Gesundheitsorientierte Führung – Implikationen aus Wissenschaft und Praxis

Vor dem Hintergrund der hohen Krankenstände und des Fachkräftemangels ist es für Organisationen besonders wichtig, Mitarbeitende gesund zu erhalten. Ein Werkzeug dafür ist die gesundheitsorientierte Führung. Der Artikel beschreibt das Konzept und geht auf konkrete Umsetzungsempfehlungen im modernen Arbeitskontext ein.

Für das Jahr 2022 berichtete das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) verhältnismäßig hohe Zahlen von Krankenständen in Unternehmen. Diese hohe Zahl an Krankmeldungen führte zu Störungen der betrieblichen Abläufe zum Beispiel im ÖPNV, in Krankenhäusern oder Kitas.[1] Gleichzeitig mehren sich branchenübergreifend die Berichte, dass fehlende Stellen nicht mehr wie gewünscht nachbesetzt werden können. Der Fachkräftemangel ist in Branchen angekommen, in denen man früher leicht neue Kräfte akquirieren konnte – wie beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel und in der Gebäudereinigung. Aus der Beratungs- und Forschungspraxis über verschiedene Branchen hinweg sind Sätze zu hören wie: „Wir stellen heute Leute ein, die wir früher auf Basis der Bewerbungsunterlagen noch nicht einmal zum Vorstellungsgespräch eingeladen hätten“ oder „Inwiefern sollen wir Personalauswahl machen? Wir müssen alle nehmen, die zu uns wollen und diese Menschen dann entsprechend qualifizizren und versuchen zu halten.“

Mit Blick auf die bestehende Belegschaft und angesichts des Fachkräftemangels drängt sich daher die Frage auf: Können es sich Organisationen angesichts dieser doppelten Herausforderung noch erlauben, dass Führungskräfte sich nicht um die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden sorgen?

Arbeit – gesundheitsfördernd oder gesundheitsmindernd?

Gesundheit wird gemäß WHO-Definition nicht nur als die Abwesenheit von Krankheit verstanden, sondern als ein vollständiges körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden (WHO, 2020[2]). Dieser Beitrag bezieht sich auf diese Definition.

Ob Arbeit gesundheitsförderlich oder -vermindernd wirkt, hängt einerseits von typischen Merkmalen bestimmter Berufe und andererseits von individuellen Arbeitsbedingungen ab: Welche Belastungen wirken auf einzelne Mitarbeitende ein? Wie klar sind Rollen und Verantwortlichkeiten definiert? Wie wird auf Fehler reagiert? Inwiefern werden Aufgaben gezielt nach Kompetenzen und Interessen im Team verteilt? Auf die Ausgestaltung vieler individueller Arbeitsbedingungen können Führungskräfte Einfluss nehmen.

Dass die Art und Weise, wie sich Führungskräfte verhalten, einen Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Beschäftigten hat, wurde in Überblicksarbeiten vielfach gestützt.[3] Auf dieser Basis entwickelten sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre mehrere Konzepte für gesunde Führung. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass gesunde Führung sich dadurch auszeichnet, dass sie direkt als Rollenvorbild für gesundes Verhalten am Arbeitsplatz dient. Durch ihr unterstützendes, wertschätzendes Verhalten selbst stellt sie eine Ressource für die Mitarbeitenden dar oder wirkt indirekt über die Gestaltung der Arbeitsumgebung und -aufgaben gesundheitsförderlich.

Im Fokus standen in der Forschung zu gesunder Führung vor allem mitarbeiterorientierte Führungskonzepte, wie die „Transformationale Führung“. Transformationale Führungsverhaltensweisen umfassen die Schaffung eines motivierenden Rahmens durch aktives Vorleben von Werten und die Vermittlung von attraktiven Zukunftsaussichten. Gleichzeitig steht die individuelle Fürsorge für Mitarbeitende im Fokus sowie die Schaffung von individuell passenden Herausforderungen bei der Arbeit. Die gesundheitsförderliche Wirkung der transformationalen Führung ist in der Forschung mittlerweile gut belegt.[4]

Modell der gesundheitsorientierten Führung

Um die Gesundheit der Mitarbeitenden noch fokussierter in den Blick zu nehmen, wurden im Laufe der vergangenen zehn Jahre verschiedene Konzepte für gesunde Führung entwickelt. Ein Modell, das theoretisch fundiert ist und einer vielfachen empirischen Überprüfung standgehalten hat, ist das Modell der gesundheitsorientierten Führung (Health-oriented Leadership = HoL[5]).

Das HoL-Modell kann in Form eines Hauses dargestellt werden (Abbildung 1).

Im Dach befinden sich die angestrebten Ergebnisse, nämlich Gesundheit der Führungskräfte und der Mitarbeitenden. Die Basis bildet die gesundheitsorientierte Selbstführung (SelfCare) der Führungskraft, also das Ausmaß, in dem sich eine Führungskraft um ihre eigene Gesundheit kümmert. Dies ist wichtig, weil eine Führungskraft eine wichtige Vorbildfunktion für Mitarbeitende hat und gesundes Verhalten im Arbeitskontext vorleben kann. Das kann Mitarbeitende anregen, verstärkt SelfCare, also Selbstfürsorge, zu betreiben.

In der Beratungspraxis fällt dieser Einfluss beispielsweise rund um die Grenzziehung zwischen Arbeit und Privatleben auf: Ist eine Führungskraft im Urlaub immer erreichbar und möchte sich um bestimmte Dinge selbst kümmern trotz Urlaub, erzeugt das auch bei vielen Mitarbeitenden das Gefühl, von ihnen werde Ähnliches erwartet. Und selbst wenn die Führungskraft eigentlich möchte, dass ihre Mitarbeitenden den Urlaub zur Erholung nutzen und wichtige Aufgaben vorab delegieren, kann es sein, dass die Mitarbeitenden im Urlaub ihren Posteingang verfolgen und sich immer wieder in die Arbeit einklinken – so wie es ihre Führungskraft als Vorbild vorlebt.

Außerdem bildet die SelfCare der Führungskraft die Basis für gesundheitsorientierte Führung gegenüber den Mitarbeitenden, die sogenannte StaffCare. Neuere Forschung hat bestätigt, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden von Führungskräften zentrale Voraussetzungen dafür sind, dass sie selbst ihre Mitarbeitenden gut und gesundheitsförderlich führen können.[6] Gemäß dem HoL-Modell wirkt die SelfCare der Führungskraft sowohl positiv auf ihre StaffCare als auch auf die Selbstfürsorge (SelfCare) der Mitarbeitenden, was durch verschiedene Studien bereits gestützt wurde. Besonders der Zusammenhang von StaffCare mit verschiedenen Maßen der körperlichen und psychischen Gesundheit der Mitarbeitenden (zum Beispiel bessere Work-Life-Balance) konnte in einer Vielzahl von Studien aufgezeigt werden.

Abbildung 1: Modell der gesundheitsorientierten Führung (Health-oriented Leadership = HoL), nach Franke et al. (2014)  | ©  Dr. Sascha Haun, Dr. Miriam Arnold
Abbildung 1: Modell der gesundheitsorientierten Führung (Health-oriented Leadership = HoL), nach Franke et al. (2014) © Dr. Sascha Haun, Dr. Miriam Arnold

Wichtige Aspekte von SelfCare und StaffCare

Doch wie sehen nun diese SelfCare und StaffCare genau aus? Beide Aspekte des HoL-Modells bestehen aus wiederum drei Punkten:

• Wichtigkeit von Gesundheit

• Achtsamkeit für Gesundheitssignale

• gesundheitsbezogenes Verhalten

Im Rahmen der SelfCare bedeutet dies also, dass man zunächst der eigenen Gesundheit einen hohen Stellenwert beimessen muss (Wichtigkeit). Man muss aufmerksam sein für die Signale des eigenen Körpers sowie für Situationen und Rahmenbedingungen, die ein Risiko für die eigene Gesundheit darstellen (Achtsamkeit). Entsprechend kann das Verhalten angepasst und beispielsweise die Wahl von Pausen bewusster gestaltet, die Organisation der Arbeit verändert und auf Angebote der Gesundheitsförderung im Unternehmen zurückgegriffen werden. Auch die Lebensweise kann mit einem größeren Fokus auf Gesundheit gestaltet werden, zum Beispiel durch gesunde Ernährung und Sport.

Empfehlungen für die Praxis

Das HoL-Modell verdeutlicht mehrere Mechanismen, um die Gesundheit der Belegschaft zu fördern. Im Folgenden werden drei Aspekte herausgestellt, die wichtige Implikationen für die Praxis beinhalten.

Multiple Stellschrauben im  Blick haben

 

Zum einen wird deutlich, dass es sowohl bei Führungskräften als auch Mitarbeitenden mehrere wichtige Ansatzpunkte für Interventionen gibt. Neben der Vermittlung von gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen lässt sich auch an den Punkten „Wichtigkeit“ und „Achtsamkeit“ ansetzen. Zum einen kann der Wert von Gesundheit betont werden. Hierbei empfiehlt es sich, vor allem bei den oberen Führungsebenen anzusetzen. Es sollte ein gemeinsames Verständnis gefördert werden, dass die Gesundheit von Mitarbeitenden ein elementares Gut ist – und in Zeiten von Fachkräftemangel nicht nur eine moralische, sondern auch betriebswirtschaftliche Notwendigkeit.

Zum anderen braucht es auch eine Achtsamkeit gegenüber gesundheitsrelevanten Veränderungen. So stellt sich beispielsweise die Frage, woran ich als Führungskraft merke, dass eine Mitarbeiterin, die gute Arbeitsleistung zeigt, trotzdem unter den aktuellen Arbeitsbedingungen mehr und mehr leidet. Gerade der Aspekt der Achtsamkeit als Führungskraft lässt sich gut in Führungskräftetrainings integrieren, beispielsweise durch Fallarbeit inklusive Ideensammlung zu passendem gesundheitsförderlichem Verhalten.

Zentrale Rolle der Gesundheit  von Führungskräften 

Im Beratungsalltag begegnen uns immer wieder Führungskräfte, denen einerseits bewusst ist, wie wichtig es ist, dass sie ihre Teammitglieder gesund halten, und die andererseits sehr klar vor Augen haben, welche aktuellen Arbeitsbedingungen diesem Ziel entgegenwirken. Dazu gehören beispielsweise hoher Zeitdruck durch die ohnehin ausgedünnte Personalsituation oder körperlich herausfordernde Arbeit, die vorbelastete Mitarbeitende an ihre physischen Grenzen bringt. Andere Führungskräfte sagen, sie wüssten, dass sie sich viel individueller um ihre Mitarbeitenden kümmern und viele Gespräche führen müssten. Gleichzeitig bleiben sie aufgrund des eigenen erlebten Zeitdrucks hinter ihren Erwartungen an sich selbst zurück.

Die Forschung stützt diesen Sachverhalt auch mit empirischen Daten: Organisationen, die gesundheitsorientierte Führung fördern wollen, sollten unbedingt ihre Führungskräfte entlasten und ihnen benötigte Ressourcen zur Verfügung stellen.[7] Insbesondere eine Reduzierung von Stressoren wie „ständige Erreichbarkeit“ und „Multitasking“ sowie eine Erhöhung von Ressourcen wie „Autonomie“ und „soziale Unterstützung“ begünstigen gesundheitsorientiertes Führungsverhalten – und zwar sowohl die Selbstfürsorge der Führungskräfte (SelfCare) als auch die Fürsorge für die Mitarbeitenden (StaffCare). Kommen noch gesundheitsförderliche Personalmanagementstrategien, beispielsweise zur Vermeidung von Unfällen und sonstigen Gesundheitsgefahren, hinzu und effiziente, auf Hochleistung abzielende Arbeitsweisen, wie zum Beispiel faire Leistungsbeurteilung oder guter Informationsaustausch, schaffen Organisationen sehr gute Voraussetzungen für die Gesundheit ihrer Belegschaft.[8]

SelfCare und StaffCare im  modernen Arbeitskontext 

Im Kontext moderner Büroarbeit ist eine Flexibilisierung hinsichtlich Arbeitszeiten und Arbeitsort im Gange, die mit der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Gewöhnung an die Arbeit von zu Hause drastisch beschleunigt wurde. Einerseits wirkt eine derartige Flexibilisierung attraktiv und kann dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Denn so können auch Menschen, die vielleicht immer wieder stundenweise Care-Arbeit im privaten Kontext leisten müssen, trotzdem wirksam in eine Arbeitstätigkeit eingebunden werden. Andererseits verschwimmt so auch die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben. Negative Folgen können eine schleichende Erhöhung der Gesamtarbeitszeit und Stresserleben durch das Gefühl der ständigen Erreichbarkeit sein. Seit vielen Jahren sind deshalb Strategien zum sogenannten „Boundary Management“, also der Grenzziehung zwischen Arbeit und Privatleben, in den Fokus gerückt.

Eine aktuelle Studie zeigt beispielsweise, dass bei der Arbeit von zu Hause der Einsatz bestimmter Grenzziehungsstrategien das mentale Abschalten und die Erholung von Arbeitsstress begünstigt. Als wirksam haben sich zeitliche Strategien erwiesen wie die klare Festlegung von Arbeits- und Freizeiten sowie technische Ansätze wie das Umleiten arbeitsbezogener Anrufe oder das Ausschalten arbeitsbezogener Nachrichten auf dem Smartphone in Freizeiten. Der effektive Einsatz solcher Strategien ist umso wichtiger, je mehr Mitarbeitende das Gefühl haben, ständig erreichbar sein zu müssen.[9]

Mit Blick auf das HoL-Modell sollten Führungskräfte in flexiblen Arbeitskontexten unbedingt in der eigenen Grenzziehung bestärkt werden und darin, wie sie eine sinnvolle Grenzziehung bei ihren Teammitgliedern vereinbaren, einfordern und monitoren können. Es ist essenziell, das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen, im Team zu adressieren: Welche Erreichbarkeit brauche ich als Führungskraft wirklich von meinen Mitarbeitenden – und welche nicht? Und welche Regelungen und Absprachen sollten daher im Team getroffen werden? So können die Chancen flexibler Arbeitsumgebungen genutzt und gleichzeitig Risiken für Gesundheit und Leistungsfähigkeit reduziert werden.

Fazit

Die Förderung der Gesundheit innerhalb eines Teams beginnt bei der Führungskraft selbst. Eine Führungskraft, die sich um ihre eigene Gesundheit kümmert, kann so den Teammitgliedern ein Rollenvorbild sein. Gezieltes gesundheitsorientiertes Führungsverhalten gegenüber den Mitarbeitenden zeigt erwiesenermaßen positive Effekte auf körperliche und psychische Gesundheit der Belegschaft.

Literatur

Arnold, M. & Rigotti, T. (2023): How’s the boss? Integration of the health-oriented leadership concept into the job demands-resources theory. In: Journal of Managerial Psychology. Advance online publication. https://doi.org/10.1108/JMP-01-2023-0030

Franke, F.; Felfe, J. & Pundt, A. (2014): The impact of health-oriented leadership on follower health: Development and test of a new instrument measuring health-promoting leadership. In: Zeitschrift für Personalforschung, 28, S. 139–161. https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/239700221402800108

Geibel, H.; Rigotti, T. & Otto, K. (2022): It all comes back to health: A three-wave cross-lagged study of leaders’ well-being, team performance, and transformational leadership. In: Journal of Applied Social Psychology, 52(7), S. 532–546. https://doi.org/10.1111/jasp.12877

Haun, V. C.; Remmel, C. & Haun, S. (2022): Boundary management and recovery when working from home: The moderating roles of segmentation preference and availability demands. In: German Journal of Human Resource Management, 36(3), S. 270–299.

Inceoglu, I.; Thomas, G.; Chu, C.; Plans, D. & Gerbasi, A. (2018): Leadership behavior and employee well-being: An integrated review and a future research agenda. In: The Leadership Quarterly, 29, S. 179–202. https://doi.org/10.1016/j.leaqua.2017.12.006

Montano, D.; Reeske, A.; Franke, F. & Hüffmeier, J. (2017): Leadership, followers’ mental health and job performance in organizations: A comprehensive meta-analysis from an occupational health perspective. In: Journal of Organizational Behavior, 28, S. 327–350. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/job.2124

Raetze, S.; Duchek, S.; Maynard, M. T. & Kirkman, B. L. (2021): Resilience in Organizations: An Integrative Multilevel Review and Editorial Introduction. In: Group & Organization Management, 46(4), S. 607–656. https://doi.org/10.1177/10596011211032129