Klein- und Kleinstunternehmen bei der Gefährdungsbeurteilung unterstützen

Die vollständige Durchführung und Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung stößt in Klein- und Kleinstunternehmen oftmals auf Probleme. Hier gibt die Unfallversicherung durch eine gezielte Ansprache Unterstützung durch verschiedene Präventionsleistungen. Wie können diese optimal auf den Bedarf der Unternehmen zugeschnitten oder sogar erweitert werden.

Einleitung

Obwohl das Arbeitsschutzgesetz sie dazu verpflichtet, führt nur etwa die Hälfte der deutschen Unternehmen eine Gefährdungsbeurteilung durch.[1] Insbesondere von den Klein- und Kleinstunternehmen führt nur knapp ein Viertel eine Gefährdungsbeurteilung durch.[2]

Allerdings sind diejenigen Klein- und Kleinstunternehmen, die offiziell keine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt haben, nicht unbedingt inaktiv in Sachen Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass es in diesen Unternehmen eine Vielzahl von Maßnahmen und Aktivitäten gibt, die allerdings nicht als Gefährdungsbeurteilung angesehen werden.[3]

Die Erfahrungen der Aufsichtspersonen der Unfallversicherungsträger  zeigen außerdem, dass diese Unternehmen häufig zumindest bestimmte „klassische“ Maßnahmen zur Arbeitssicherheit ergreifen, wie beispielsweise die Beschaffung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA).

Diese Aktivitäten und Maßnahmen gilt es zu nutzen und durch geeignete Unterstützung seitens der Unfallversicherungsträger auf Basis der entsprechenden Präventionsleistungen[4] weiter in Richtung einer angemessenen Gefährdungsbeurteilung zu entwickeln. Ein möglicher systematischer Ansatz dazu soll im Folgenden diskutiert werden.

Präventionsleistungen und GDA-Leitlinie „Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation“

Die GDA-Leitlinie „Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation“[5] legt den Rahmen für die Beratung und Überwachung der Unternehmen zum Thema Gefährdungsbeurteilung für die Aufsichtsdienste der Unfallversicherungsträger und der Länder fest. Sie sieht bei nicht angemessener oder gar nicht durchgeführter Gefährdungsbeurteilung ein stufenweises Vorgehen vor:

  1. Beratung zu gesetzlichen Pflichten und Möglichkeiten der Hilfestellung; bei nicht ausreichender Qualifizierung der Verantwortlichen zusätzlich Hinweis auf folgende Unterstützungsmöglichkeiten bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung:
  • Beratung vor Ort durch die Fachkraft für Arbeitssicherheit, den Betriebsarzt oder die Betriebsärztin
  • Nutzung von Medien, wie zum Beispiel Handlungshilfen der  Unfallversicherungsträger
  • Beratung durch externe Dienstleistungsunternehmen oder Berufsverbände

    2. Motivationsgespräch zum betrieblichen Nutzen der Gefährdungsbeurteilung

    3. Anordnung – schriftliche Aufforderung mit Fristsetzung und Nachverfolgung

Die Unfallversicherungsträger können hier an einigen Stellen mit Präventionsleistungen anschließen und so die Unternehmen darin unterstützen, ihr Potenzial zur Durchführung einer angemessenen Gefährdungsbeurteilung selbst zu entwickeln. Hierfür infrage kommende Präventionsleistungen sind „Beratung auf Anforderung“, „Information, Kommunikation und Präventionskampagnen“ (für Hilfestellung), „Qualifizierung“, „Anreizsysteme“ (für Motivation) sowie „Überwachung einschließlich anlassbezogener Beratung“ (für Nachverfolgung).

Präventionsleistungen „Beratung auf Anforderung“ und „Überwachung einschließlich anlassbezogener Beratung“

Ziel dieser beiden Präventionsleistungen ist neben einer geeigneten Arbeitsschutzorganisation insbesondere die stärkere Wahrnehmung der Eigenverantwortung des Unternehmens im Bereich Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit und Ausbildung.

Die Präventionsleistung „Beratung auf Anforderung“ wendet sich mit zielgerichteten Informationen zur Integration von Sicherheit und Gesundheit in die betrieblichen Abläufe in kleinen Unternehmen in der Regel direkt an den Unternehmer oder die Unternehmerin. Die Aufsichtsperson oder die Präventionsberatung wirkt vor Ort darauf hin, dass bei einer Beratung diese persönlich am Beratungsgespräch teilnehmen.

Die Präventionsleistung „Überwachung einschließlich anlassbezogener Beratung“ richtet sich ebenfalls direkt an den Unternehmer oder die Unternehmerin. Durch eine systematische schriftliche oder Vor-Ort-Überprüfung stellt sie die gesetzeskonforme Umsetzung der technischen, organisatorischen und persönlichen Voraussetzungen für sicheres und gesundes Arbeiten in den Unternehmen sicher. Sofern im Einzelfall erforderlich, darf die Überwachung im Zuge der Nachverfolgung auch die Einleitung entsprechender Verwaltungsverfahren bis hin zu Anordnungen, Bußgeldverfahren oder Zwangsgeld nicht ausschließen.

In der Praxis vor Ort gestaltet sich der Übergang zwischen den beiden Präventionsleistungen fließend: Während der Überwachung berät die Aufsichtsperson zu rechtlichen Hintergründen, möglichen Maßnahmen zur Beseitigung von Mängeln und zur Weiterentwicklung von Prozessen in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit. Stößt eine Aufsichtsperson während einer Beratung auf gravierende Mängel oder akut gefährdende Faktoren, so ist sie verpflichtet, die Mängelabstellung systematisch nachzuverfolgen und zu überwachen.

Um die Motivation und Eigeninitiative der Unternehmen zu stärken, erfordert es einen kooperativen Dialog „auf Augenhöhe“. Dabei sollen die Erwartungen des Unternehmers und der Unternehmerin berücksichtigt werden. Bereits vorhandene Lösungen oder Maßnahmen im Unternehmen sollen gewürdigt, akzeptiert und aufgegriffen sowie auf deren Basis weitere Lösungswege aufgezeigt werden. Zusätzlich soll im Gespräch auf die betrieblichen Chancen durch vorgeschlagene Maßnahmen hingewiesen werden – sowohl in rechtlicher und finanzieller Hinsicht als auch mit Blick auf die Gestaltung robuster Prozesse und Abläufe. Damit wird der Nutzen einer systematisch durchgeführten Gefährdungsbeurteilung für das Unternehmen, nicht zuletzt auch im Sinne eines echten Wettbewerbsvorteils, dargestellt.

Sollte diese Vorgehensweise im Unternehmen nicht auf fruchtbaren Boden fallen, bleibt nur die im Rahmen der Überwachung vorzunehmende Nachverfolgung, wie sie in der GDA-Leitlinie vorgegeben ist.

Präventionsleistung „Information, Kommunikation und Präventionskampagnen“

Der Aufgabenbereich von Information und Kommunikation umfasst die Präsentation der Präventionskonzepte auf Veranstaltungen (zum Beispiel in Foren, Kongressen, Messen) sowie die systematische bedarfsorientierte Erarbeitung, Aktualisierung und Verteilung von schwerpunkt-, tätigkeits-, branchen- oder betriebsbezogenen Informationsmaterialien zu Sicherheit und Gesundheit als Handlungshilfen für die Praxis.

Ziel dieser Präventionsleistung ist unter anderem, die Zielgruppen zwecks Vermittlung der Präventionsinhalte systematisch zu erreichen.

Egal ob in Vorträgen, beim Einsatz von Kampagnentools oder von Handlungshilfen – sie alle müssen für Gefährdungen bei der Arbeit sensibilisieren, handlungsanleitend sein und bei Berücksichtigung auch Nutzen bringen. Eine Voraussetzung dafür ist, dass Informations- und Kommunikationsmittel sowie Handlungshilfen auch an unterschiedliche Unternehmensgrößen angepasst und nutzerorientiert sind. Konkret auf die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung bezogen, sollten Handlungshilfen dazu für Klein- und Kleinstbetriebe möglichst niedrigschwellig ansetzen.

In diesem Sinne könnte es insbesondere für die Unterstützung von Klein- und Kleinstunternehmen lohnenswert sein, branchenbezogene Handlungshilfen für eine vereinfachte Form der Gefährdungsbeurteilung zur Verfügung zu stellen, sofern die erforderliche Angemessenheit der Gefährdungsbeurteilung dabei nicht vernachlässigt wird. Eine Möglichkeit wäre, den Unternehmen ein jeweils spezifisches Vorgehensmodell für die Durchführung sowie ein Grundgerüst für die Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung anzubieten und die Unternehmen bei der konkreten Anwendung entsprechend zu beraten und zu unterstützen. Wichtig erscheint auch, die Unternehmen zu ermutigen, den Prozess der Gefährdungsbeurteilung erst einmal zu beginnen und ihn dann als vorteilhafte, die Arbeitsroutine begleitende Aufgabe im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses mitzudenken. Die Botschaft muss sein: Die Gefährdungsbeurteilung ist auch für Klein- und Kleinstunternehmen machbar!

Präventionsleistung „Qualifizierung“

Die Zielsetzung dieser Präventionsleistung besteht darin, die Motivation und damit die Handlungsbereitschaft zur Wahrnehmung der Verantwortung im Bereich Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit zu fördern. Gleichzeitig sollen die für eine wirksame Wahrnehmung entsprechender Aufgaben erforderlichen Kenntnissen und Kompetenzen systematisch und nachhaltig entwickelt werden.

Im Idealfall werden praxisbezogene niederschwellige und abgestufte Qualifizierungsmaßnahmen zu relevanten Themen aus einem nicht zu weit zurückreichenden zeitlichen Bezugsrahmen (zum Beispiel die vergangenen zwölf Monate) in verschiedenen Formaten angeboten, sodass diese unter Berücksichtigung der jeweiligen Auftragslage von interessierten Betrieben in Anspruch genommen werden können. Das Format von Qualifizierungsmaßnahmen sollte auf die Voraussetzungen der jeweiligen Zielgruppe und Branche Rücksicht nehmen, beispielsweise im Hinblick auf den Umfang von Präsenzveranstaltungen.

Sinnvoll ist es, die Qualifizierungsmaßnahmen nach Möglichkeit gemeinsam mit den jeweiligen Fachverbänden, wie zum Beispiel Handwerkskammern oder Innungen, oder auch mit beruflichen Bildungsstätten sowie regional begrenzt durchzuführen. Vielfach wird dies auch bereits praktiziert. Dabei müssen die Qualifizierungsmaßnahmen auch den Nutzen einer durchgeführten Gefährdungsbeurteilung sowie die möglichen Konsequenzen einer nicht durchgeführten Gefährdungsbeurteilung vermitteln.

Die Qualifizierungsmaßnahmen bieten eine gute Möglichkeit, die vom jeweiligen Unfallversicherungsträger angebotenen Arbeitshilfen vorzustellen. Konkrete praktische Beispiele erhöhen dabei die Bereitschaft, dass solche Instrumente in den Betrieben auch tatsächlich angewendet werden.

Die Erfahrungen im Bildungsbetrieb zeigen, dass Teilnehmende aufgrund der vermeintlichen Komplexität einer Gefährdungsbeurteilung oft Vorbehalte gegen die Durchführung haben. So wird beispielsweise von nach eigenem Empfinden gut strukturierten Unternehmen mit bereits vielen relevanten Dokumenten zur Organisation der Arbeitsprozesse und zur Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten die vermeintlich erneute Dokumentation oft als überflüssig empfunden. Zusätzlich verunsichert die Frage nach dem Umfang der Dokumentation einer Gefährdungsbeurteilung. In nicht wenigen Fällen scheitert die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung an der Frage, ob jeder Arbeitsvorgang für sich betrachtet und dokumentiert werden muss oder ob bestimmte Arbeitsbereiche zusammengefasst werden können. Die Qualifizierung muss daher deutlich machen, dass die Gefährdungsbeurteilung ein planvolles und überschaubares Vorgehen ist, in das bereits Vorhandenes sinnvoll eingebunden werden kann. Im Sinne von „So viel wie nötig, aber so wenig wie möglich“.

Präventionsleistung „Anreizsysteme“

Mit Anreizsystemen gewähren die Unfallversicherungsträger ihren Unternehmen monetäre und nicht monetäre Vorteile in Abhängigkeit von der Durchführung bestimmter Präventionsmaßnahmen oder der Realisierung eines bestimmten Schutzniveaus.

Ziel dieser Präventionsleistung ist es, Anreize für die Unternehmen zur Förderung präventiven Verhaltens und zur eigeninitiierten Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes im Betrieb zu schaffen.

Ob für gesetzlich vorgegebene Pflichten im Arbeitsschutz, wie zum Beispiel die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung, grundsätzlich überhaupt Anreize gesetzt werden sollen, kann durchaus kontrovers gesehen werden. Dennoch erscheinen nicht monetäre Anreize für die Durchführung einer angemessenen Gefährdungsbeurteilung sinnvoll, um die Motivation zu steigern und dadurch Maßnahmen effektiver und nachhaltiger zu gestalten. Geeignete Anreize hierfür können dabei ganz unterschiedlich sein: Wirkungsvoll sind beispielsweise eine vereinfachte Form der Gefährdungsbeurteilung für Kleinunternehmen, die zu erwartenden positiven Wirkungen einer angemessen durchgeführten Gefährdungsbeurteilung oder auch öffentliche Auszeichnungen erfolgreicher Betriebe mit deren entsprechender Anerkennung und Außenwirkung.

Unabhängig davon, welches Anreizsystem im konkreten Fall gewählt wird, müssen Anreizsysteme vielfältig sein, mit der Möglichkeit zur branchenspezifischen und betriebsgrößenabhängigen Ausprägung, und sie dürfen keinen zusätzlichen bürokratischen Aufwand aufseiten der Unternehmen erzeugen. Es bietet sich außerdem an, dass die Unfallversicherungsträger auch bei Anreizsystemen zur Gefährdungsbeurteilung übergreifend zusammenarbeiten, so wie sich dies beim AMS-Gütesiegel „Sicher mit System“ für Managementsysteme für Sicherheit und Gesundheit bereits seit Längerem bewährt.

Zusammenfassung und Ausblick

Seit fast 25 Jahren sind Unternehmen dazu verpflichtet, eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen und zu dokumentieren. In der Praxis ist das bisher jedoch nur teilweise angekommen. Die betriebliche Wirklichkeit zeigt allerdings, dass das Bild positiver ist, als es zunächst scheint. Für den kleinen Anteil an Unternehmen, die sich nicht um Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit kümmern, ist ein auf Prüfung, Anordnung und gegebenenfalls Bußgeldern basierender kontrollorientierter Ansatz gemäß der GDA-Leitlinie „Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation“ der angemessene Weg, um dort eine Gefährdungsbeurteilung durchzusetzen.

Für diejenigen Unternehmen, die zwar bereits Maßnahmen für die Sicherheit und die Gesundheit ihrer Beschäftigten bei der Arbeit durchführen, jedoch über keine angemessene und dokumentierte Gefährdungsbeurteilung verfügen, kann ein über Kontrolle hinausgehender entwicklungsorientierter Ansatz mithilfe ausgewählter Präventionsleistungen ein Weg sein, diese zu entwickeln. Denn Ziel der Präventionsleistungen ist es, Unternehmen zu befähigen und zu motivieren, aus eigener Initiative und Verantwortung dauerhaft die notwendigen Aufgaben im Bereich Sicherheit und Gesundheit wahrzunehmen. Dazu ist es insbesondere in Klein- und Kleinstunternehmen unbedingt erforderlich, den Unternehmer oder die Unternehmerin mit den Präventionsleistungen direkt anzusprechen und dabei den zu erwartenden Nutzen der Gefährdungsbeurteilung für das Unternehmen als zentrales Argument darzustellen. Ein solch entwicklungsorientierter Ansatz erscheint daher geeigneter, um die Verbreitung der Gefährdungsbeurteilung nachhaltig zu fördern.

Literatur

DGUV (2019): Präventionsleistungen der Unfallversicherungsträger der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Berlin 2009, aktualisiert 2019

Lenhardt, U.; Beck, D. (2016): Prevalence and quality of workplace risk assessment – Findings from a representative company survey in Germany. In: Safety Science 86 (2016), S. 48–56

NAK (2017a): Grundauswertung der Betriebsbefragung 2015 und 2011 – betriebsproportional gewichtet. Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz (Hrsg.), Berlin 2017

NAK (2017b): Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation. Geschäftsstelle der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz (Hrsg.), Berlin 2017

Sczesny, C.; Keindorf, S.; Droß, P. (2011): Kenntnisstand von Unternehmen auf dem Gebiet des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in KMU. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Inhaber/innen/Geschäftsführer/innen in Klein- und Kleinstunternehmen. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Forschungsprojekt F 1913, Dortmund/Berlin/Dresden 2011