„Wir müssen die Sichtbarkeit unserer Selbstverwaltungen erhöhen“
Viele Menschen wissen kaum etwas über die Aufgaben der Sozialen Selbstverwaltung. Wie kann sie in Zukunft bekannter werden und wie können mehr Interessierte für dieses Ehrenamt gewonnen werden? Die Diskussion um das Selbstverständnis und die Stärkung der Selbstverwaltung nimmt Fahrt auf.
Wie sieht Ihr Rückblick auf ein Jahr als Vorsitzende der Mitgliederversammlung aus?
Axmann: Meine langjährige Mitgliedschaft in den Selbstverwaltungen unterschiedlicher Sozialversicherungsträger war eine gute Vorbereitung auf das neue Amt. Insbesondere das Engagement im Finanzausschuss unserer Mitgliederversammlung in der letzten Amtsperiode hat mir einen nahtlosen Einstieg ermöglicht.
Nach der Sozialwahl und der Neubesetzung der DGUV-Gremien waren die vergangenen Monate dadurch geprägt, dass sich Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter kennenlernen und in die inhaltlich anspruchsvollen Themen der jeweiligen Ausschüsse einsteigen mussten.
Die Gremienarbeit der vergangenen Monate hat deutlich aufgezeigt, dass die Aufgabenfülle viel Engagement und aktive Mitarbeit aller Selbstverwalter und Selbstverwalterinnen braucht. Aktiv muss dabei nicht immer bedeuten, dass alle Vertreterinnen und Vertreter in Präsenz teilnehmen müssen. Die Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung bietet, um Zeit und Reisekosten zu sparen, sollten wir meines Erachtens noch mehr ausschöpfen.
Wagner: Die Veränderungen in der Weltpolitik, die Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft und die öffentliche Hand machen auch vor der Selbstverwaltung der DGUV nicht halt. Transformationen in vielen Wirtschaftszweigen, die Digitalisierung, die mittlerweile alle Institutionen und Organisationen entscheidend prägt, und die aus Klimaschutzgründen notwendige Dekarbonisierung stellen uns regelmäßig vor neue Herausforderungen.
Gerne haben wir diese Themen in der Selbstverwaltung der DGUV aufgenommen und sind gemeinsam mit dem Hauptamt dabei, konstruktive Lösungen und Wege für alle Beteiligten zu erarbeiten. Ein sehr spannendes Jahr liegt hinter uns und auch die kommenden Jahre werden unser Wissen und Können fordern. Wir haben im Spitzenverband ein starkes Team und hochkompetente Experten bei unseren gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen, die uns bei der Erarbeitung von Lösungen für alle Herausforderungen unterstützen.

Viele Bürgerinnen und Bürger wissen nur wenig über die Bedeutung und Funktionsweise der Sozialen Selbstverwaltung. Eine Ursache dafür könnte sein, dass die Selbstverwaltung meist im Hintergrund wirkt und viele Menschen nicht wissen, dass sie selbst durch Beteiligung Einfluss nehmen könnten. Der Bundesbeauftragte für die Sozialwahlen, Peter Weiß, hat im September 2024 seinen Abschlussbericht zu den Sozialwahlen 2023 veröffentlicht und unterschiedliche Maßnahmen zur Stärkung der Sozialen Selbstverwaltung vorgeschlagen. Beispielsweise solle sie im Grundgesetz verankert werden. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um den Stellenwert der Selbstverwaltung in der Gesellschaft sichtbarer zu machen?
Wagner: Tatsächlich wäre eine Verankerung der Selbstverwaltung im Grundgesetz hilfreich und aus meiner Sicht sehr begrüßenswert. Es liegt aber auch an uns, unseren Versicherten aufzuzeigen, was Selbstverwaltung und Mitbestimmung bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen bedeuten.
Aktive Selbstverwaltung lebt nur vom Mitmachen – dadurch erhöhen sich ihr Stellenwert und ihre Akzeptanz in der Gesellschaft! Ich möchte daher alle an der Selbstverwaltung Interessierten ermutigen und auffordern, sich bei den jeweiligen Listenträgern der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände über Mitmachangebote zu informieren. Gerne stehen wir als Vorsitzende der Mitgliederversammlung der DGUV als Ansprechpartner für erste Kontakte und Fragen zur Verfügung.
Zu überdenken ist auch, was unser Bildungssystem tun kann, um jungen Menschen unser Sozialversicherungssystem und die Selbstverwaltung näherzubringen und sie dafür zu begeistern.
Axmann: Für mich ist der Stellenwert der Selbstverwaltung gleichbedeutend mit ihrem Image nach innen und nach außen, also in der Öffentlichkeit. Und wenn es uns allen gemeinsam darum geht, die öffentliche Wahrnehmung positiv zu beeinflussen, dann braucht es sicher einen Katalog von Maßnahmen. Nicht vergessen sollten wir dabei, dass ein positives Bild nach außen wesentlich durch ein positives und konsistentes Selbstbild beeinflusst wird.
Bitte haben Sie Verständnis, dass ich an dieser Stelle keinen abschließenden Katalog vorwegnehmen werde, da die Auswertung der Sozialwahlen durch die DGUV und ihre Mitglieder noch nicht abgeschlossen ist. Ich möchte jedoch drei, in meinen Augen wesentliche Bereiche nennen:
Rolle und Selbstverständnis der Selbstverwaltung stärken
Der Abschlussbericht über die Sozialwahlen stellt erstmalig die Forderung auf, der Selbstverwaltung Verfassungsrang zu geben. Die damit einhergehende direkte Klagemöglichkeit beim Bundesverfassungsgericht wäre eine deutliche Stärkung der Selbstverwaltung und wird von uns Arbeitgebervertretern begrüßt.
Das Selbstverständnis der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter erwächst wesentlich aus den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Auch wenn in der Unfallversicherung die Eigensteuerung noch am größten ist – so wird nur hier der Beitragssatz selbst bestimmt –, muss das Subsidiaritätsprinzip wieder stärker gelebt werden: Selbstverwaltung soll durch Satzungsrecht gestalten. Es braucht aber gleichzeitig eine sinnvolle Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Selbstverwaltung und Gesetzgeber. Wenn Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter gefragt werden, warum sie sich engagieren, dann kennen wir doch alle die Antworten: um die Bedingungen in den Unternehmen und Verwaltungen zu gestalten und entscheiden zu können, wie die Beitragsmittel verwendet werden und die Unfallversicherung gleichzeitig dauerhaft tragfähig finanzierbar bleibt.
Öffentlichkeitsarbeit der Selbstverwaltung verbessern
Die Selbstverwaltung sichtbar machen heißt in erster Linie, Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Hier sind die DGUV und die einzelnen Träger nach meinem Dafürhalten schon recht gut unterwegs und nutzen die Möglichkeiten, die die neuen Medien bieten. Dennoch lässt der Bekanntheitsgrad nach wie vor stark zu wünschen übrig, was sich unter anderem auch an der Wahlbeteiligung zeigt. Die Überlegungen des Sozialwahlbeauftragten, Schulen und Bildungsträger zur Informationsvermittlung zu nutzen, sollten meines Erachtens aufgegriffen werden. Öffentlichkeitsarbeit ist immer dann am wirkungsvollsten, wenn sie unmittelbar an die Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Versicherten und Unternehmen anknüpft. Ein gutes Beispiel der Verankerung aus meinem Unfallversicherungsträger, der Unfallkasse Mecklenburg-Vorpommern, ist der jährliche Kindergartentag, auf dem sich Erzieherinnen und Erzieher und die Unfallkasse über aktuelle Themen austauschen.
Digitalisierung nutzen
Ich habe bereits erwähnt, dass wir die Möglichkeiten der Digitalisierung besser ausschöpfen müssen. Dies betrifft neben den neuen Formaten, die sich für Veranstaltungen, Seminare und Schulungen anbieten, insbesondere die eigenen Gremiensitzungen. Wenn die Träger die Möglichkeit bekommen, Anzahl und Umstände der digitalen Sitzungen ihrer Selbstverwaltungsorgane per Satzung selbst zu bestimmen, dann könnten rein virtuelle Sitzungen auch ohne die bisher verlangte außergewöhnliche Notsituation stattfinden. Gerade haben wir es geschafft, mehr Frauen für die Mitarbeit in den Gremien zugewinnen. Für sie, aber letztlich für alle Selbstverwalter und Selbstverwalterinnen ist meines Erachtens ein gutes Zeit- und Kostenmanagement zwingend.
Welche konkreten Inhalte aus der Arbeit der Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter könnten Menschen motivieren, sich in diesem Bereich zu engagieren?
Wagner: Die Reform des Berufskrankheitenrechts ist ein Beispiel für aktive und gelebte Selbstverwaltung. Hier haben wir deutliche Verbesserungen für die Versicherten in den gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen erreicht. Ohne unseren Einsatz als Selbstverwaltung wäre der „Wegfall des Unterlassungszwangs“ so nicht erreichbar gewesen.
Auch die tägliche Arbeit in den jeweiligen Renten- und Widerspruchsausschüssen der Träger und in den Gremien in unserem Klinikkonzern zeigt, wie interessant und abwechslungsreich die Mitarbeit in der Selbstverwaltung sein kann und wie wir beispielsweise zur Verbesserung der medizinischen Notfallversorgung und der Rehabilitation ganz konkret beitragen können.
Axmann: Wenn wir wissen, dass für ehrenamtliches Engagement ein sinnstiftender Aspekt vorhanden sein muss, dann sehe ich diesen bei uns als Arbeitgebervertreter in der Unfallversicherung in der gemeinsamen Gestaltung der Arbeitsbedingungen in den Betrieben und Unternehmen unter der Prämisse der dauerhaften Finanzierbarkeit.
Ich denke, wir können dort auf Mitarbeit hoffen, wo es uns gelingt, die direkten Bezüge zwischen dem Unfallversicherungsschutz im Unternehmen und der Gestaltungsmöglichkeit über ein Mittun in der Selbstverwaltung darzustellen. Wir müssen vermitteln, dass Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter ihre betriebliche Realität unmittelbar gestalten. Sie entscheiden zum Beispiel über Unfallverhütungsvorschriften, die Erhaltung und Erneuerung der Infrastruktur der DGUV und der Träger oder beteiligen sich in Renten- und Widerspruchsausschüssen.
Trotz der neuen Möglichkeit der Online-Wahl bei den Sozialversicherungswahlen ist die Wahlbeteiligung so niedrig gewesen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Welche Gründe sehen Sie hierfür?
Axmann: Für den Rückgang der Wahlbeteiligung im vergangenen Jahr im Vergleich zur vorletzten Wahl 2017 um fast acht Prozent gibt es meines Erachtens nicht nur eine einzige Ursache. Trotz verstärkter Öffentlichkeitsarbeit und der Nutzung neuer Medien haben sich nicht ausreichend Menschen angesprochen gefühlt und sich damit identifiziert. Es konnte keine „Betroffenheit“ erreicht werden. Da hilft es auch nicht festzustellen, dass die Sozialwahl als drittgrößte Wahl in Deutschland mit im Trend von Landtags- und Kommunalwahlen liegt, bei denen die Beteiligung zwischen 2019 und 2023 ebenfalls deutlich zurückgegangen ist. Wir werden als Unfallversicherung in Vorbereitung der Wahlen 2029 prüfen müssen, welche Möglichkeiten bisher noch nicht ausreichend genutzt worden sind. Gleichzeitig haben alle Aktivitäten, die wir zur Erhöhung der Sichtbarkeit unserer Themen und unserer Selbstverwaltungen umsetzen, direkte Auswirkungen auf das Interesse der Wählerinnen und Wähler in sechs Jahren.
Wagner: Ich denke, wir müssen hier selbstkritisch sein. „Tue Gutes und rede darüber“ lautet ein altes Sprichwort. Wo können wir unsere bestehende Kommunikation mit den Versicherten und der Gesellschaft optimieren und auch ausweiten? Sprechen wir die Sprache unserer Versicherten oder sind wir zu sehr in unserer Fachsprache unterwegs? Können wir die sozialen Medien und Netzwerke noch stärker für uns nutzen als bisher? Klar ist, für eine höhere Wahlbeteiligung benötigen wir einen noch höheren Bekanntheitsgrad in der Gesellschaft. Hier sind sowohl die Politik als auch wir selbst gefordert, um die Selbstverwaltung bekannter zu machen – vielleicht mit mehr Energie als bisher.
Was können die Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter für eine Revitalisierung der Institution Selbstverwaltung tun?
Wagner: Mit gutem Beispiel vorangehen! Ich erzähle überall, wo auch immer ich bin, im privaten sowie im beruflichen Umfeld, in meiner Freizeit und bei Freunden, was ich tagtäglich in und für die Selbstverwaltung mache. Häufig sehe ich dann erstaunte Gesichter und höre: „Oh, ich wusste gar nicht, wie vielfältig und abwechslungsreich ehrenamtliche Arbeit in der Selbstverwaltung ist.“ Jeder und jede von uns kann durch seine Erzählungen dazu beitragen, die Institution Selbstverwaltung in der gesetzlichen Unfallversicherung aufregend, interessant und spannend zu machen.
Revitalisierung bedeutet aber nicht nur für die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Unfallversicherung aktives Handeln. Alle Sozialversicherungsträger mit Selbstverwaltung sind aufgefordert, darüber nachzudenken, wie man in einer gemeinsamen starken Offensive das Thema Revitalisierung der Selbstverwaltung in der Gesellschaft aktiv angehen kann.
Für die nächste Sozialwahl gilt es auch, das Thema Online-Wahlen weiter voranzutreiben, wo diese möglich sind. Denn auch in diesem Punkt müssen wir mit der Zeit und den Bedürfnissen der Versicherten gehen. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Veränderungen im Tariftreuegesetz machen betriebliche Wahlen bereits 2026 als Online-Wahlen möglich. Wir schauen hier gespannt auf die Ergebnisse und Erfahrungen aus den Betrieben.
Moderne Zeiten erfordern eine moderne, zeitgemäße und demokratische Selbstverwaltung. Wäre Charlie Chaplin heutzutage gesetzlich unfallversichert, würde er vielleicht sagen: „Selbstverwalter zu sein, kann ja so erfreulich und wunderbar sein, wir müssen es nur wieder zu leben lernen.“
Axmann: In dieser Wahlperiode muss es uns gelingen, in einer konzertierten Aktion mit den anderen Trägern die Soziale Selbstverwaltung stärker als bisher ins Blickfeld der Wählerinnen und Wählern zu bringen. Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch.
Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter stehen mit ihrer Person und ihrem Handeln für die Unfallversicherung. Sie machen auf jeder Ebene, in jeder Ausschusssitzung Sozialpolitik. Unsere Entscheidungen betreffen die Unternehmen und die Beschäftigten direkt und unmittelbar. Dies noch stärker nach außen zu tragen, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Letztlich ist jeder von uns Botschafter in Sachen Selbstverwaltung.
Das Interview führte Dr. Anna Kavvadias.