Kein Versicherungsschutz nach Abbruch des Arbeitsweges und Umkehr wegen Krankheitssymptomen
Ein Beschäftigter, der den Weg zu seiner Arbeitsstätte wegen einer Erkrankung endgültig abbricht und – ohne die Arbeitsstätte erreicht zu haben – zu seiner Wohnung zurückkehrt, steht auf dem Rückweg nicht mehr unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
§ LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.02.2024 – L 3 U 52/23
Der Unfall ereignete sich am Abend des 27. August 2018 auf dem Weg zwischen dem Wohnort der Eltern des Klägers in M. und seiner Arbeitsstätte in Q., die er allerdings an jenem Abend nicht erreichte. Nach den polizeilichen Ermittlungen war der Kläger indes in entgegengesetzter Richtung unterwegs, als er bei einem Überholvorgang hinter einem Traktor aus dem Auto geschleudert wurde und schwerste Verletzungen erlitt.
Der Kläger gab später im Verlauf des Verfahrens an, sich nicht mehr erinnern zu können, da er zunächst vorgehabt habe, zu einer Nachtschicht, die er kurzfristig übernommen hatte, zur Arbeit zu fahren. Dass er in entgegengesetzter Richtung unterwegs gewesen sei, sei vermutlich auf plötzlich auftretende Übelkeit oder Kopfschmerzen zurückzuführen, die ihn zur Rückkehr bewegt hätten. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit habe er zuvor nicht ausgiebig gegessen, was dafürspreche, dass er bereits vor Antritt der Fahrt ein Unwohlsein verspürt habe. Der Grund für die Umkehr sei folglich eine aufgetretene Arbeitsunfähigkeit gewesen.
Das Sozialgericht (SG) sowie das Landessozialgericht (LSG) wiesen die Klage gegen den ablehnenden Bescheid und Widerspruchsbescheid des Unfallversicherungsträgers ab. Dieser hatte sich darauf berufen, dass der Kläger ausweislich der polizeilichen Ermittlungen zum Unfallzeitpunkt in Fahrtrichtung M. unterwegs gewesen sei und sich daher auf einem unversicherten Abweg befunden habe. Ein Weg, der aus eigenwirtschaftlichen, also privaten Gründen vom Ziel weg oder über das Ziel hinausführe, sei nach geltender Rechtslage ein unversicherter Abweg. Nachdem der Kläger im Verfahren vor dem SG sich auf die plötzlich aufgetretene Erkrankung (Kopfschmerzen oder Übelkeit) berief, erklärte sich das SG von einer solchen Begründung für eine Umkehr vom ursprünglichen Ziel für nicht überzeugt. Eine auf das Zurücklegen eines versicherten Weges gerichtete Handlungstendenz des Klägers habe sich nicht im Vollbeweis feststellen lassen, was zulasten des Klägers ginge.
Das LSG hielt demgegenüber auch bei Zugrundelegung des Vorbringens des Klägers, dass eine aufgetretene Krankheit Grund für die Aufgabe des ursprünglichen Ziels und Umkehr gewesen sei, den erforderlichen inneren Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit für nicht gegeben. Nur wenn sich aus dem Verhalten des Versicherten ergebe, dass die zum Unfall führende Fortbewegung subjektiv auf die Erreichung der Arbeitsstätte ausgerichtet war, liege eine auf Zurücklegung des nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII versicherten Weges gerichtete Handlungstendenz vor, die den Versicherungsschutz für die konkrete Fortbewegung begründet. Indes habe das Verhalten des Klägers im Unfallzeitpunkt nicht mehr dem Erreichen der Arbeitsstätte gedient. Auch ein Weg „von dem Ort der Tätigkeit“ sei nicht gegeben, da der Kläger die Arbeitsstätte am Unfalltag unstreitig nicht erreicht habe. Die krankheitsbedingte Aufgabe der ursprünglichen Absicht habe dazu geführt, dass der innere Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gelöst worden sei und er ab diesem Zeitpunkt aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterwegs gewesen sei. Wenn das LSG Bayern in einem vom Kläger zitierten Urteil (vom 12. Juli 2001 – L 17 U 305/00, juris) entschieden habe, dass eine wegen Übelkeit erforderliche Umkehr nach Hause den bei Fahrtantritt in Richtung Arbeitsstätte bestehenden inneren Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis nicht verdränge, überzeuge dies nicht und stehe auch mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht im Einklang. Eine Parallele zum Urteil des BSG vom 30. März 2023 (B 2 U 3/21 R, juris) zum Unfall eines 16-jährigen Schülers beim sogenannten Bahnsurfen bestehe schon deshalb nicht, weil der Schutz der Schülerversicherung weiter reiche als der der Beschäftigtenversicherung. Zudem habe sich der Junge auf dem Rückweg von der Schule nach Hause befunden.
Der Entscheidung des LSG ist trotz bestehender Bedenken gegenüber den Erwägungen zum Lösen des inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit zuzustimmen. Selbstverständlich diente der Weg, wenn man das Vorbringen des Klägers als richtig unterstellt, dem Erreichen der Arbeitsstätte und diese Motivation wurde mit der Umkehr nicht entscheidend aufgegeben. Die mit dem Auftreten von Krankheitssymptomen entstandene neue Motivationslage, nach Hause zurückzufahren und sich auszukurieren, beseitigte die bisherige Handlungstendenz nicht völlig. Vielmehr ergab sich aus dem Bewusstsein, arbeitsunfähig zu sein und damit des Scheiterns der beabsichtigten Arbeitsaufnahme, keine völlig neue Handlungstendenz für den einmal aufgenommenen Weg zur Arbeitsstätte. Hätte der Kläger zunächst die Arbeitsstätte erreicht und wäre vom Vorgesetzten nach Hause geschickt worden, um sich auszukurieren, wäre der erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges mit Fahrtrichtung der Wohnung und der betrieblichen Tätigkeit wohl nicht bezweifelt worden, auch wenn der Kläger auf der Arbeitsstätte keine nennenswerte Arbeitsleistung erbracht hätte. Die Motivationslage hatte sich in dem zu entscheidenden Fall schlicht deshalb geändert, weil der Kläger zur Einsicht gelangt war, eine betriebsdienliche Tätigkeit nicht ausüben zu können.
Letztlich ist der fehlende Ausgangspunkt Arbeitsstätte der Grund für die Versagung des Versicherungsschutzes, da das Ziel des Weges nunmehr offensichtlich die Wohnung des Klägers war, er sich also auf dem Weg „vom Ort der Tätigkeit“ befand, ohne diesen zuvor aufgesucht zu haben. Daher gebietet der Gesetzeswortlaut auch bei fortbestehendem inneren Zusammenhang des Weges mit der betrieblichen Tätigkeit – ohne deren Erreichungsabsicht der Weg nie angetreten worden wäre – die Ablehnung als Wegeunfall. Wege, die nicht auf der Betriebsstätte selbst oder zwischen zwei Arbeitsorten zurückgelegt werden, sind für einen (Wege-)Unfallversicherungsschutz in ihren Grenzpunkten sowie möglichem Verlauf durch die gesetzlichen Regelungen streng vorgegeben und gegenüber unversicherten Wegen deutlich abgegrenzt. Für eine Erweiterung des Schutzes ist der Gesetzgeber zuständig.
Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.