Wiedereinsetzen des Versicherungsschutzes für Nutzende öffentlicher Verkehrsmittel nach Unterbrechung des unmittelbaren Weges
Nach einer Unterbrechung des Heimwegs setzt der Wegeunfallversicherungsschutz für Nutzende öffentlicher Verkehrsmittel wieder ein, sobald sie subjektiv mit der Handlungstendenz unterwegs sind, die eigene Wohnung zu erreichen, und objektiv dieselbe Strecke in dieselbe Richtung wie das öffentliche Verkehrsmittel zurücklegen, ohne dass das Verkehrsmittel wieder genutzt werden muss.
BSG, Urteil vom 28.06.2022, Az. B 2 U 16/20 R
Der Lebenspartner des Klägers, der als Sonderrechtsnachfolger des verstorbenen Unfallopfers den Rechtsstreit führte, hatte am Unfalltag nach Dienstschluss den Heimweg mit der Straßenbahn angetreten. Von den grundsätzlich für den Heimweg verfügbaren zwei Straßenbahnlinien mit jeweils zehnminütiger Taktung, aber unterschiedlicher Wegstrecke benutzte er üblicherweise die erstbeste Straßenbahn und nahm die gegebenenfalls längere Fahrt in Kauf, um Wartezeiten zu vermeiden. Anders als die kürzere führt die längere Straßenbahnlinie an der Praxis seiner Hausärztin vorbei. Er nutzte am Unfalltag die längere Straßenbahnlinie, um zwischendurch bei seiner Hausärztin ein Rezept abzuholen. Als er nach Verlassen der Hausarztpraxis den Weg in Richtung seiner Wohnung zu Fuß auf gleicher Strecke und in selber Richtung wie die Straßenbahn zur nächsten Zwischenhaltestelle fortsetzte, wurde er beim Überqueren einer Fahrbahn verletzt.
Die beklagte Unfallversicherungsträgerin lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls als Wegeunfall ab. Der Lebenspartner des Klägers sei nach Verlassen der Straßenbahn und Unterbrechung des versicherten Heimwegs für eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit nicht wieder auf den versicherten Weg zurückgekehrt. Dafür hätte er sich zur Haltestelle begeben und wieder in die Straßenbahn einsteigen müssen. Für die Wiederbegründung des Versicherungsschutzes nach Verlassen des einmal gewählten Beförderungsmittels habe es eines objektiven Kriteriums bedurft, um den Versicherungsschutz wieder aufleben zu lassen.
Dem widersprach das Bundessozialgericht (BSG) ebenso wie bereits die Vorinstanzen. Zwar habe der Lebenspartner den versicherten Weg verlassen (mit der Folge des Entfallens des Versicherungsschutzes), als er an der vorausgegangenen Zwischenhaltestelle aus der Straßenbahn ausstieg. Eine Unterbrechung liege vor,
- wenn die versicherte Person ihre Handlungstendenz aus eigennützigen Gründen ändere und
- sich einer anderen, nicht nur geringfügigen Tätigkeit zuwende oder den eingeschlagenen Weg verlasse, um an anderer Stelle einer privaten Verrichtung nachzugehen und
- erst danach auf den ursprünglichen Weg zurückzukehren.
Auf Fahrten im Individualverkehr (Kfz, Fahrräder) liege die das Ende der Unterbrechung und die Wiederbegründung des Versicherungsschutzes markierende Handlung darin, dass die unterbrochene Fahrt nach außen hin erkennbar fortgesetzt wird. Erkennbar sei dies bereits am Einsteigen in das geparkte Fahrzeug, am Starten des Motors, am Losfahren oder erst am Einfädeln in den fließenden Verkehr (was der Senat bislang offengelassen hat). Dagegen müsse bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel das jeweilige Fahrzeug (zum Beispiel Bus oder Straßenbahn) weder erreicht noch bestiegen sein; vielmehr genüge es, wenn die Versicherten zu Fuß den Verkehrsraum erreichten, den auch das öffentliche Verkehrsmittel benutze, also dieselbe Strecke in dieselbe Richtung wie das öffentliche Verkehrsmittel zurücklegten. Wenn sie also im weiteren Streckenverlauf an einer späteren Haltestelle wieder zusteigen, so beenden sie die unversicherte Unterbrechung bereits dann, wenn sie in Zielrichtung den Fußweg einschlagen, der parallel in unmittelbarer Nähe der Strecke beziehungsweise Trasse verläuft, die das öffentliche Verkehrsmittel nutzt.
Der Senat erkennt hier keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zwischen Versicherten, die öffentliche Verkehrsmittel nutzen, und solchen, die sich mit einem eigenen Gefährt oder zu Fuß fortbewegen. Solche Unterschiede ergäben sich letztlich aus den Eigenheiten, die mit dem Einsatz der unterschiedlichen Fortbewegungsmittel verbunden seien, wobei der Verzicht auf eine die Unterbrechung beendende Handlung für die Fortbewegung zu Fuß darin begründet liege, dass bei der Fortbewegung zu Fuß keine objektiv wahrnehmbare äußere Grenze existiere, die Ungleichbehandlung also „in der Natur der Sache“ begründet sei.
Es erscheint nachvollziehbar, dass bei der Bewertung des Versicherungsschutzes den Eigenheiten der jeweils gewählten Fortbewegungsart Rechnung getragen wird. Dennoch hätte sich aus der ursprünglichen Wahl des einen Fortbewegungsmittels (Straßenbahn), mit dem der Heimweg üblicherweise zurückgelegt wurde und ersichtlich auch wieder fortgesetzt werden sollte, auch eine andere Bewertung ergeben können – nämlich Wiederaufleben des Versicherungsschutzes erst nach Beendigung der ersichtlich hier ausschließlich für die private Verrichtung gewählten Fortbewegungsart (zu Fuß) mit Erreichen der weiteren Haltestelle. Letztlich muss aber entscheidend sein, dass – wie der Senat eingangs in der Begründung seiner Entscheidung hervorhebt, nicht der Weg zwischen dem gesetzlichen Start- und Zielpunkt „an sich […], sondern dessen Zurücklegen versichert [ist], also das ‚Sichfortbewegen‘ beziehungsweise ‚Unterwegssein‘ auf der Strecke zwischen beiden Punkten mit der Handlungstendenz, den […] Zielort zu erreichen.“ Dies lässt den Versicherten eben eine große Freiheit bei der Wahl und auch einem Wechsel des jeweiligen Fortbewegungsmittels.
Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.