Wertschätzung als Gesundheitsfaktor

Mitarbeitende wollen ihren Selbstwert schützen und ausbauen. Doch nicht selten erleben sie Bedrohungen ihres Selbstwertes. Dazu zählen nicht nachvollziehbare Karriereentscheidungen, unnötige Aufgaben oder abwertende Interaktionen. Gelingt es, Abwertungen zu minimieren und Wertschätzung zu fördern, wird damit ein Beitrag für die Gesundheit der Beschäftigten geleistet.

Den Selbstwert zu erhalten und zu erweitern ist ein universelles menschliches Bedürfnis. Wird dieses Bedürfnis verletzt und der Selbstwert bedroht, ist Stresserleben die wahrscheinliche Folge. Die Bedrohung des Selbstwertes wird als wichtiger Stressor im Arbeitskontext diskutiert.[1] Umgekehrt soll erlebte Wertschätzung das Wohlbefinden und die Gesundheit fördern.[2]Zahlreiche Studien stützen diese Annahmen.

Je mehr wertschätzende Ereignisse Beschäftigte an einem Arbeitstag erleben, desto mehr Gelassenheit empfinden sie am Abend – eine wichtige Voraussetzung für Erholung und guten Schlaf.[3] Prümper und Becker[4] konnten zeigen, dass Beschäftigte, die von ihren Führungskräften ein hohes Maß an Wertschätzung erfuhren, im Untersuchungszeitraum von zwölf Monaten deutlich geringere krankheitsbedingte Fehlzeiten aufwiesen im Vergleich zu Beschäftigten, die in geringem Umfang Wertschätzung erlebten. Leiter, Laschinger, Day und Gilin-Oore[5] untersuchten die Effekte eines Organisationsentwicklungsprogramms zur Förderung von Wertschätzung. Die Häufigkeit und Qualität wertschätzener Interaktionen unter Teammitgliedern sollten durch das Programm gesteigert werden. Zentraler Bestandteil des Programms waren Teamworkshops über einen Zeitraum von sechs Monaten mit zwei bis vier Treffen pro Monat. Die Autorinnen und Autoren nutzten ein anspruchsvolles Evaluationsdesign mit Interventions- und Kontrollgruppe und fanden infolge der Wertschätzungsintervention einen Rückgang der krankheitsbedingten Fehltage um 38 Prozent. Zudem ging das Stresserleben zurück. Die Effekte auf das Stresserleben waren auch ein Jahr nach der Intervention noch nachweisbar, während die Effekte auf die Fehltage zurückgingen.[6] Positive Effekte einer Wertschätzungsintervention auf das Stresserleben konnten auch in einer experimentellen Interventionsstudie mit Beschäftigten eines Handelsunternehmens gezeigt werden.[7] Erhalten Beschäftigte Unterstützung und werden ihre Anliegen ernst genommen, erleben sie mehr Wohlbefinden und weisen geringere krankheitsbedingte Fehlzeiten auf.[8] In sechs experimentellen Laborstudien konnten de Cremer und Tyler[9] Effekte von Wertschätzung auf das Erleben von positiven und negativen Emotionen nachweisen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass von unterschiedlichen Forschergruppen in Studien mit unterschiedlichen Forschungsdesigns Hinweise auf Abwertung und Wertschätzung als Einflussfaktor auf Wohlbefinden und Gesundheit vorgelegt wurden. Wenn auch noch wenige Interventionsstudien realisiert wurden, so legen die Ergebnisse die Schlussfolgerung nahe, dass durch Wertschätzungsinterventionen das Stresserleben (zum Beispiel das Erleben von Anspannung und mentaler Erschöpfung) positiv beeinflusst weden kann.

Vier Ansatzpunkte für die Förderung von Wertschätzung

Das Erleben von Abwertung oder Wertschätzung ergibt sich nicht nur aus den sozialen Interaktionen zum Beispiel mit Führungskräften, Kolleginnen und Kollegen oder Kundinnen und Kunden. Werden Mitarbeitende für gute Leistungen gelobt oder werden sie bei Misserfolgen von ihrer Führungskraft harsch angegangen, erschließt sich die abwertende oder wertschätzende Wirkung unmittelbar. Allerdings gibt es weitere zentrale  Einflusskategorien, die Verantwortliche in Organisationen in den Blick nehmen können und die womöglich nicht unmittelbar mit Abwertung und Wertschätzung in Verbindung gebracht werden. Sie sind jedoch nicht minder wichtig.

Arbeitsaufgaben

Abbildung 1 zeigt vier verschiedene Kategorien mit Beispielen. So spielen die Arbeitsaufgaben für das Erleben von Abwertung oder Wertschätzung eine wichtige Rolle. Werden beispielsweise Aufgaben als unnötig oder als unangemessen mit Blick auf die Stelle wahrgenommen, so kann dies eine Bedrohung des Selbstwertes darstellen.[10] Ein Mitarbeiter, der für seine Führungskraft Auswertungen erstellt und feststellen muss, dass die Führungskraft diese überhaupt nicht anschaut oder dass daraus nichts abgeleitet wird, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit als abwertend wahrnehmen. Niemand arbeitet gern für den Papierkorb. Haben Beschäftigte den Eindruck, dass sie für Aufgaben eingestellt wurden, für die sie überqualifiziert sind, dürfte dies ebenfalls eine Bedrohung für ihren Selbstwert darstellen.[11] Umgekehrt wird beispielsweise eine Mitarbeiterin der IT eine Stärkung ihres Selbstwertes erleben, wenn sie wahrnimmt, dass sie mit ihrer Arbeit Kolleginnen und Kollegen bei ihren IT-Problemen weiterhelfen kann.

Organisationale Bedingungen

Auch die organisationalen Bedingungen sind relevant. Als wie fair werden beispielsweise die immateriellen und materiellen Anerkennungsmechanismen in einer Organisation wahrgenommen? Als wie ausgeglichen erleben Mitarbeitende die Balance aus den geleisteten Anstrengungen und den erhaltenen Belohnungen? Eine Mitarbeiterin, die ihre Arbeit sehr gewissenhaft erledigt, freiwillig Überstunden leistet und sich mit guten Ideen einbringt, wird Imbalance erleben, wenn sie auf der anderen Seite der Waage wenig immaterielle und materielle Anerkennung erfährt. Erlebte Imbalance bedroht den Selbstwert.[12] So sollten beispielsweise auch bei der Festlegung von Stellenbezeichnungen und der Betitelung von Funktionen mögliche Effekte auf den Selbstwert Beachtung finden. Es macht einen Unterschied, ob jemand in seiner Signatur die Bezeichnung „Sachbearbeitung im Back-Office“ stehen hat oder „Office-Managerin“ beziehungsweise „Office-Manager“. Auch wenn sich unter beiden Bezeichnungen wahrscheinlich ähnliche Tätigkeiten subsumieren lassen. Werden im Rahmen von Umstrukturierungen Hierarchiestufen entfernt und Expertenfunktionen gestrichen, so dürfte dies ebenfalls deutliche Auswirkungen auf den Selbstwert der Betroffenen haben und ebenso Auswirkungen auf diejenigen, die die wegfallenden Funktionen angestrebt haben. Gerade bei Umstrukturierungen sind vielfältige Bedrohungen des Selbstwertes wahrscheinlich, beispielsweise aufgrund von fehlendem Interesse an den Bedürfnissen der von den Veränderungen Betroffenen.

Soziale Interaktionen

Bei den sozialen Interaktionen geht es nicht nur um Offensichtliches. Werden Mitarbeitende von Führungskräften oder von Kolleginnen und Kollegen lächerlich gemacht, werden ihre Ideen als eigene ausgegeben oder werden sie ausgegrenzt, so sind dies sehr offensichtliche, abwertende Verhaltensweisen. Es geht jedoch genauso um subtilere Formen von Abwertung. Wenn beispielsweise Unterstützung nicht selbstverständlich gegeben wird, sondern mit Signalen der Abwertung des Gegenübers und der eigenen Aufwertung verknüpft wird. Eine Führungskraft könnte beispielsweise zu einem Mitarbeiter sagen: „Gut, dass du mich um Hilfe gebeten hast. So konnte ich jetzt noch rechtzeitig intervenieren. Ich habe das jetzt noch gut geradebiegen können.“ Mit dieser Aussage wertet die Führungskraft sich selbst auf und ihr Gegenüber ab. Es kann aufschlussreich sein, sich das Kommunikationsverhalten von Führungskräften unter den Gesichtspunkten der eigenen Aufwertung und der Abwertung von anderen genauer anzuschauen. Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz Schließlich empfiehlt sich ein Blick auf die Arbeitsbedingungen. So wird beispielsweise durch die Bereitstellung von veralteten oder beschädigten Arbeitsmitteln eine Botschaft transportiert. Bei den Mitarbeitenden könnte beispielsweise ankommen: „Mit uns kann man es ja machen. Wir sind es nicht einmal wert, dass wir ordentliche, voll funktionstüchtige Arbeitsmittel bekommen.“ Andererseits bietet die Gestaltung der Arbeitsbedingungen vielfältige Chancen, um Signale der Wertschätzung zu senden. Arbeitgebende, die beispielsweise mit Ernsthaftigkeit und Konsequenz Gefährdungsbeurteilungen durchführen und bei erkannten Problemen umgehend Abstellmaßnahmen einleiten, senden damit die Botschaft, dass für sie die Mitarbeitenden tatsächlich wertvoll sind.

Fazit zu den Ansatzpunkten

Die gemeinsame Grundlage aller Ansatzpunkte ist echtes Interesse an den Mitarbeitenden und das Bemühen, mit den Anliegen der Mitarbeitenden konstruktiv umzugehen: Werden die Mitarbeitenden mit ihren individuellen Bedürfnissen, mit ihren Kompetenzen und Werten wahrgenommen? Versucht jemand, sie zu verstehen? Wird auf sie eingegangen? Werden die gegenseitigen Erwartungen konstruktiv miteinander geklärt? Natürlich können Mitarbeitende nicht alle ihre Wünsche in ihrer Organisation verwirklichen. Abwertungserlebnisse können nicht gänzlich vermieden werden. Vielmehr geht es um mehr Aufmerksamkeit bei den Verantwortlichen für abwertende und wertschätzende Ereignisse bei der Arbeit, um bewusst gestaltend intervenieren zu können.

Abbildung 1: Überblick über vier grundlegende Bereiche zur Förderung von Wertschätzung in Organisationen mit Beispielen | © Aus A. Häfner und J. Hartmann-Pinneker: Wertschätzung in Organisationen fördern. © 2023 Hogrefe Verlag, Göttingen.
Abbildung 1: Überblick über vier grundlegende Bereiche zur Förderung von Wertschätzung in Organisationen mit Beispielen ©Aus A. Häfner und J. Hartmann-Pinneker: Wertschätzung in Organisationen fördern. © 2023 Hogrefe Verlag, Göttingen.

CREW: ein Programm mit nachgewiesenen Effekten

CREW steht für „Civility, Respect and Engagement in the Workplace“ und wurde mit großen Fallzahlen in anspruchsvollen Interventionsstudien evaluiert.[13] Positive Effekte auf mehreren Ergebnisvariablen konnten nachgewiesen werden, unter anderem auf Symptome von Burn-out. Das Ziel des Organisationsentwicklungsprogramms ist die Förderung eines wertschätzenden Umgangs in den einzelnen Teams und in der gesamten Organisation.[14] Herzstück des Programms sind moderierte Workshops auf Teamebene, wobei diese um weitere Interventionen ergänzt werden, zum Beispiel schriftliches Informationsmaterial. Die Mitarbeitenden beschäftigen sich in den Teams mit ihrem Umgang untereinander, erkennen abwertendes Verhalten und erarbeiten, wie sie sich ein wertschätzendes Miteinander konkret vorstellen. Das Programm ist stark verhaltensorientiert und partizipativ angelegt. Didaktische Mittel sind weniger Edukation, sondern mehr Diskussion, Rollenspiele und die Arbeit an individuellen Verhaltenszielen. Einleitend wird die IST-Situation mit einem Fragebogen erfasst, der acht Items enthält. Neben anderen: „Meinungsverschiedenheiten und Konflikte werden in meinem Team fair gelöst.“ Oder: „Unterschiede zwischen Menschen werden in meinem Team respektiert und wertgeschätzt.“ Die Ergebnisse werden im Team besprochen, besonders starke und schwache Ausprägungen bei einzelnen Items werden herausgearbeitet. Der Fragebogen wird im weiteren Prozess wiederholt eingesetzt, um Veränderungen im Team transparent zu machen. Im nächsten Schritt erarbeiten die Teammitglieder, was ihnen ein respektvollerer Umgang im Team bringen würde. Es geht darum, das „Warum“ von mehr Wertschätzung greifbar zu machen. Im dritten Schritt arbeiten die Teammitglieder heraus, was sie sich konkret unter einem wertschätzenden Umgang im Team vorstellen. Ein gemeinsames Verständnis von Wertschätzung im Team soll gefördert werden. Auch Hindernisse auf dem Weg zu mehr gegenseitiger Wertschätzung und Möglichkeiten, damit umzugehen, werden diskutiert. Im weiteren Prozess werden die Teilnehmenden aufgefordert, ihr Verhalten unter Wertschätzungsgesichtspunkten zu beobachten. Positives Verhalten soll erkannt und gewürdigt werden. Zudem wird Wertschätzung mit anderen Werten und Prioritäten der Organisation verknüpft. Über mehrere Monate hinweg finden Teamworkshops statt, in denen Veränderungen wahrgenommen, besprochen und positive Entwicklungen gewürdigt werden. Die Moderierenden laden in den Workshops durch Fragen und andere Impulse zur Reflexion und Diskussion ein. „Was machen wir bereits gut? Wie kann jeder von uns einen positiven Beitrag leisten?“ sind Beispiele für solche Anregungen

Wertschätzung wird in Organisationen an Bedeutung gewinnen

Die Entwicklung des Arbeitsmarktes dürfte das Thema Wertschätzung in den kommenden Jahren mehr in den Mittelpunkt rücken. Der Arbeitskräftemangel verschärft sich weiter von Jahr zu Jahr. Wer Wertschätzung vermisst, wird sich schnell etwas Neues suchen. Organisationen, die es versäumen, die Weichen in Richtung mehr Wertschätzung zu stellen, werden immer weniger geeignetes Personal finden und vor allem binden können. In diesem Beitrag wurde herausgearbeitet, dass die Vermittlung von Wertschätzung weit über materielle Formen der Anerkennung oder offensichtliche Aspekte sozialer Interaktionen hinausgeht. Wenngleich diese natürlich auch eine Rolle spielen. Die Bedeutung von Führungskräften für die Bindung der Mitarbeitenden wird weiter zunehmen und es erforderlich machen, dass Führungskräfte die dafür notwendigen Führungskompetenzen entwickeln und ausbauen.[15]