Mitbestimmung in der gesetzlichen Unfallversicherung von den Anfängen bis heute
Die Geschichte der gesetzlichen Unfallversicherung beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rasant verändert die Industrialisierung das ehemals landwirtschaftlich geprägte Land. Um die soziale Lage der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern, wurde unter Bismarck das System der sozialen Sicherung gegründet.
Der Aufbau einer Sozialversicherung in Deutschland ist untrennbar mit Bismarck und seinen Bemühungen zur Schaffung eines Nationalstaats verbunden. Dieser Staat sollte auch soziale Ziele verfolgen – eine Zielsetzung, die von der Kaiserzeit bis in die Neuzeit das politische Geschehen in Deutschland grundlegend prägt.
Doch nicht nur Fürsorge und Sozialstaatlichkeit wurden mit den bismarckschen Gesetzen zur Gründung der einzelnen Sozialversicherungen fest im Kaiserreich etabliert, sondern mit ihnen einhergehend auch Formen der Mitbestimmung der Betroffenen, auch wenn diese lange Zeit fast ausschließlich auf die Arbeitgeber beschränkt blieben. Ganz neu waren Formen sozialer Sicherung und Mitbestimmung auch schon vor und zu Zeiten Bismarcks nicht. Bereits im 13. Jahrhundert schlossen sich Bergbauarbeiter zur gegenseitigen Unterstützung in sozialen Notlagen zu Knappschaften zusammen. Mit der Industrialisierung, der Auflösung der alten Ordnung und ihrer Versorgungssysteme und der damit einhergehenden zunehmenden Verelendung vieler Industriearbeiter und ihrer Familien waren seit dem frühen 19. Jahrhundert unterschiedliche politische Kräfte zunehmend bemüht, Vorsorge zum Schutz und zur Fürsorge für die Arbeiterschaft zu treffen. Dies geschah vonseiten der entstehenden Sozialdemokratie einerseits, von Politikern wie Lorenz von Stein andererseits.[1]Auch die deutsche Monarchie und Kanzler Bismarck widmeten sich der sozialen Frage. Sie suchten nach Lösungen, die sie freilich mit politischen Zielsetzungen wie der „inneren Reichsgründung“ verbanden. So hatte Bismarcks Sozialpolitik mehrere Ziele: Neben der Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter sollte die Bindung der zu gründenden Körperschaften und der Arbeiterschaft an den Staat, das Deutsche Kaiserreich, erreicht werden. Neben der beabsichtigten Integration und Bindung der intermediären Institutionen sowie der Individuen, sollte mit der Schaffung von Sozialversicherungen auch einem weiteren Erstarken der Sozialdemokratie sowie anderer Parteien, die bislang als Interessenvertretungen der Arbeiter tätig waren, zuvorgekommen werden.[2]
Am 17. November 1881 trug Kaiser Wilhelm I. vor dem Reichstag die von Bismarck konzipierte Kaiserliche Botschaft vor. Darin kündigte er das Vorhaben an, gesetzliche Grundlagen für die Einführung einer Sozialversicherung zu schaffen. Diese sollte verschiedene Zweige umfassen. Ihre Träger sollten in Gestalt korporativer Genossenschaften organisiert sein. Diese sollten befugt werden, „durch eigene Satzungen ihren Leistungsumfang zu regeln. Die Willensbildung erfolgte jeweils durch autonome Entscheidungen der hierzu gewählten Vertreter aus den Korporationskreisen.“[3]
Unfallversicherungsgesetz von 1884 begründet Pflichtversicherung
Mit den Sozialversicherungsgesetzen der 1880er-Jahre wurden die verschiedenen Zweige der sozialen Sicherung als Pflichtversicherungen gegründet sowie ihre Finanzierungsformen und die Mitbestimmungsrechte der Betroffenen geregelt. Mit dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 wurde eine gesetzliche Pflichtversicherung eingeführt. Es wurde bestimmt, dass unabhängig von der Frage der Verschuldung die Berufsgenossenschaften die Haftung für Arbeitsunfälle und die Folgekosten übernahmen und Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen hatten.[4] Die Unfallversicherung wurde durch Berufsgenossenschaften, die nach Gewerbezweigen und nach regionalen Bezirken gegliedert waren, getragen. Ihre Organe waren die Genossenschaftsversammlung und der Genossenschaftsvorstand. Die Genossenschaftsversammlung bestand in der Regel aus sämtlichen Mitgliedern oder ihren Vertretern. Diese waren in der Regel die Arbeitgeber, da sie die Beiträge zu entrichten hatten. Zwar hatten die Berufsgenossenschaften die Möglichkeit, in ihren Satzungen zu bestimmen, dass auch Versicherte den Gremien angehören konnten, doch „von dieser Möglichkeit wurde im Allgemeinen kein Gebrauch gemacht.“[5]Sofern nicht alle Mitglieder in der Genossenschaftsversammlung vertreten waren, fanden Wahlen statt. Wahlberechtigt waren wiederum lediglich die Unternehmer oder ihre gesetzlichen Vertreter, die der Genossenschaft angehörten. Etwas mehr Mitbestimmung erlangten die Versicherten in den Berufsgenossenschaften durch einen Erlass im Jahr 1890, der Mitspracherechte der Arbeiterschaft bei Änderungen in der Fabrikordnung und die Gründung von Arbeiterausschüssen vorsah. 1884 nahm das neu gegründete Reichsversicherungsamt (RVA) seine Arbeit auf. Es war Aufsichtsbehörde der Berufsgenossenschaften, setzte sich zusammen aus vom Bundesrat gewählten Vertretern sowie aus Vertretern der Arbeitgeber und Versicherten.[6]
1911 wurden in der Reichsversicherungsverordnung (RVO) die gesetzlichen Normen der Versicherungsträger in einem Gesetzeswerk zusammengefasst. Eine einheitliche Grundlinie über alle Träger der sozialen Sicherung hinweg war, dass die Organe der Selbstverwaltung zweistufig gegliedert waren. Dass sich in den Berufsgenossenschaften die Organe in der Regel aus Arbeitgebern zusammensetzen, da sie nach wie vor die Beiträge aufwendeten, blieb unberührt. Mehr Mitbestimmung wurde den Versicherten im Zusammenhang mit Unfallverhütungsvorschriften gewährt. So regelte die RVO, dass die Berufsgenossenschaften Unfallverhütungsvorschriften herauszugeben hatten und dass diese mit Vertretern der Versicherten in gleicher Anzahl der Vorstandsmitglieder – also paritätisch – zu beraten und zu beschließen seien.[7]Arbeitervertreter waren fortan auch für Schiedsgerichte und für die Teilnahme an Unfalluntersuchungen zu wählen. Gewählt wurde durch die Vorstände der Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen und der Knappschaften unter Ausschluss der Arbeitgebervertreter.[8]Die Wahlen fanden als indirekte Wahl statt: Die von den Arbeitern gewählten Vorstände der Krankenkassen wählten oder ernannten Vertreter für die Unfallversicherung. Nichtständige Vertreter der Arbeitgeber für das RVA wurden von den Berufsgenossenschafts-Vorsitzenden in einer Versammlung gewählt, was den Grundstein für die Bildung des Verbands der deutschen Berufsgenossenschaften legte.[9]Aber auch hier gab es keine paritätische Besetzung.
Während des Ersten Weltkrieges waren Wahlen zu den ehrenamtlichen Organen und Ausschüssen ausgesetzt. In der Weimarer Republik gab es rege Diskussionen um eine zeitgemäße Reform der Sozialversicherung und Einbindung der Versicherten in die Aufsichtsarbeit und in die Gremien der Berufsgenossenschaften. Mit Inkrafttreten der Verordnung über Vereinfachungen in der Sozialversicherung vom 30. Oktober 1923 mussten die Berufsgenossenschaften Einrichtungen treffen, „die sicherstellten, dass an der Feststellung der Leitungen mindestens ein Vertreter der Versicherten beteiligt werde.“[10]Wohlgemerkt – ein Vertreter. Von einer Parität zwischen Arbeitgebern und Versicherten war man mit dieser Regelung noch weit entfernt. Dennoch gab es in der Weimarer Republik eine bedeutende Neuerung. Mit dem Gesetz über die Änderung der Wahlen nach der Reichsversicherungsordnung vom 13. April 1922 wurde die Zulassung von Frauen zu den Ehrenämtern in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung geregelt.[11] Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurden die Wahlen zu den Gremien der Selbstverwaltung aufgehoben und das Führerprinzip anstelle der Selbstverwaltung eingeführt.
Gleichberechtigung von Versicherten und Arbeitgebenden
„Die Selbstverwaltung der Sozialpartner muss an die Stelle staatlicher Bevormundung treten.“[12] Mit diesen Worten kündigte Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung am 20. September 1949 die Wiederbelebung der Selbstverwaltung an. Mit dem Gesetz über die Selbstverwaltung vom Februar 1951 wurde – 70 Jahre nach Gründung der gesetzlichen Unfallversicherung durch Bismarck – die gesetzliche Unfallversicherung wiedererrichtet. Träger der Unfallversicherung waren gewerbliche und landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften sowie eigene Unfallversicherungsträger des Bundes, der Länder und der Gemeinden.[13] Als Rechtsform der Träger wurden Körperschaften öffentlichen Rechts mit paritätischer Selbstverwaltung vorgesehen. Den Versicherten wurde nun eine gleichberechtigte Rolle neben den Arbeitgebenden in der Verwaltung der gesetzlichen Unfallversicherung zuteil. Ferner wurden Regelungen zu Organen der Träger und zu Durchführung und Ablauf von Sozialwahlen festgelegt.[14]
Nach der Wiedererrichtung der Sozialversicherung in der Bundesrepublik wurden mehrfach Gesetzesänderungen zur Selbstverwaltung beschlossen, unter anderem wurde das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt und geregelt, dass Wahlunterlagen für eine Briefwahl ohne besonderen Antrag zugestellt werden. Beide Änderungen führten zum starken Anstieg der Wahlbeteiligung.[15] Die letzte Anpassung der Wahlregelungen erfolgte durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (7. SGB IV-ÄndG), das der Deutsche Bundestag im Juni 2020 beschlossen hat. Bei der Betrachtung der einzelnen Änderungen wird die weitgehende Weiterentwicklung des Systems der Selbstverwaltung seit Bismarck evident.
Zwei Neuerungen stechen besonders hervor: die Möglichkeit der Durchführung von Online-Wahlen für die Krankenkassen in den Sozialwahlen 2023 als Modellversuch und die Einführung einer Geschlechterquote bei der Nominierung der Kandidierenden für die Wahlen zur Selbstverwaltung. Für die Krankenversicherungen ist eine feste gesetzliche Geschlechterquote eingeführt worden. Eine Vorschlagsliste muss demnach mindestens 40 Prozent Bewerber und mindestens 40 Prozent Bewerberinnen enthalten. Für die Aufstellung von Vorschlagslisten für die Wahlen zu den Vertreterversammlungen der Renten- und Unfallversicherungsträger regelt das Gesetz, dass fortan eine Soll-Regelung gelten soll. Wird die Quote nicht eingehalten, ist dies schriftlich zu begründen. Die Einführung der Soll-Regelung erfolgte aufgrund der Berücksichtigung besonderer Spezifika der Unfallversicherung. Denn bei der Umsetzung einer branchenübergreifend einheitlichen Frauenquote stünden die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen vor enormen Hausforderungen, da diese die branchenspezifischen Repräsentationen von Frauen und Männern in den Selbstverwaltungen der einzelnen Träger nicht berücksichtigen würde. Des Weiteren verbessert das 7. SGB IV-Änderungsgesetz unter anderem die Rahmenbedingungen für die ehrenamtlichen Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, indem ein ausdrücklicher Anspruch auf Freistellung für die Teilnahme an den Sitzungen sowie ein neuer Anspruch auf Fortbildung eingeführt werden. Es regelt, dass die Aufwandsentschädigungen der Mitglieder der Selbstverwaltungen steuerrechtlich einheitlich bewertet werden sollen. Ferner wird mit dem Gesetz der Zugang zu den Vorschlagslisten zu den Gremien beziehungsweise Wahlen erleichtert und eine verpflichtende Dokumentation des Listenaufstellungsverfahrens eingeführt.
Was mit der Einführung der sozialen Sicherung unter Bismarck noch im Deutschen Kaiserreich begann, erweist sich über mehr als ein Jahrhundert hinweg als stabil, auch aufgrund der sehr hohen Akzeptanz des Sozialstaates in der Bevölkerung . Diese Stabilität geht mit einer Entwicklungsfähigkeit einher, die auf die zugrunde liegenden Prinzipien wie das Subsidiaritätsprinzip, Betroffenenpartizipation und sozialer Ausgleich mithilfe institutionalisierter Verfahren zurückzuführen ist. Die Änderungen bei den Sozialwahlen, die im Wahljahr 2023 zur Geltung kommen, führen diese Entwicklungsfähigkeit gerade im Vergleich zu den Anfängen zu Zeiten Bismarcks vor Augen. Sie sind ein Meilenstein von vielen, die den Weg der gesetzlichen Unfallversicherung vom bismarckschen Gedanken der Fürsorge und sozialer Sicherung hin zu zeitgemäßer Mitbestimmung aller Betroffenen und einer an die Bedürfnisse und Herausforderungen der Zeit angepassten Unfallversicherung säumen.