Next tram stop
Zum Vorliegen des Versicherungsschutzes bei einem Wegeunfall, wenn vor dem Hintergrund einer privaten Verrichtung ein Teil des Weges statt mit der Straßenbahn zu Fuß zurückgelegt wird.
§ LSG Sachsen, Urteil vom 04.03.2020 – L 6 U 13/18 -, juris
Nach Arbeitsende ging der Kläger zum Hauptbahnhof, stieg dort in eine Straßenbahn ein, um nach Hause zu fahren. Er stieg jedoch früher aus, weil er einen privaten Arzttermin (im Nahbereich der Ausstiegshaltestelle) hatte. Nach 15 Minuten verließ er die Arztpraxis und wollte nicht zurück zur Ausstiegshaltestelle, sondern parallel der Straßenbahnschienen weiter zur nächsten Haltestelle gehen, um dann nach Hause zu fahren. Unmittelbar nach Verlassen der Arztpraxis wurde er von einem Pkw angefahren und schwer verletzt. Der zuständige Unfallversicherungsträger lehnte einen versicherten Wegeunfall ab, weil sich der Kläger im Moment des Unfalls wegen einer privaten Unterbrechung nicht bei einer versicherten Tätigkeit befunden habe; weder läge eine geringfügige Unterbrechung vor, die zum Versicherungsschutz hätte führen können, noch sei die private Unterbrechung beendet gewesen, weil der Kläger die Haltestelle noch nicht erreicht hatte. Im Klageverfahren gewann der Kläger sowohl vor dem Sozialgericht Leipzig als auch vor dem Landessozialgericht Sachsen (LSG Sachsen): beide Gerichte bejahten einen versicherten Wegeunfall.
Die zentrale Frage des Falles ist, ob der Kläger im Moment des Unfalls bei einer versicherten Tätigkeit (Wegezurücklegung) war, also ob die private, nicht geringfügige Unterbrechung (Arztbesuch) beendet war. Das LSG Sachsen bejaht das und erörtert dabei Unterschiede „zwischen Fahrten mit individuell betriebenen Fahrzeugen einerseits und Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln bzw. zu Fuß zurückgelegten Wegen andererseits“ (Rn 55). Bei individuell betriebenen Fahrzeugen, also in der Regel Pkws, sei die Handlungstendenz des Versicherten sowohl bei Beginn als auch beim Ende einer privaten Unterbrechung entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) objektiv beobachtbar respektive nachvollziehbar; so zum Beispiel durch Abbremsen, Abbiegen (Beginn) oder durch die Rückkehr zum Pkw, Einsteigen, Losfahren (Ende). Das sei bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel und bei Fußgängern anders. Hier gelte, dass „der Versicherungsschutz unter Heranziehung des Aspekts der gemischten Motivationslage (nämlich eine Handlung mit zwei Handlungstendenzen; der Verf.) nicht bereits mit dem Aussteigen aus dem Verkehrsmittel endet, sondern erst mit der Aufnahme der privatwirtschaftlichen Verrichtung, objektivierbar durch Verlassen des öffentlichen Verkehrsraums oder dem Verlassen des direkten Weges“ (Rn 55).
Das bedeute für das Ende einer privaten Unterbrechung, dass hier im Gegensatz zur Fortbewegung mit einem Pkw nicht zu diesem zurückgekehrt werden müsse; vielmehr sei es „einem Fußgänger oder einem Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel möglich, den versicherten Weg nach Beendigung einer privaten Verrichtung unmittelbar fortzusetzen. Voraussetzung ist, dass der benutzte Weg dem (ursprünglich) versicherten direkten Weg entspricht und die Handlungstendenz auf Fortbewegung gerichtet ist“ (Rn 56). Dem stehe nicht entgegen, dass im hiesigen Fall „zwischen zwei verschiedenen Fortbewegungsmitteln gewechselt wird“; die Wahl des Verkehrsmittels stehe dem Versicherten frei, „wobei auch die Kombination mehrerer Verkehrsmittel möglich ist“ (Rn 57).
In diesem Sinne hat der Kläger „Glück im Unglück“ gehabt, dass er nicht auf die Idee gekommen ist, zurück zur Ausstiegshaltestelle zu gehen. Es scheint also wichtig, immer in „richtiger“ Richtung unterwegs zu sein; das passt in die sich seit einiger Zeit auf deutschen Straßen abspielende „Next-Bewegung“; sei es „next bike“ oder „next e-scooter“. Hier entfällt die unversicherte Rückkehr zum eigenen Fahrzeug. Dennoch bleiben Fragen:
Menschen, die „mit individuell betriebenen Fahrzeugen“ unterwegs sind, haben es schwerer, in den Unfallversicherungsschutz zu kommen als Menschen, die Wege „mit öffentlichen Verkehrsmitteln bzw. zu Fuß“ (Rn 55) zurücklegen. Sehen wir hier die Kehrseite der Freiheit, mit dem eigenen Pkw zu fahren, zugunsten von Nutzerinnen und Nutzern des öffentlichen Nahverkehrs sowie Fußgängerinnen und Fußgängern? Eine diesbezüglich überzeugende Prüfung anhand des Gleichheitsgebots des Art. 3 Abs. 1 GG findet sich weder in der hiesigen Entscheidung des LSG Sachsen noch in der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG.
Warum hat das LSG Sachsen die Revision nicht zugelassen? Grundsätzliche Bedeutung dürfte die hiesige Frage schon haben. Aber vielleicht ist es auch gut so; jedenfalls für den Kläger.