Internationale Studie zur Barrierefreiheit in Unternehmen der Privatwirtschaft

Mit einer internationalen Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) identifizierte die DGUV erfolgreiche Beispiele dafür, wie in anderen Ländern die Zugänge und Arbeitsbedingungen von Menschen mit Behinderung in der Privatwirtschaft geregelt und verbessert werden. Damit die gewonnenen Resultate und Impulse nicht verpuffen und das Thema „präventive Förderung der Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft“ hierzulande dauerhaft und wirksam angegangen werden kann, sind strukturelle Änderungen in den Unternehmen ebenso notwendig wie in der Wirtschafts- und Sozialordnung.

In Deutschland müssen Unternehmen, die 20 oder mehr Personen beschäftigen, gesetzlich geregelte Pflichtarbeitsplätze mit Menschen mit Schwerbehinderung besetzen (vgl. § 71 Sozialgesetzbuch – SGB – IX). Im Jahr 2017 blieben 26 Prozent der Pflichtarbeitsplätze unbesetzt.[1] Insgesamt gab es in Deutschland 164.631 beschäftigungspflichtige Unternehmen, von denen 42.000 (25,64 Prozent) keinen Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigten.[2] In Anbetracht dieser Zahlen bestehen in Deutschland hinsichtlich der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung in der Privatwirtschaft deutliche Verbesserungspotenziale.

Das BMAS gab auch deshalb im Jahr 2018 eine internationale Studie in Auftrag, die aus dem Ausgleichfonds der Arbeitgeber nach § 161 SGB IX finanziert wurde. Die Studie ist Bestandteil des Nationalen Aktionsplanes der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und wurde von der DGUV in der Zeit vom 1. März 2018 bis 31. Oktober 2019 (20 Monate) durchgeführt.

Das Ziel der Studie war es, Best-Practice-Beispiele im Ausland zu identifizieren, die Barrieren in Unternehmen der Privatwirtschaft abbauen und dadurch den Zugang von Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtern. Von besonderer Bedeutung sind die Beispiele, die über den Einzelfall hinausgehen, übergeordnete Veränderungen anstoßen und dadurch auf mehrere Unternehmen übertragbar sind. Diese Beispiele sollen unter anderem Unternehmen und deren Verbände zur Förderung der vorausschauenden Barrierefreiheit in den Betrieben als Anregung zur Verfügung gestellt werden, um die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung in der Privatwirtschaft zu verbessern.

Das Ziel der Studie war es, Best-Practice-Beispiele im Ausland zu identifizieren, die Barrieren in Unternehmen der Privatwirtschaft abbauen und dadurch den Zugang von Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtern.

Im Rahmen der Studie wird zwischen den verschiedenen Arten von Behinderungen nicht unterschieden, sodass alle Arten von Barrieren im Sinne der Zugänglichkeit gemäß Artikel 9 UN-BRK (Zugänglichkeit) Berücksichtigung finden. Unter genereller beziehungsweise vorausschauender Barrierefreiheit, die im Rahmen der Studie fokussiert wird, wird die Implementierung des "Universal Designs" gemäß Artikel 2 UN-BRK verstanden, indem Gebäude, Dienstleistungen und Kommunikationstechnologien von Anfang an, also vorsorglich und präventiv, die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung berücksichtigen, sodass Barrieren erst gar nicht entstehen.

Im Laufe der Studie wurden Erfolgsfaktoren identifiziert, die für den systematischen Abbau von Barrieren in Unternehmen erforderlich sind und nachfolgend vorgestellt werden. Diese beruhen auf den insgesamt zwölf Beispielen, die in dem seit Ende 2019 vorliegenden Abschlussbericht beschrieben werden.

Bewusstseinsbildung

Die Überzeugung und die Unterstützung des Topmanagements sind unerlässlich. Sollte das Verständnis auf Managementebene für eine barrierefreie Arbeitsumgebung nicht vorhanden sein, ist es nicht möglich, die erforderlichen Mittel in Unternehmen zur Verfügung zu stellen, derer es bedarf, um Barrieren nachhaltig und in einem ganzheitlichen Ansatz abzubauen.

myAbility aus Österreich, eine soziale Unternehmensberatung, hat beispielsweise die myAbility-Lounge ins Leben gerufen, die das Topmanagement als Zielgruppe definiert. In diesem Netzwerk wird ein Erfahrungsaustausch auf "C-Level" angestrebt. Hierzu werden internationale Fachleute eingeladen, um auf der Basis von Impulsvorträgen in den Dialog zu treten, Erfahrungen auszutauschen und Lösungsansätze zu diskutieren. In einem geschützten Rahmen, in dem nur Mitglieder und eingeladene Gäste Zugang erhalten, können Sorgen und Bedenken zum Thema Inklusion platziert werden, um gegenseitig von vorhandenen Erfahrungen zu profitieren. Zusammenfassend handelt es sich um eine bewusstseinsbildende Veranstaltung, die nicht von staatlichen Organisationen initiiert ist, auf die Einbindung der Geschäftsführung verschiedener Unternehmen abzielt und die Bedeutung von Barrierefreiheit und Inklusion in den Unternehmen unterstreicht.

Neben der Unterstützung des Topmanagements ist aber auch das Verständnis auf Ebene der Beschäftigten erforderlich, um Betriebsabläufe und das "Miteinander" nicht zu gefährden. In Russland wird bereits in einigen Betrieben ein interaktives Training angeboten, das durch einen externen Dienstleister durchgeführt wird, um Vorurteile, Unsicherheiten und Ängste in der Wahrnehmung von und im Umgang mit Menschen mit Behinderung zu beseitigen. An fünf verschiedenen Stationen, die auf unterschiedliche Behinderungsarten ausgerichtet sind, bekommen die Teilnehmenden die Möglichkeit, in den aktiven Dialog mit betroffenen Menschen zu treten. Die Teilnehmenden erhalten einen Einblick in die Alltagsgestaltung von Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen. Capgemini in Polen zum Beispiel kooperiert in diesem Zusammenhang mit einer privaten Stiftung, um die vorhandenen Erfahrungswerte von Menschen mit Behinderung im Rahmen der Bewusstseinsbildung zu nutzen. Des Weiteren werden ausgewählte Beschäftigte bei Capgemini als Multiplikatorinnen oder Multiplikatoren ausgebildet, um den Abbau von Barrieren in den Köpfen von Beschäftigten und Führungskräften dauerhaft im Unternehmen zu verankern.

Strukturen in Unternehmen

Der systematische Abbau von Barrieren in Unternehmen lässt sich nicht mithilfe einzelner Initiativen oder anlassbezogener Maßnahmen verbessern. Die Erschließung von unternehmensinternen Strukturen und die Bestimmung von Verantwortlichkeiten mobilisieren Ressourcen, die für einen dauerhaften und strategisch angelegten Umsetzungsprozess erforderlich sind. Auf der Basis vorhandener Strukturen ist es möglich, Themen der Barrierefreiheit und Inklusion in übergeordneten Unternehmensstrategien wie "Corporate Social Responsibility" anzugehen und umzusetzen. In der skandinavischen Hotelkette Scandic Hotels wurde eine Stelle als "Director Accessibility" neu geschaffen und auf Managementebene positioniert, um Themen der Barrierefreiheit von Anfang an in Unternehmensentscheidungen mitzuberücksichtigen. Bei FLEX, einem amerikanischen Elektrohersteller, der in China entwickelt und produziert, wurde die Verantwortlichkeit aus den "Sustainable Development Goals" auf den Bereich Inklusion und Barrierefreiheit ausgedehnt, sodass ein ganzes Team dauerhaft verschiedene Aktivitäten und Kampagnen initiiert, um Barrieren im Unternehmen abzubauen und inklusive Beschäftigung zu fördern. Darüber hinaus wurde bei FLEX eine "Werkstatt für Menschen mit Behinderung" innerhalb des Unternehmens etabliert, um den Übergang aus der geschützten Beschäftigung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern. In diesem Zusammenhang erhielt FLEX im Jahre 2019 auch einen von der Bertelsmann Stiftung ausgelobten Preis in Shanghai.

Nachhaltige Begleitung

Eine professionelle Begleitung mit wirtschaftlichem Fokus, die die "Sprache der Unternehmen" nutzt, könnte auch in Deutschland das Thema der Barrierefreiheit weiter in den Blickpunkt des privaten Sektors rücken. Unternehmen im Ausland, die Inklusion als Bestandteil der Unternehmensziele definieren, nutzen oftmals externe Beratungsangebote, die den barrierefreien Umgestaltungsprozess nachhaltig begleiten und unterstützen. Hervorzuheben ist, dass sich die Zuständigkeit der Ansprechperson vor Ort über den Einzelfall hinaus an den Unternehmen ausrichtet, sodass jedes Unternehmen eine feste Ansprechperson hat. Bei Shekulo Tov in Israel werden überwiegend Menschen mit psychischen Erkrankungen rehabilitiert und in den allgemeinen Arbeitsmarkt eingegliedert. Hierfür wurde ein ganzheitliches Trainingsprogramm entwickelt, das einen Paradigmenwechsel initiiert. Die bisher ausgeübten Ansätze "first train, then place" beziehungsweise "first place, then train" werden durch einen parallel verlaufenden Ansatz "train and place" ersetzt. Die Patientinnen und Patienten werden dabei während der gesamten Rehabilitation, der Wiedereingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt und darüber hinaus von ein und demselben Integrationsteam begleitet, das auch dem Arbeitgeber beziehungsweise der Arbeitgeberin vor Ort als Ansprechkontakt zur Verfügung steht und bei Problemen persönlich interveniert. Insbesondere Jobcoaches und Jobcoachinnen aus dem Integrationsteam fungieren dabei als Bindeglied zwischen allen Beteiligten, da sie über verschiedene Zuständigkeiten hinweg agieren und den Wiedereingliederungsprozess von Anfang bis Ende begleiten.

Sollte das Verständnis auf Managementebene für eine barrierefreie Arbeitsumgebung nicht vorhanden sein, ist es nicht möglich, die erforderlichen Mittel in Unternehmen zur Verfügung zu stellen, derer es bedarf, um Barrieren nachhaltig und in einem ganzheitlichen Ansatz abzubauen.

Diese Konstanz in der Wiedereingliederung fördert die Vertrauensbeziehung zu den Patientinnen und Patienten sowie den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, sodass Besonderheiten in dem gemeinsam geplanten Vorgehen berücksichtigt werden. Durch klar geregelte Zuständigkeiten erhalten Unternehmen in einem für sie in der Regel neuen Handlungsfeld der Inklusion und Barrierefreiheit persönliche Unterstützung, wodurch auch die Bereitschaft steigt, "neue Wege" in der Einstellung von Menschen mit Behinderung zu erschließen.

Gestaltung von Förderansätzen

Im internationalen Raum hat sich neben der "Bestrafung" von Unternehmen, die sich nicht um die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung bemühen, ein weiterer Ansatz herauskristallisiert. Es werden Anreizsysteme entwickelt, die die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung über den Fürsorgegedanken hinaus in einen anderen Kontext hieven. Neben der "Bestrafung" im Rahmen der Ausgleichsabgabe, die es kombiniert mit einer Beschäftigungsquote auch in vielen anderen Ländern gibt, werden Anreizmodelle (Förderprogramme) wie zum Beispiel in den USA etabliert, die auf das Potenzial von Menschen mit Behinderung abzielen. Belohnt werden danach die Unternehmen, die die vorausschauende Barrierefreiheit bereits als Bestandteil der Unternehmensstrategie umsetzen und den Abbau von Barrieren innerhalb des Unternehmens priorisieren. Bei der Entwicklung solcher Fördermöglichkeiten in Deutschland könnte ein Index dienen, wie er bereits in den USA angewandt wird. Mit einem solchen Index wird der Grad der Barrierefreiheit in Unternehmen gemessen. Ab einem bestimmten Grad – in den USA ab einem Wert von 80 – werden Unternehmen als besonders barrierefrei bezeichnet und in öffentlich einzusehenden Rankings prämiert. Barrierefreiheit als Qualitätskriterium könnte auch in Deutschland neue Förderansätze für Unternehmen eröffnen, die mithilfe eines solchen Indexes bestimmt werden und dadurch einen positiv behafteten Zugang zu den Unternehmen ermöglichen.

Anlassunabhängige Beratung in Unternehmen

Aus den gefundenen Beispielen in anderen Ländern lässt sich eine weitere innovative Strategie ableiten, die die Unternehmen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt. Dieser Ansatz wird besonders in den Niederlanden im Rahmen der "Redesign-Methode" praktiziert. In dieser werden Arbeitsprozesse analysiert, um Tätigkeitsmerkmale zu identifizieren, die keiner besonderen Qualifikation bedürfen. Diese Tätigkeitsmerkmale werden in separaten Aufgaben zusammengefasst, wodurch neue Tätigkeitsbereiche für Menschen mit Behinderung entstehen. Dieser Ansatz einer sozialen Unternehmensberatung, die sich in erster Linie an den Belangen und den Bedürfnissen der Betriebe orientiert, könnte die in Deutschland zumeist auf den individuellen Teilhabebedarf ausgerichteten Unterstützungsangebote ergänzen.

Entsprechende Anpassungen in den Betriebsabläufen bringen aber nicht nur Menschen mit Behinderung Vorteile, sondern allen Beteiligten, insbesondere auch den Betrieben. Betriebsabläufe werden optimiert und die Effektivität gesteigert. Etablierte Beratungsstellen wie beispielsweise Träger der sozialen Sicherung würden in diesem unternehmenszentrierten Kontext nicht mehr nur als "Bittsteller“, sondern als Unterstützer mit wirtschaftlicher Handlungstendenz auftreten.

Ausblick

"Inklusion ist, was wir draus machen."[3] Dies lässt sich auch auf die Umsetzung der Ergebnisse der Studie übertragen. Barrierefreiheit in Unternehmen bedarf als Querschnittsaufgabe eines strategischen Ansatzes, der die Einbindung von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft erfordert. Damit die Ergebnisse der Studie nicht "verpuffen", sind – genau wie in den Unternehmen – Strukturen in der Wirtschafts- und Sozialordnung anzulegen und Zuständigkeiten zu bestimmen, die sich dem Thema "präventive Förderung der Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft" in Deutschland dauerhaft annehmen. Finanzielle Anreize könnten über den Ausgleichsfonds im BMAS gesetzt werden, wohin die Ausgleichsabgabe der Unternehmen fließt.

Gerade die gesetzliche Unfallversicherung verfügt aufgrund der Nähe zu den gesundheitlichen Themen in den Betrieben über Fachleute in den Bereichen der Prävention und der Rehabilitation, die über den Einzelfall hinaus Empfehlungen zum generellen Abbau von Barrieren in den Betrieben aussprechen können.

Insbesondere durch den European Disability Act wird der politische Druck zunehmen, Barrierefreiheit in der Privatwirtschaft bis 2022 umzusetzen, auch wenn diese zunächst nur auf Produkte und Dienstleistungen und nicht primär auf Arbeitsstätten abzielt. Mit der Verbreitung des vorliegenden Abschlussberichts oder einiger gezielter Beispiele kann das Bewusstsein beteiligter Personen geschärft werden. Barrierefreiheit in Betrieben ist auch für Unternehmen lohnenswert. Auf spezifischen an das Thema der Barrierefreiheit zugeschnittenen Veranstaltungen könnten Fachleute ihre in der Studie gefundenen Beispiele präsentieren, um den Dialog unter den Unternehmen zu ermöglichen; auch um Chancen und Ideen für die Praxis auszutauschen.

Die Träger der sozialen Sicherung könnten die Betriebe durch eine professionelle Beratung in Fragen der vorausschauenden Barrierefreiheit unterstützen und nicht nur dann zum Einsatz kommen, wenn einzelne Beschäftigte eines Nachteilsausgleichs bedürfen. Gerade die gesetzliche Unfallversicherung verfügt aufgrund der Nähe zu den gesundheitlichen Themen in den Betrieben über Fachleute in den Bereichen der Prävention und der Rehabilitation, die über den Einzelfall hinaus Empfehlungen/Tipps zum generellen Abbau von Barrieren in den Betrieben aussprechen können. Dies gilt auch für die Expertinnen und Experten an deutschen Hochschulen, die sich mit baulichen beziehungsweise digitalen Lösungen im Rahmen der Barrierefreiheit auseinandersetzen. Die vielen vorhandenen Kompetenzen sollten zu einem koordinierenden Netzwerk mit Diskussionsforum gebündelt werden, in dem vielversprechende nationale und internationale Beispiele bewertet werden.