkeit zwischen EU-Staaten bewusst aus, um weiter Konflikte zu schüren. Als Beispiel nannte Scholz die Bestrebungen Lukaschenkos, mit dem Leid Geflüchteter den politischen Druck auf die EU zu erhöhen. Laut Scholz benötigen wir ein europäisches Asylsystem und Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern. 

Viertens: Stärkung der Rechtsstaatlichkeit der EU. Verstöße sollten konsequent sanktioniert und EU-Zahlungen an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden.

In Anbetracht der Zeitenwende, die der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit sich bringt, fordert der deutsche Bundeskanzler eine Zeitenwende in der EU und damit einhergehende Reformen. Seine Ideen für ein starkes Europa sollen Denkanstöße sein und „keine fertigen deutschen Lösungen“. Das war dem Kanzler wichtig zu betonen.