Handlungsempfehlung Individualprävention Muskel-Skelett-Erkrankungen – IP MSE
Eine neue Handlungsempfehlung zur Individualprävention bei arbeitsbezogenen Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) wurde von Fachleuten der Unfallversicherungsträger, DGUV, BG Kliniken und Wissenschaft erarbeitet, um bestehende IP-MSE-Programme zu vereinheitlichen, weiterzuentwickeln und weiteren betroffenen Berufs- und Tätigkeitsgruppen zugänglich zu machen.
Individualpräventive Maßnahmen (IP-Maßnahmen) im Sinne des gesetzlichen Auftrags der Unfallversicherung sind sekundäre Präventionsmaßnahmen, die vor einem individuellen gesundheitlichen Risiko am Arbeitsplatz in geeigneter Weise schützen sollen. Maßnahmen der Individualprävention, die im Zusammenhang mit einer Berufskrankheit (BK) stehen, haben das Ziel, den versicherten Personen eine Fortsetzung ihrer bisherigen Tätigkeiten am Arbeitsplatz zu ermöglichen, ohne dass diese zu einer weiteren Verschlimmerung des Gesundheitsschadens führen. Weiterhin gehören dazu arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren infolge einer Erkrankung im Sinne von § 9 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) oder eines Arbeitsunfalls. Für diese wird aufgrund eines individuell erhöhten Gesundheitsrisikos ein sinnvoller Ansatz für individuelle Maßnahmen der Verhaltens- oder Verhältnisprävention gesehen.
Die Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts im Jahr 2021 beinhaltet den Wegfall des Unterlassungszwangs bei insgesamt neun Berufskrankheiten. Im Zuge dieses Wegfalls ist für gefährdete versicherte Personen in § 9 Abs. 4 SGB VII die Pflicht zur Teilnahme an individualpräventiven Maßnahmen sowie Maßnahmen zur Verhaltensprävention der Unfallversicherungsträger eingeführt worden. Somit können betroffene versicherte Personen in der Berufstätigkeit verbleiben und die Unfallversicherungsträger sind aufgefordert, vermehrt IP-Maßnahmen zur Prävention anzubieten.
Dies lässt eine erhöhte Nachfrage und einen steigenden Bedarf an IP-Programmen erwarten. Davon sind auch vier Berufskrankheiten mit MSE-Bezug betroffen (BK-Nrn. 2101, 2108, 2109 und 2110). Dieser erwartete Anstieg des Bedarfs an IP-Programmen im Bereich MSE wird zusätzlich durch die Aufnahme weiterer Muskel-Skelett-Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste verstärkt. Hierzu gehören die 2021 aufgenommene BK-Nr. 2116 „Koxarthrose durch Lastenhandhabung“ und auch die Ende 2021 als Berufskrankheit empfohlene „Läsion der Rotatorenmanschette der Schulter (…)“[1].
Aktuell bieten folgende Unfallversicherungsträger in Deutschland IP-Programme im MSE-Bereich vorrangig für den unteren Rücken, das sogenannte „Rückenkolleg“, an: die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU), die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) und die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe (BGN). Die BG BAU bietet außerdem das „Kniekolleg“ und seit Sommer 2022 auch das „Hüftkolleg“ an. Die IP-Programme sind vorwiegend für Tätigkeiten in der Pflege, der Bauwirtschaft sowie im Nahrungsmittel- und Gastgewerbe gedacht. Dagegen sind aktuell etwa für das Schultergelenk keine umfassenden IP-Programme bekannt. Zudem beinhalten die bestehenden MSE-IP-Programme nicht alle bekannten Belastungsarten, die als Risiko für die Entwicklung von MSE gelten.[2][3][4]
Folgende Ziele wurden daher bei der Entwicklung der „Handlungsempfehlung zur Individualprävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen (IP MSE)“ angestrebt:
- eine transparente Darstellung der inhaltlichen Anforderungen an die anzubietenden IP-Programme im Bereich MSE
- die Erweiterung der bestehenden IP-Programme um weitere betroffene Berufsgruppen und Tätigkeiten oder Belastungsarten
- die Entwicklung von IP-Programmen für weitere MSE in anderen Körperregionen (aktuell: Schulter)
- die Entwicklung einheitlicher Qualitätskriterien für IP-MSE-Maßnahmen
- die Verbesserung des Zugangs zu den IP-Programmen (bei BK-Verdacht und zur Frühintervention)
- das Anstreben einer Kompatibilität zu den Instrumenten und Begrifflichkeiten in den Gefährdungsbeurteilungen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) und der arbeitsmedizinischen Vorsorge (AMV)
- ein einheitliches und gezieltes Vorgehen als Reaktion der Unfallversicherungsträger auf die Änderung des SGB VII („Wegfall des Unterlassungszwangs“)
Inhalte der Handlungsempfehlung IP MSE
Das vorgestellte IP-Konzept zeichnet sich durch einen modularen Aufbau mit fest vorgegebenen Qualitätsstandards („Grundbausteine“) für die vier Lokalisationen unterer Rücken, Knie, Hüfte und Schulter aus. Während für die Bereiche Rücken und Knie bereits auf langjährige Erfahrungen und bestehende Strukturen (Rückenkollegs von BGW, BG BAU und BGN sowie Kniekolleg der BG BAU) zurückgegriffen werden konnte, waren für die Lokalisationen Hüfte und Schulter Neuentwicklungen notwendig. Zusätzlich wurden strukturqualitative und prozessqualitative Grundvoraussetzungen für die Maßnahmen definiert.
Die Handlungsempfehlung umfasst insgesamt vier Kapitel:
In Kapitel 1 werden die aktuellen IP-MSE-Programme der Unfallversicherungsträger inklusive der angestrebten Zielgruppen, Zugangsvoraussetzungen, Zugangswege, Qualitätskriterien und überschlägigen Kosten vorgestellt und die Strukturen am Beispiel der bestehenden Rückenkollegs skizziert.
Kapitel 2 fasst die Methoden der medizinischen Befundung sowie der Voruntersuchungen durch Eigenanamnese, ärztliche Anamnese und ärztliche Untersuchung zusammen und gibt einen Überblick zu den derzeit eingesetzten Erhebungsbögen.
In Kapitel 3 wird eine einheitliche Struktur prinzipieller IP-MSE-Programme mit zehn festgelegten Grundbausteinen dargestellt. Dazu zählen: Feststellung der Präventionsfähigkeit, Sporttherapie, Ergonomie, Physiotherapie, Physikalische Therapie, Psychologisches Gesundheitstraining, Ernährungsberatung, Assessment und Evaluation, Sicherung der Nachhaltigkeit sowie die Beratung der Unfallversicherungsträger (siehe Abbildung 2[5]). Wo notwendig, wurden lokalisationsspezifische Inhalte (Rücken, Knie, Hüfte, Schulter) beschrieben. In die lokalisationsspezifischen Grundbausteine (zum Beispiel Sporttherapie, Ergonomie) sind zudem berufs- beziehungsweise branchenspezifische Inhalte eingeflossen. Andere Grundbausteine enthalten branchen- und lokalisationsübergreifende Inhalte (zum Beispiel Ernährungsberatung, Psychologisches Gesundheitstraining) und sind daher gelenkunspezifisch.
Alle Grundbausteine sind ausführlich beschrieben: Es werden jeweils Gründe für die Durchführung, Anforderungen an die Therapierenden/Dozierenden und die Infrastruktur, Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen Grundbausteinen, Ziele sowie gegebenenfalls spezifische Therapieinhalte je Lokalisation dargestellt.
In Kapitel 4 sind Empfehlungen zur Umsetzung der IP-MSE-Programme in die Praxis mit den jeweils zu berücksichtigenden Rahmenbedingungen, möglichen Anknüpfungspunkten an bestehende Angebote sowie Kommunikationsmöglichkeiten der Angebote bei Betrieben und Versicherten zusammengefasst. Dazu werden auch die unterschiedlichen Anforderungen aus Sicht der Versicherten und der Arbeitgebenden dargestellt.
Abschließend werden Empfehlungen zu möglichen Weiterentwicklungen und einer kontinuierlichen Optimierung ausgesprochen, zum Beispiel durch Vereinheitlichung der Erhebungsinstrumente, Ausbau übergreifender Evaluationsmöglichkeiten, Angebotsergänzungen und Ansätze für mögliche Digitalisierungen.
Zusammenfassung und Ausblick
Die „DGUV-Handlungsempfehlung IP MSE“ gibt generelle Empfehlungen zum Aufbau von IP-Programmen bei arbeitsbezogenen MSE und bietet eine Grundlage für deren Weiterentwicklungen. Sie wurde in den DGUV-Gremien als grundlegende Struktur und Basis möglicher Weiterentwicklungen für IP-MSE-Programme der Unfallversicherungsträger und ihrer Umsetzung in die Praxis bestätigt und kann nun als IFA-Report im Internet heruntergeladen werden[6].
In einem nächsten Schritt soll eine systematische Bedarfsanalyse zu IP-MSE-Maßnahmen innerhalb der Unfallversicherungsträger erfolgen. Hierfür wurde eine Arbeitsgruppe mit Beauftragten aus Prävention und Rehabilitation, insbesondere der Unfallversicherungsträger, die bislang über keine eigenen IP-Angebote bei MSE verfügen, eingerichtet. Perspektivisch sollen zudem Optionen zur Etablierung von IP-Maßnahmen, die über die bisherigen IP-Maßnahmen hinausgehen, erarbeitet werden.