Einsatz digitaler Technologien in der betriebsärztlichen Betreuung

Der Fachkräftemangel fordert die betriebsärztliche Betreuung heraus. Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) bieten Lösungen – von digital erbrachten Beratungsleistungen bis zu telemedizinischen Anwendungen. Die DGUV Vorschrift 2 legt die Basis für deren effektive Nutzung bei gleichbleibender Betreuungsqualität.

Im Mai 2024 warnte Dr. med. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, beim Deutschen Ärztetag in Mainz vor zunehmenden Problemen in der Gesundheitsversorgung aufgrund des Fachkräftemangels. Er betonte, dass der Ärztemangel in vielen Regionen Deutschlands bereits Realität sei. Fast ein Viertel der berufstätigen Ärzte und Ärztinnen sei demnach 60 Jahre oder älter, was eine bevorstehende Ruhestandswelle und eine Verschärfung des Problems bedeute.[1] Diese Entwicklungen verdeutlichen den Handlungsbedarf, innovative Strategien zur Sicherung der Gesundheitsversorgung zu etablieren. Angesichts des internationalen Vergleichs sowie der zunehmenden Anforderungen durch demografische Veränderungen, ergänzt durch die Verfügbarkeit zahlreicher digitaler Prozessinnovationen, wird deutlich, dass der Digitalisierung und der Gesundheitsversorgung – auch im Bereich der Arbeitssicherheit – eine wachsende langfristige Relevanz zugeschrieben werden sollte.

eHealth: Definition, Anwendungen und Potenziale

Der Begriff „eHealth“ steht für den gesundheitsbezogenen Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien und dient zugleich als Oberbegriff weiterer Definitionen, beispielsweise der Telemedizin.[2] Die Bundesärztekammer definiert den Begriff „Telemedizin“ wie folgt: „Telemedizinische Konzepte weisen als Gemeinsamkeit den prinzipiellen Ansatz auf, dass medizinische Leistungen der Gesundheitsversorgung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie bei der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen (oder zeitlichen Versatz) hinweg erbracht werden.“[3] Informations- und Kommunikationstechnologien kommen hierbei zum Einsatz.[4]

Die Telemedizin unterscheidet sich je nach ihrem charakteristischen Einsatzgebiet: Videosprechstunden sind eine Form der Telemedizin, bei der die Konsultation zwischen Ärztin oder Arzt auf der einen Seite und Patientin oder Patient auf der anderen Seite über Telekommunikation erfolgt – also eine sogenannte Telekonsultation. Je nach Ausgestaltung gibt es zwei Varianten der Telekonsultation: die allgemeine Beratung durch Ärzteschaft und die Diagnosestellung.[5] Außerdem können IKT für den beratenden Austausch zwischen medizinischem Personal eingesetzt werden; dieser wird als Telekonsil bezeichnet.[6] So hat sich die Zusammenarbeit zwischen Betriebsärztinnen und Betriebsärzten sowie Dermatologinnen und Dermatologen unter dem Begriff „teledermatologisches Konsil“ bereits als erfolgreich erwiesen.[7] Neben Telekonsultation und Telekonsil umfasst Telemonitoring Einzelanwendungen zur IKT-gestützten Erfassung, Überwachung und Kontrolle patientenindividueller Vitalfunktionen über räumliche Distanzen hinweg, wie beispielsweise Blutdruck, Puls oder Herzfrequenz.[8]

Neue Technologien in der Arbeitsmedizin

Laut der Bundesärztekammer unterstützen digitale Verfahren in Diagnostik und Therapie das ärztliche Handeln und seien nicht mehr wegzudenken.[9] Ein zunehmender Bedarf an telemedizinischer Behandlung wird durch den demografischen Wandel und das Phänomen der zunehmenden Binnenmigration in wenige Metropolen ausgelöst, wodurch schwierig zu versorgende Regionen entstehen. Die steigenden Anforderungen an die Versorgungsqualität führen zu einer zunehmenden Konzentration von Versorgungsangeboten.[10] Der ländliche Raum ist in besonderem Maße von den Versorgungsengpässen betroffen. Insbesondere hinsichtlich einer verbesserten Zugänglichkeit zu betriebsärztlichen Beratungsleistungen für KMU, ist laut einer Online-Umfrage aus dem Jahr 2017 die Mehrheit der befragten Ärztinnen und Ärzte aus der Arbeitsmedizin von den Vorteilen der Telemedizin überzeugt.[11] In einer Machbarkeitsstudie der Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) wurden 2017/2018 in elf KMU aus der Holz- und Metallbranche Erfahrungen mit der Anwendung der IKT gesammelt. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass der telemedizinische Ansatz die Versorgungsquote und -qualität im KMU-Bereich erhöhen und verbessern kann[12] und dass IKT die Leistungen in Präsenz in der Arbeitsmedizin in einigen Bereichen, insbesondere bei Beratungen, sinnvoll ergänzen können, aber nicht ersetzen.[13]

Als eine weitere Bestätigung dafür, dass Unternehmen besonders im ländlichen Raum vom Einsatz der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien profitieren können, kann eine französische Studie aus dem Jahr 2024 herangezogen werden. Sie bestätigt erneut, dass der Einsatz von Telemedizin in der Arbeitsmedizin – ob regelmäßig oder sporadisch – erheblich dazu beitragen kann, die medizinische Präsenz in abgelegenen Regionen zu stärken, die Betreuungsqualität zu erhöhen und das Risiko arbeitsbedingter Erkrankungen zu reduzieren.[14]

Die neue Fassung der DGUV Vorschrift 2 eröffnet die Möglichkeiten für Unternehmen, IKT verstärkt in der Arbeitssicherheit und im Gesundheitsschutz einzusetzen, um Arbeitsunfälle zu vermeiden und gesetzliche Anforderungen zu erfüllen.

DGUV Vorschrift 2 und Nutzung der IKT

Seit November 2024 liegt ein neuer Mustertext der überarbeiteten DGUV Vorschrift 2 vor, der die Organisation von Sicherheit und Gesundheit im Betrieb mit Unterstützung von Fachleuten erleichtert. Die trägerspezifischen Fassungen werden schrittweise in Kraft gesetzt. Zudem wird die Nutzung von IKT in der DGUV Vorschrift 2 sowie deren Erläuterung in der DGUV Regel 100-002 umfassend dargestellt. § 6 der Unfallverhütungsvorschrift regelt die Nutzung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien in der betrieblichen Betreuung. Grundlegend ist: Betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung muss in Präsenz erbracht werden. Eine Betreuung mittels digitaler Technologien ist nur möglich, wenn die betrieblichen Verhältnisse bekannt sind und die Betreuung durch die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt sowie die Fachkraft für Arbeitssicherheit persönlich erbracht wird. Diese digitale Betreuung ist ausgeschlossen, wenn Sachgründe eine Präsenz vor Ort erfordern.

Die betriebsärztliche Nutzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien umfasst unter anderem die oben erwähnten Verfahren Telekonsultation, Telemonitoring und Telekonsil. Die Befundübertragung im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorge und delegierbarer Leistungen, wie Blutdruck, Puls, Ruhe-EKG, Audiometrie, Spirometrie oder Otoskopie, kann ebenfalls telemedizinisch erfolgen.

In der betrieblichen Betreuung kann dabei zwischen Tätigkeiten mit persönlichem Bezug zu den Beschäftigten wie beispielsweise Beratung, Vorsorge und Untersuchung sowie anderen Aufgaben im Rahmen betriebsärztlicher Tätigkeiten wie beispielsweise Beratung des Unternehmens oder Teilnahme am Arbeitsschutzausschuss unterschieden werden. Ist der Betrieb durch eine Erstbegehung bekannt und sind die Voraussetzungen für den Einsatz digitaler Technologien gegeben, so ist es möglich, für die Betreuung nach § 2 Abs. 2 und 3 bis zu einem Drittel der Leistungen digital zu erbringen. In bestimmten Fällen, die durch den jeweiligen Unfallversicherungsträger geregelt werden, kann dieser Anteil auf bis zu 50 Prozent erhöht werden, sofern der Unfallversicherungsträger entsprechende Gründe in seiner branchenspezifischen Unfallverhütungsvorschrift angegeben hat.

In der anlassbezogenen Betreuung nach § 2 Abs. 4 der Unfallverhütungsvorschrift entscheidet der Unternehmer oder die Unternehmerin auf Grundlage seiner beziehungsweise ihrer Gefährdungsbeurteilung über Art und Umfang der Nutzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien.

Schließlich muss die Nutzung digitaler Technologien bei der Leistungserbringung im Bericht nach § 5 dokumentiert werden. Dieser Paragraf schafft einen klaren Rahmen für den Einsatz digitaler Technologien in der betrieblichen Betreuung und berücksichtigt sowohl die Chancen als auch die Grenzen solcher Ansätze.[15]

Der Umfang des IKT-Einsatzes in der betriebsärztlichen Betreuung hängt von der Betreuungsform des betreffenden Betriebs ab:[16]

A. In regelbetreuten Betrieben nach Anlage 1 und Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2 ist die IKT-Nutzung bis zu einem Drittel der Leistungen möglich, wenn der Betrieb durch eine Erstbegehung bekannt ist und die jeweils notwendigen Voraussetzungen für den IKT-Einsatz vorhanden sind. In den trägerspezifischen Fassungen können zudem ergänzende Regelungen formuliert werden, die eine Ausweitung des IKT-Einsatzes bis zu einem Umfang von 50 Prozent der Gesamtleistungen ermöglichen.
B. In alternativ betreuten Betrieben nach Anlage 3 und Anlage 4 der DGUV Vorschrift 2 entscheidet der Unternehmer oder die Unternehmerin auf Grundlage seiner beziehungsweise ihrer Gefährdungsbeurteilung über Art und Umfang der IKT-Nutzung für die betriebsärztliche Betreuung.

Voraussetzungen für digitale Technologie im Betrieb

Die Einhaltung rechtlicher Vorschriften ist eine grundlegende Voraussetzung für den Einsatz digitaler Technologien in der arbeitsmedizinischen Betreuung. Dazu gehören insbesondere die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) sowie die Berufsordnung. Gleichzeitig müssen technische Voraussetzungen geschaffen werden, wie eine geeignete digitale Infrastruktur, die einen stabilen Netzwerkzugang und ausreichende Bandbreite, vorwiegend in ländlichen Bereichen, gewährleistet. Hinzu kommen Anforderungen an Verschlüsselung und eine hohe Datensicherheit, die den Schutz der Zugriffsrechte, die Sicherheit der Datenübertragung sowie die korrekte Datenspeicherung und -löschung umfassen. Der Zugriff Dritter auf gespeicherte Daten darf nur mit ausdrücklicher Einwilligung im Einzelfall erfolgen, und der Zugang muss auf beteiligte Personen beschränkt bleiben. Aufzeichnungen sind grundsätzlich nicht gestattet. Darüber hinaus muss bei der ärztlichen Betreuung stets eine Versorgung nach Facharztstandard gewährleistet werden.[17]

Ausblick

Die zunehmenden Herausforderungen durch Fachkräftemangel und demografische Veränderungen erfordern innovative Ansätze in der betriebsärztlichen Betreuung. Die Digitalisierung, insbesondere der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien, bietet hier vielversprechende Möglichkeiten.

Die oben dargestellten Beispiele der digitalen medizinischen Versorgung in Betrieben zeigen, dass Telemedizin eine wertvolle Ergänzung zur betriebsärztlichen Betreuung vor Ort darstellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten ausschließlich auf digitale Angebote angewiesen sein sollen oder dürfen. Vielmehr eröffnet die Telemedizin einen zusätzlichen Zugang zur betriebsärztlichen Betreuung, der die Sicherheit und Gesundheit im Betrieb verbessert. Besonders hervorzuheben ist, dass durch den Wegfall von An- und Abreisezeiten eine effizientere Nutzung der ohnehin knappen Ressourcen der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ermöglicht wird.[18]