„Eine unserer nächsten Leitinitiativen ist der Europäische Behindertenausweis“

Mit ihrer Strategie 2021–2030 will die EU die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen insgesamt und insbesondere auf dem Arbeitsmarkt abbauen. Im Interview betont Helena Dalli, EU-Kommissarin für Gleichstellung, auch die positive Wirkung des Behindertensports.

Die EU-Kommission verfolgt seit März 2021 die „Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021–2030“, die auf einer früheren Zehnjahresstrategie zum selben Thema aufbaut. Frau Dr. Dalli, wo liegen in Europa die größten Hindernisse für Menschen mit Behinderungen?

Dr. Dalli: Gegenwärtig hat nur die Hälfte der Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz, im Vergleich zu den übrigen Menschen, von denen drei Viertel eine Stelle haben. Ohne einen festen Arbeitsplatz sind Menschen mit Behinderungen eher dem Risiko ausgesetzt, in finanzielle Not zu geraten und aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden.

Das EU-Recht verbietet die Diskriminierung bei der Beschäftigung und verpflichtet Arbeitgebende, angemessene Vorkehrungen zu treffen, zum Beispiel durch den Einbau von Rampen, durch Bildschirmlupen oder flexible Arbeitsregelungen. Diese Rechtsvorschriften tragen zwar erheblich zur Reduzierung von Diskriminierung bei; jedoch obliegt ihre Umsetzung den Mitgliedstaaten.

Im Rahmen der Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021–2030 wurde ein Beschäftigungspaket verabschiedet, das die Einstellungsperspektiven durch aktive Inklusion und die Bekämpfung von Stereotypen fördert. Beides trägt dazu bei, die Chancen von Menschen mit Behinderungen in Zukunft zu verbessern.

Warum dauert es so lange, bis die Maßnahmen und Leitinitiativen umgesetzt werden?

Dr. Dalli: Unsere Zehnjahresstrategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen läuft bis 2030 und unser Ziel ist es, einen Beitrag zur vollständigen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der Gesellschaft zu leisten. Wir haben mehrere Leitinitiativen ins Leben gerufen, um das Leben der 87 Millionen Menschen mit Behinderungen zu verbessern, aber Sie haben ganz recht, es gibt noch sehr viel mehr zu tun.

Eine unserer nächsten Leitinitiativen ist der Europäische Behindertenausweis. Im September 2023 werden wir offiziell einen Europäischen Behindertenausweis vorschlagen, der für alle EU-Mitgliedstaaten gelten soll. Derzeit gibt es keine gegenseitige Anerkennung des Behindertenstatus zwischen den EU-Ländern, was für Menschen mit Behinderungen bei der Ausübung ihrer Freizügigkeit innerhalb der EU zu Schwierigkeiten führen kann. Diese Karte wird einen gleichberechtigten grenzüberschreitenden Zugang vor allem in den Bereichen Kultur, Freizeit, Sport und Verkehr gewährleisten.

Dr. Helena Dalli, EU-Kommissarin für Gleichstellung  | © European Union, 2021
Dr. Helena Dalli, EU-Kommissarin für Gleichstellung ©European Union, 2021

Neben der Einführung eines EU-Behindertenausweises umfasst die Strategie 2021–2030 auch die Umsetzung ausstehender Sozialleistungen für Menschen mit Behinderungen sowie die Empfehlung von Leitlinien für eine bessere Eingliederung in die Gemeinschaft. Wie reagieren die Mitgliedstaaten auf diese Vorschläge?

Dr. Dalli: Zunächst einmal ist es wichtig, daran zu erinnern, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten im Bereich der Behinderungen Vertragsparteien des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind. Das bedeutet, dass sie sich alle dazu verpflichtet haben, die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Einklang mit dem Übereinkommen zu schützen, zu gewährleisten und zu fördern. Es handelt sich hierbei um eine gesetzliche Verpflichtung.

In dieser Hinsicht trägt unsere Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen dazu bei, die Fortschritte zu koordinieren und zu beschleunigen, damit Menschen mit Behinderungen aktiv sein und ihre Rechte in vollem Umfang wahrnehmen können.

Bislang haben die Mitgliedstaaten nur unzureichende Fortschritte erzielt. Deshalb arbeiten wir eng mit ihnen und den einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft zusammen, um EU-weit kohärente Fortschritte bei der Umsetzung des Übereinkommens zu erzielen, insbesondere durch die von uns im vergangenen Jahr eingerichtete Behindertenplattform.

Zu den Erfolgen dieser Plattform gehört der Europäische Behindertenausweis, der noch in diesem Jahr offiziell vorgestellt werden soll. Wir gehen davon aus, dass der Vorschlag von der Kommission im September während der spanischen EU-Ratspräsidentschaft angenommen wird. Der Zugang zu Leistungen im Bereich der sozialen Sicherheit, des Sozialschutzes oder der grenzüberschreitenden Beschäftigung ist bereits durch die EU geregelt und fällt nicht in den Anwendungsbereich des Vorschlags für den Ausweis.

Eine wichtige Leitinitiative zielt auf den Arbeitsmarkt und die Verbesserung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen ab. Wie sieht ein inklusiver Arbeitsmarkt für Sie aus?

Dr. Dalli: Ein inklusiver Arbeitsmarkt verbietet Diskriminierung in Bezug auf die Beschäftigung und fördert die gleichberechtigte Teilnahme aller Menschen am Arbeitsmarkt. Dies erfordert einen sogenannten zweigleisigen Ansatz, der sowohl inklusive und zugängliche Dienstleistungen als auch Maßnahmen zur gezielten Unterstützung von Menschen mit Behinderungen vorsieht.
Mit diesem Ziel haben wir das Beschäftigungspaket für Menschen mit Behinderungen verabschiedet: Es soll sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen durch Beschäftigung in der gesamten EU soziale Eingliederung und wirtschaftliche Autonomie genießen.

Wie steht Deutschland bei der Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen im europäischen Vergleich da?

Dr. Dalli: Während die Beschäftigungslücke zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen auf EU-Ebene 23 Prozentpunkte beträgt, liegt die Beschäftigungslücke in Deutschland bei 30,5 Prozentpunkten, womit Deutschland zu den Schlusslichtern zählt.

Wie könnten Menschen mit Behinderungen erfolgreicher für den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden?

Dr. Dalli: Ich betone, dass es von zentraler Bedeutung ist, unsere Einstellungspolitik und unsere Einstellung zu ändern sowie unsere Infrastruktur barrierefrei zu gestalten, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu bekämpfen und ihre Eingliederung und volle Beteiligung am Arbeitsmarkt zu fördern. Dieser Wandel muss von den Arbeitsvermittlungen ausgehen.

Ein tolles Beispiel für unsere Maßnahmen ist das Toolkit zur Verbesserung der Arbeitsmarktergebnisse von Menschen mit Behinderungen, an dem wir gemeinsam mit den europäischen Arbeitsvermittlungen arbeiten. Das Toolkit bietet einen Überblick über die politischen Rahmenbedingungen der EU und liefert Orientierungshilfen zu den Instrumenten, die zur Bekämpfung von Diskriminierung eingesetzt werden können.

In der Strategie 2021–2030 betonen Sie, dass Menschen mit Behinderungen Zugang zum Sport haben sollten. Warum ist Ihnen das so wichtig? Und wie sieht es mit inklusiven Sportangeboten in Europa aus?

Dr. Dalli: Sport und Wettbewerbe wie die Special Olympics World Games Berlin 2023 sind der Schlüssel zur Förderung eines positiven sozialen Wandels und der Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Im Sport geht es um Respekt, Solidarität, Inspiration, Einigkeit über Grenzen hinweg und vor allem um Gleichheit.

Trägt der Behindertensport dazu bei, Menschen mit Beeinträchtigungen in eine Beschäftigung und damit auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen?

Dr. Dalli: Sport zu treiben kann sehr wertvoll sein, da man dabei Schlüsselkompetenzen und -werte entwickelt, die auf die Arbeitswelt übertragbar sind: Engagement, Anstrengung, Organisationstalent, strategischer Ansatz, Zusammenarbeit und Teamwork. Die Demonstration dieser Fähigkeiten kann zusammen mit einem umfassenden Ansatz der Behörden auf allen Ebenen dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt integriert werden.

Was halten Sie von Initiativen wie der „Special Olympics Zeitung“ oder der „Paralympics Zeitung“? Könnten solche Projekte zu einem gemeinsamen europäischen Handeln führen?

Dr. Dalli: Ich glaube fest an den Wert und die Bedeutung aller Initiativen, die die Teilnahme und Anerkennung von Menschen mit Behinderungen an sportlichen Aktivitäten fördern. Sie spiegeln die Vielfalt der Menschen mit Behinderungen wider und fördern ihre volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft. Ich würde mir wünschen, dass mehr Projekte dieser Art organisiert werden; und wenn dies dazu führt, dass mehr Maßnahmen auf europäischer Ebene ergriffen werden, wäre dies die größte Anerkennung, auf die Sie, wir und alle Menschen mit Behinderungen hoffen können.

Das Interview führte Stefan Boltz.