„Wir werden den Betrieben pragmatische Hilfestellung geben“
Wie unterstützt die Unfallversicherung Betriebe und Beschäftigte in Zeiten der Pandemie? Ein Interview mit Dr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer der DGUV, und Dr. Jochen Appt, Leiter der Abteilung Sicherheit und Gesundheit der DGUV, über die Umsetzung des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards der Bundesregierung.
Herr Dr. Hussy, am 16. April hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) den SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard veröffentlicht. Der Standard formuliert Regeln, die ein sicheres und gesundes Arbeiten in Zeiten der Pandemie möglich machen sollen. Wie beurteilen Sie diese Initiative?
Hussy: Aufgrund der Pandemie erleben wir gerade enorme Umbrüche in der Arbeitswelt. Jetzt geht es darum, in immer mehr Betrieben die Anforderungen der Arbeit mit dem Schutz vor Infektionen zu verbinden.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, dass die Politik dem Arbeitsschutz große Bedeutung beimisst. Es ist wichtig, dass es einen einheitlichen Mindeststandard gibt, der Vorgaben für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit unter Bedingungen der Pandemie macht und der für alle Betriebe gilt. Das erhöht die Akzeptanz und damit die Aussicht auf Erfolg.
Die Unfallversicherungsträger werden bei der Umsetzung des Arbeitsschutzstandards in die Praxis eine wichtige Rolle übernehmen. Wie sieht die aus?
Hussy: Als Partner der Betriebe im Arbeitsschutz haben Berufsgenossenschaften und Unfallkassen die Betriebe seit Beginn der Coronavirus-Pandemie mit Informationen und Instrumenten unterstützt. Sie werden nun diese Hilfen mit den Vorgaben des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards für Arbeitsschutz und Hygiene abgleichen, gegebenenfalls anpassen und – wo noch nicht geschehen – in die Sprache und Bedarfe ihrer jeweiligen Branchen übersetzen.
Die Unfallversicherungsträger verfügen über branchenspezifische Fachkompetenz, die sie hierfür einsetzen können und werden. Wir werden den Betrieben pragmatische Hilfestellungen geben, wie sie die Anforderungen erfüllen können, um möglichst bald wieder den Betrieb aufnehmen oder sicher weiterarbeiten zu können. Im Fokus stehen für uns dabei insbesondere die Kleinbetriebe, die auf unsere Expertise angewiesen sind, mehr als Großunternehmen, die über eigene Fachleute für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit verfügen. Wie sonst auch stehen dabei Beratung und Überzeugung im Vordergrund. Wo einzelne Betriebe hygienische Mindeststandards unterlaufen und dadurch die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten und Dritter gefährden, werden unsere Präventionsdienste einschreiten. Ich spreche hier bewusst von "einzelnen", denn insgesamt beobachten wir, dass die Betriebe sich ihrer Verantwortung bewusst sind und auch entsprechend handeln.
Wie wird diese Unterstützung für die Betriebe aussehen? Können Sie Beispiele nennen?
Hussy: Zu allererst ist mir wichtig zu betonen: Seit Beginn der Corona-Krise arbeiten Berufsgenossenschaften und Unfallkassen daran, die Betriebe in dieser Situation mit Materialien und Hilfestellungen zu unterstützen. Das reicht von Tipps fürs Homeoffice über Hinweise zum effizienten Schutz für das Personal an Kassenarbeitsplätzen bis hin zu Informationen zum richtigen Gebrauch von Atemschutzmasken.
Appt: Viele Unfallversicherungsträger ermöglichen einen ersten Einstieg ins Thema über FAQ-Listen. Ergänzt werden diese durch branchenspezifische Handlungshilfen oder Infoblätter, auch in mehreren Sprachen. Einige Berufsgenossenschaften und Unfallkassen haben Hotlines eingerichtet, unter denen Arbeitgeberinnen, Arbeitgeber und Beschäftigte sich beraten lassen können zu Schutzmaßnahmen, etwa zu Regeln oder auch zum Thema Gefährdungsbeurteilung bei Corona.
Viele Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen haben Existenznöte. Aber auch die Beschäftigten müssen sich in Corona-Zeiten Herausforderungen stellen. Für manche wird das Homeoffice plus Kinderbetreuung zur psychischen Belastung, für andere ist es die hohe Arbeitsbelastung zum Beispiel im Supermarkt oder im Krankenhaus. Welche Angebote macht die Unfallversicherung?
Hussy: Dass die aktuelle Situation auch die psychischen Belastungen verstärken kann, ist uns bewusst. Die Unfallversicherungsträger und auch die DGUV haben deshalb zum Beispiel Tipps und Handlungshilfen für sicheres und gesundes Arbeiten im Homeoffice publiziert. Besonders anschaulich finde ich eine Initiative der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Sie versichert unter anderem Menschen, die in Krankenhäusern oder Pflegeheimen tätig sind. Das ist eine zurzeit besonders belastete Gruppe von Beschäftigten. Gerade den Führungskräften bietet die BGW ein „Krisen-Coaching“ per Video oder Telefon an. Das Angebot haben bereits in den ersten beiden Wochen nach der Veröffentlichung im Durchschnitt zehn Personen an einem Arbeitstag in Anspruch genommen. Tendenz steigend. Das zeigt einen Bedarf. Wir haben darauf auch im Rahmen unserer aktuellen Präventionskampagne kommmitmensch reagiert – mit Handlungshilfen zum Thema.
Herr Dr. Appt, der Arbeitsschutzstandard soll angepasst werden an neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die Infektionslage. Dazu hat das BMAS einen Beraterkreis geschaffen, in dem Sie, zusammen mit einem Vertreter der Unfallversicherungsträger, die DGUV vertreten. Was ist die Aufgabe des Kreises?
Appt: Der Kreis hat sich ein erstes Mal getroffen. Ich sehe unsere Aufgabe darin, mit allen anderen dort vertretenen Partnerinnen und Partnern – wie zum Beispiel den Sozialpartnern, den Ländern oder der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin – im Gespräch zu bleiben. Es geht darum auszuhandeln, wie wir adäquat auf neue Sachlagen reagieren können. Wo müssen wir den Arbeitsschutzstandard anpassen? Wo können wir die Situation vielleicht weiter normalisieren? Wo nicht? Es wird sicher auch darum gehen zu evaluieren, wie die Regeln des Arbeitsschutzstandards greifen und ob sie ihren Zweck tatsächlich erfüllen. Man darf nicht vergessen – die gesamte Situation ist ja ein einziges, großes Experiment.
Bundesminister Hubertus Heil hat klar gesagt, dass die Unfallversicherungsträger gemeinsam mit den Länderbehörden die Einhaltung des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards auch punktuell kontrollieren sollen. Läuft die Unfallversicherung da nicht Gefahr, als „Aufpasser“ wahrgenommen zu werden?
Appt: Nein, das glaube ich nicht. Dr. Hussy hat es ja bereits gesagt: Wir sehen unsere erste Aufgabe darin, Betriebe dabei zu beraten, wie es ihnen gelingen kann, bestimmte Vorgaben – wie das Abstandsgebot oder Hygieneregeln – so gut umzusetzen, dass sie ihre Geschäfte wieder aufnehmen können. Indem Berufsgenossenschaften und Unfallkassen helfen, Mindeststandards zu definieren, schaffen sie ja die Voraussetzungen dafür, dass die Betriebe und Einrichtungen wieder die Arbeit aufnehmen können. Unser erstes Anliegen ist es also, Dinge zu ermöglichen. Im Umkehrschluss muss es dann aber auch möglich sein, den Betrieben, die sich über den Arbeitsschutzstandard hinwegsetzen, Grenzen zu setzen.
An der Stelle möchte ich aber auch darauf hinweisen: Die Einhaltung von Regeln fällt den Menschen und damit auch den Betrieben und Einrichtungen leichter, wenn sie nachvollziehen können, warum sie dies tun müssen. Wenn zum Beispiel Betriebe desselben Gewerbes, die ihren Standort in benachbarten Orten, aber in unterschiedlichen Bundesländern haben, unterschiedlich behandelt werden, dann ist das nicht nachvollziehbar und die Regeln werden nicht befolgt. Daher wäre es für die Akzeptanz und damit letztlich für den Erfolg unseres Aufsichtshandelns im Interesse aller wichtig, dass die Regelungen des Arbeitsschutzstandards möglichst einheitlich in den Bundesländern zur Anwendung kommen. Für die Unfallversicherung werden wir die einheitliche Vorgehensweise über einen gemeinsamen Leitfaden für die Aufsicht und Beratung durch die Präventionsdienste lösen. Dieser ist gerade in Arbeit.
Auch Bildungseinrichtungen beginnen jetzt wieder schrittweise mit dem Unterricht – zunächst mit den älteren Schülerinnen und Schülern. Wie unterstützt die Unfallversicherung den Prozess?
Hussy: Die Unfallversicherungsträger haben bereits Informationen und Empfehlungen für die verschiedenen Bildungseinrichtungen vorbereitet. Wie können Abstandsgebote oder Hygienevorschriften konkret umgesetzt werden? An erster Stelle stehen dabei die Sicherheit und Gesundheit sowohl der Kinder als auch aller Lehrkräfte und weiterer Beschäftigter.
Es gibt viele unterschiedliche Zuständigkeiten. In Kitas und Schulen wie im Schulbereich ist deshalb vor allem eine klare Kommunikation aller Beteiligten wichtig, um die Voraussetzungen für ein möglichst sicheres Miteinander zu schaffen. Für den Infektionsschutz sind zum Beispiel die Gesundheitsämter, -behörden und -ministerien der einzelnen Bundesländer zuständig. Bei der Umsetzung konkreter Infektionsschutzmaßnahmen in Kitas und Schulen sind die landesspezifischen Empfehlungen der Kita-Träger, Schulbehörden, Bildungs- und Familienministerien sowie der Schul- und Kultusbehörden zu berücksichtigen.
Appt: Es gibt aber auch noch einige offene Diskussionspunkte. Ist es überhaupt möglich, Abstandsregelungen bei Kita-Kindern durchzusetzen? Wie sinnvoll ist die Nutzung von Schulbussen? Wie können wir älteres Personal in den Kitas schützen? Ich kann verstehen, dass viele hier lieber heute als morgen eine Antwort hätten. Die Diskussion ist aber nicht abgeschlossen und ich muss hier um Geduld bitten. Auf Verbandsebene werden wir sicherstellen, dass der trägerübergreifende Austausch zu diesem Thema läuft und wir keine Zeit durch Doppelarbeit verlieren.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die Politik dem Arbeitsschutz große Bedeutung beimisst. Es ist wichtig, dass es einen einheitlichen Mindeststandard gibt.
Ein großes Thema zurzeit sind Schutzkleidung und Atemschutzmasken. Die Verfügbarkeit von Masken ist derzeit oft nicht gegeben. Ist das keine Verletzung der Schutzpflichten des Arbeitgebers?
Hussy: Es gibt Engpässe, das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber zur Beschaffung sollten sich zuallererst Bund und Länder äußern.
Die gesetzliche Unfallversicherung hat allerdings auch einen wichtigen Beitrag geleistet: Das Institut für Arbeitsschutz der DGUV hat einen Schnelltest für Atemschutzmasken entwickelt. Grundlage ist eine Empfehlung der Europäischen Kommission, die entsprechende Ausnahmen zulässt. Wir haben hierzu sehr viele Anfragen und Aufträge von Herstellern und Importeuren bekommen. Der Bedarf an einer sicheren und schnellen Testung der Masken ist sehr hoch.
Um die Engpässe zu überbrücken, wird ja auch die Wiederverwendbarkeit von Atemschutzmasken diskutiert. Wie ist Ihre Position dazu?
Hussy: Aus Sicht der Unfallversicherungsträger sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um eine ausreichende Versorgung des medizinischen und pflegerischen Bereichs mit geeigneten Atemschutzmasken, wir sprechen also hier von FFP2- und FFP3-Atemschutzmasken, sicherzustellen. In Anbetracht der außergewöhnlichen Versorgungssituation wurde zeitlich begrenzt eine Regelung getroffen, die die Einfuhr auch von solchen Masken ermöglicht, die keine EU-Konformitätsbescheinigung aufweisen, das heißt keine CE-Kennzeichnung tragen, sofern die grundlegenden Gesundheits- und Sicherheitsanforderungen erfüllt sind. Damit können zum Beispiel auch Atemschutzmasken ohne CE-Kennzeichnung aus China eingeführt werden, sofern deren Funktionswirksamkeit durch eine entsprechende Prüfung belegt ist. Dieser Ausnahmeregelung stimmen wir zu, um die Versorgung sicherzustellen.
Die Wiederverwendung von Atemschutzmasken, die eigentlich nur für den einmaligen Gebrauch vorgesehen sind, sollte nach einer entsprechenden Dekontamination nur im absoluten Ausnahmefall in Betracht gezogen werden.
Wie schätzen Sie die sogenannten „Community-Masken“ ein – ein Mund-Nasen-Schutz aus Stoff –, die jetzt in Bussen, Bahnen oder Geschäften getragen werden sollen.
Appt: Wissenschaftlich ist ja immer noch umstritten, wie hoch der Schutzeffekt eines einfachen Mund-Nasen-Schutzes (MNS) für die Beschäftigten ist. Das ist eher eine Frage des allgemeinen Infektionsschutzes. Als zusätzliche Maßnahme kann ein MNS sicher sinnvoll sein, er sollte aber das wichtige Abstandsgebot nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.
Wichtig ist uns, dass die einzelnen Produkte auch sachgerecht verwendet werden. Eine Community-Maske darf nicht wie ein medizinischer Mund-Nasen-Schutz im Operationssaal verwendet werden. Und ein Mund-Nasen-Schutz ist nicht zu verwechseln mit einer Atemschutzmaske. Der MNS kann dazu beitragen, alle anderen Personen vor Erregern zu schützen, die der Träger möglicherweise verbreitet. Die Atemschutzmaske schützt dagegen den Träger, da sie die Atemluft filtert. Einen zuverlässigen Schutz bringt eine Atemschutzmaske auch nur, wenn die Person, die sie trägt, in der Benutzung unterwiesen ist. Fehler bei der Anwendung sind möglich. Deshalb und aufgrund des erheblichen Mangels an Atemschutzmasken sollten diese den Menschen vorbehalten bleiben, die im Gesundheitswesen und in der Pflege arbeiten.
Wir sehen unsere erste Aufgabe darin, Betriebe dabei zu beraten, bestimmte Vorgaben so gut umzusetzen, dass sie ihre Geschäfte wieder aufnehmen können.
Herr Dr. Hussy, die Unfallversicherungsträger beraten ja derzeit nicht nur verstärkt. Sie haben Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch weitere Entlastungen zugesagt.
Hussy: Zur finanziellen Entlastung der Unternehmen hat die Bundesregierung ein sehr umfangreiches Paket geschnürt. Das hat erst mal Priorität. Man darf ja nicht vergessen, dass wir mit den Beiträgen der Unternehmen wichtige Leistungen wie die Rehabilitation Unfallverletzter oder Renten finanzieren.
Trotzdem bieten insbesondere die Berufsgenossenschaften den Unternehmen, die sich in einer wirtschaftlichen Notlage befinden, Erleichterungen bei den Beitragszahlungen an. Die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten in der Selbstverwaltung haben in den vergangenen Wochen bereits für ihre jeweiligen Branchen spezifische Lösungen abgestimmt. Das sind zum Beispiel Regelungen zu Stundungen beziehungsweise Ratenzahlungen, um die akute Belastung so gut wie möglich abzufedern.
Zurzeit werden – wie jedes Jahr – die Beitragsbescheide an die Unternehmen verschickt. Besonders betroffene Unternehmen sollten nach Erhalt Kontakt zu ihrem Unfallversicherungsträger aufnehmen.
Das Interview führte Elke Biesel, DGUV