Soziale Selbstverwaltung – neue Wege und Altbewährtes

Die Friedenswahl ist eine Wahl ohne Wahlhandlung. Das gibt Anlass zur Kritik. Allerdings verfügen die vorgeschlagenen Vertreter und Vertreterinnen über ein besonderes Maß an Erfahrung, die sie in die Selbstverwaltung einbringen können.

In seinem Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2023 wertet der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen Peter Weiß, Mitglied des Deutschen Bundestages (MdB), die Sozialwahlen 2023 ausführlich aus und schlägt der Politik und der Gesellschaft verschiedene Möglichkeiten vor, um die Selbstverwaltung zu stärken. Neben der Einführung einer Geschlechterquote führten nun erstmals fünf Krankenkassen eine Online-Wahl durch. Der Bundesbeauftragte lobt diese Möglichkeit. Gleichzeitig muss er einräumen, dass auch die Online-Wahl nicht zu einer Erhöhung der Wahlbeteiligung führte.

Für die gesetzliche Unfallversicherung sind Online-Wahlen eine nur schwer umsetzbare Möglichkeit der Partizipation. Die gesetzliche Unfallversicherung hält Friedenswahlen ab und beobachtet die Online-Wahlen daher vom Spielfeldrand aus. Wahlhandlungen in der gesetzlichen Unfallversicherung wären organisatorisch herausfordernd, denn der Versichertenstatus ist nicht personengebunden. Er bezieht sich auf die jeweilige Tätigkeit. Viele Versicherte wissen gar nicht, bei welcher Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse sie versichert sind. Es müsste auch bei Online-Wahlen zunächst ein Wahlkataster geschaffen werden. Zudem hat sich auch in diesem Zweig der Sozialversicherung das Instrument der Friedenswahl bewährt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die auf einer Wahlliste Vorgeschlagenen ohne Wahlhandlung als gewählt gelten, sofern entweder aus einer Gruppe nur eine Liste zugelassen ist oder bei mehreren Listen nicht mehr Bewerberinnen und Bewerber aufgestellt sind, als Mitglieder zu wählen sind.

Diese Friedenswahl kann auch nur für eine Seite, also entweder die Arbeitgebenden oder die Arbeitnehmenden/Versicherten durchgeführt werden. Das Rechtsinstitut der Friedenswahlen war in Teilen der Sozialversicherung schon zu Kaisers Zeiten und in der Weimarer Republik bekannt.[1] Die Vorteile einer Friedenswahl liegen auf der Hand. Sie verringert den organisatorischen und finanziellen Aufwand erheblich, da keine Wahlhandlung stattfindet. Die Gewählten stehen schon mit der Aufstellung fest.

Dies ist aber auch ein Punkt, der kritisiert wird. Eine Wahl ohne Wahlhandlung ist nach allgemeinem Verständnis eben keine Wahl. Grundlegende Prinzipien der Demokratie werden geschwächt. Die eigentliche Auswahl der Bewerber und Bewerberinnen wird in die Vorbereitungshandlung verlegt. Es findet kein Wahlkampf und somit keine Auseinandersetzung um die besten Ideen und Konzepte statt. Die Wahlvorschlagslisten füllen sich mit Vertretern und Vertreterinnen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Die Versichertenmitwirkung wandelt sich in eine Verbandsbeteiligung. Das kann man kritisieren. Allerdings verfügen ebendiese Vertreter und Vertreterinnen auch über ein besonderes Maß an Erfahrung, die sie in die Selbstverwaltung einbringen können. Streitige Wahlen würden an der Zusammensetzung der Selbstverwaltung kaum etwas ändern.

Da die Möglichkeit der Friedenswahl vom Gesetzgeber ausdrücklich in § 46 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) IV eröffnet ist und über Jahrzehnte eine gute Erfahrung mit der Friedenswahl in der Sozialversicherung gemacht wurde, obliegt es allein jeweils den Arbeitgebenden und den Arbeitnehmenden/Versicherten zu entscheiden, ob sie den Weg der Friedenswahl oder einer „richtigen“ Wahl gehen wollen. Letzteres ist der demokratischere Weg; jedoch sollte bei einvernehmlichen Wahlvorschlägen auch weiterhin die elegante Abkürzung in Form der Friedenswahl als Alternative zur Verfügung stehen.