Physische Präsenz des Betriebsarztes oder der Betriebsärztin bleibt unverzichtbar
Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien bieten zahlreiche Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung und Nachhaltigkeit in der betrieblichen Organisation von Sicherheit und Gesundheit. Mit der Integration digitaler Lösungen in die betriebsärztliche Praxis gehen sowohl Chancen als auch Herausforderungen einher.
Wie bewerten Sie den Einsatz von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien als Mittel zur Verbesserung der betriebsärztlichen Versorgung?
Liebe: IKT sind aus der modernen Arbeitsmedizin nicht mehr wegzudenken. Sie bieten erhebliche Potenziale für eine effizientere und zielgerichtetere betriebsärztliche Betreuung. Beispielsweise werden sie bereits erfolgreich zur Erfassung, Verarbeitung und Analyse betriebsärztlich erhobener Informationen genutzt. Praxis- und Verwaltungssysteme erleichtern das Management von Daten, von der Speicherung und der Auswertung medizinischer Befunde und von Ergebnissen aus Gefährdungsbeurteilungen bis hin zur Abrechnung erbrachter Leistungen. Eine vollständig digital geführte, papierlose Praxis ist keine Zukunftsvision mehr, sondern vielerorts bereits Realität.
Darüber hinaus ermöglichen IKT auch in der Arbeitsmedizin den Einsatz von Telemedizin, zum Beispiel im Rahmen der Videosprechstunde, telemedizinischer Funktionsdiagnostik, von Telemonitoring oder bei Telekonsilen.

An welchen Stellen ist die Anwesenheit des Betriebsarztes beziehungsweise der Betriebsärztin dann noch erforderlich?
Liebe: Digitale Lösungen können betriebsärztliche Beratung flexibler machen, etwa durch Videokonferenzen für organisationale Beratungen oder telemedizinische Angebote für Unternehmen mit weit verstreuten Standorten oder Beschäftigten im Homeoffice. Aber: Die physische Präsenz des Betriebsarztes beziehungsweise der Betriebsärztin ist durch keine Technologie zu ersetzen. Betriebsärztliche Beratung und Vorsorge erfordern unmittelbare Arbeitsplatzkenntnisse und direkte Interaktion mit dem Unternehmen und den Beschäftigten. Telemedizin ist als Ergänzung und nicht als Ersatz für eine direkte persönliche Beratung zu sehen. Die Erstbegehung eines Betriebs sollte immer in Präsenz erfolgen.
Gibt es weitere Chancen und Potenziale, die Sie in den neuen IKT sehen?
Liebe: Ein entscheidender Meilenstein wird die Anbindung der Betriebsmedizin an die Telematikinfrastruktur sein. Dies erleichtert die sektorenübergreifende arbeitsmedizinische Versorgung, indem bereits vorliegende Gesundheitsdaten zeitnah aus anderen Fachgebieten in die betriebsärztliche Beratung integriert werden können. Das ist ein erheblicher Effizienzgewinn, bis zu welchem wir jedoch noch viele regulatorische und technische Hürden zu überwinden haben. Ein Bereich mit großem Potenzial könnte zudem der Einsatz von Wearables[1] als Teil der arbeitsmedizinischen Betreuung sein. In Form eines niederschwelligen, arbeitsplatz- und körpernahen Monitorings könnten sie wertvolle Erkenntnisse zu Belastungsmustern liefern und die Ableitung gezielterer präventiver Maßnahmen ermöglichen.
Rein virtuelle Anbieter, die arbeitsmedizinische Leistungen ohne Kenntnis des Betriebs und der Arbeitsplätze bereitstellen, können dabei keine adäquate und professionelle arbeitsmedizinische Betreuung gewährleisten. Diese vermeintlichen Sparangebote werden den gesetzlichen und qualitativen Anforderungen nicht gerecht. Der VDBW hat sich hierzu bereits deutlich positioniert.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der praktischen Umsetzung der Vorgaben der DGUV Vorschrift 2, insbesondere in Bezug auf die Balance zwischen digitaler Betreuung und persönlichem Kontakt?
Liebe: Die neue Fassung der DGUV Vorschrift 2 bietet einen übersichtlichen und guten Rahmen für die Nutzung von IKT bei der betriebsärztlichen Betreuung von Betrieben und der Versorgung von Beschäftigten. Zusammen mit weiteren Hintergrundinformationen stehen damit erst einmal alle theoretischen Grundlagen für eine Umsetzung zur Verfügung. Sie schaffen Bedarfe und die Notwendigkeit, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen bei der Nutzung von IKT auseinanderzusetzen.
Auch bei der Anwendung von Telemedizin im Betrieb gelten die Grundsätze zur Fernbehandlung, die in der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte[2] festgelegt sind. Dazu gehören die ärztliche Vertretbarkeit, die erforderliche ärztliche Sorgfaltspflicht und insbesondere auch die Einhaltung von Schweigepflicht und Datenschutz.
Betriebsärztinnen und Betriebsärzte handeln stets nach ihrem ärztlichen Berufsethos, das fachliche Unabhängigkeit, Sorgfalt und die bestmögliche Versorgung der Beschäftigten in den Mittelpunkt stellt. Die Entscheidung darüber, welche Form des Kontakts im Einzelfall angemessen ist, treffen sie auf Basis ihrer fachlichen Expertise, der betrieblichen Rahmenbedingungen und der individuellen Bedürfnisse der Beschäftigten.
Wir werden als VDBW die Umsetzung der Vorgaben der Vorschrift 2 dahin gehend unterstützen, dass wir konkrete Handlungshilfen wie Aufklärungs- und Informationsmaterialien für die betriebsärztliche Praxis erarbeiten und bereitstellen.
Welche Auswirkungen hat der verstärkte Einsatz von IKT auf die Zusammenarbeit zwischen Betriebsärztinnen und Betriebsärzten, Fachkräften für Arbeitssicherheit, kurz: Sifas, und anderen beteiligten Berufsgruppen? Verändert sich dabei das Rollen- und Aufgabenprofil der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte?
Liebe: Das Rollen- und Aufgabenprofil der Betriebsärztinnen und -ärzte bleibt auch im digitalen Zeitalter unverändert: Wir sind die zentralen Akteurinnen und Akteure in Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz. IKT können die interdisziplinäre Zusammenarbeit jedoch erheblich erleichtern. Digitale Plattformen für den Austausch zwischen Betriebsärztinnen und -ärzten, Sifas und weiteren Fachkräften können Synergien schaffen und Abstimmungsprozesse optimieren. Im Sinne einer zeitgemäßen, effektiven und effizienten Betreuung zum Erhalt und zur Förderung der Beschäftigtengesundheit sind die Auswirkungen nicht hoch genug zu schätzen. Betriebsärztinnen und -ärzte sind in vielerlei Hinsicht Akteurinnen und Akteure an entscheidenden Schnittstellen, und IKT verstärken nachhaltig die Reichweite arbeitsmedizinischen Wirkens. Wir müssen uns dessen bewusst sein und auch bewusst dieses Netzwerk und darüber hinaus den Austausch zwischen den verschiedenen Fachgruppen stärken.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Ljuba Günther.