Betriebsärztlicher Betreuungsbedarf in Deutschland
Hinsichtlich der betriebsärztlichen Betreuung werden von Unternehmen ebenso wie von Akteuren des Arbeitsschutzes immer wieder Zweifel daran geäußert, ob die erforderlichen Kapazitäten vorhanden sind. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dieser Frage. Gleichzeitig soll auch ein Blick in die nähere Zukunft geworfen und etwaiger Handlungsbedarf identifiziert werden.
Einleitung
Grundlage für die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung der Unternehmen in Deutschland ist das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG).[1] Danach müssen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowohl Betriebsärztinnen oder Betriebsärzte als auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit bestellen. Diese beraten und unterstützen die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber bei der Gestaltung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz und bei der Unfallverhütung. Ihre Aufgaben sind in den §§ 3 und 6 ASiG formuliert.
Konkretisiert wird das Arbeitssicherheitsgesetz durch eine Unfallverhütungsvorschrift, die DGUV Vorschrift 2 „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“.[2] Diese wird von den Unfallversicherungsträgern in eigener Fassung für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich erlassen. Die DGUV Vorschrift 2 bestimmt neben den Pflichten der Unternehmerin oder des Unternehmers auch die für die Betreuung erforderliche Fachkunde sowie die im Rahmen der betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung zu leistenden Aufgaben und insbesondere den zu leistenden Betreuungsumfang.
Methodik
Die nachfolgenden Zahlenwerte basieren im Wesentlichen auf Daten der Unfallversicherungsträger für den Bericht „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – Berichtsjahr 2019“ (SuGA-Bericht 2019) der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Daten des Statistischen Bundesamtes und Daten der Bundesärztekammer. Zur Bestimmung des Bedarfs und der Kapazitäten waren verschiedene Ableitungen und Schätzungen erforderlich. Diese sind naturgemäß mit Unsicherheiten behaftet. Es wurden daher nach fachlicher Abwägung eher konservative Annahmen gemacht, um den erforderlichen Bedarf möglichst nicht zu über- und die vorhandenen Kapazitäten nicht zu unterschätzen.
Betreuungsformen nach DGUV Vorschrift 2
Für die Ermittlung des betriebsärztlichen Betreuungsbedarfs ist eine nähere Betrachtung der DGUV Vorschrift 2 erforderlich. Die DGUV Vorschrift 2 enthält in den Anlagen 1 bis 4 verschiedene Möglichkeiten der Betreuung (siehe Abbildung 1).
Betrachtet man zunächst die Betreuungsform nach Anlage 2, so ist zu differenzieren zwischen einer Grundbetreuung mit sich errechnenden Betreuungszeiten und einer betriebsspezifischen Betreuung, der unter anderem die arbeitsmedizinische Vorsorge zuzuordnen ist.
Eine Grundbetreuung ist auch in der auf kleinere Betriebe mit bis zu zehn Beschäftigten ausgelegten Betreuungsform nach Anlage 1 vorgesehen. Diese sieht zwar keine konkreten Betreuungszeiten vor, es besteht aber eine Abhängigkeit zur Einstufung des Betriebes in eine sich an der Gefährdung orientierenden Betreuungsgruppe. Diese entscheidet darüber, in welchem Zeitintervall eine Betreuung im Betrieb zu erfolgen hat. Unabhängig hiervon besteht zudem eine Verpflichtung der Unternehmerin oder des Unternehmers, sich immer dann betreuen zu lassen, wenn hierzu ein entsprechender Anlass besteht.
Alternativ zu den Betreuungsformen nach den Anlagen 1 und 2 sehen die Betreuungsformen nach den Anlagen 3 und 4 keine Grundbetreuung vor. Sie basieren auf einer personenbezogenen Qualifizierung der Unternehmerin oder des Unternehmers, die in Form einer Motivations-, Informations- und Fortbildungsmaßnahme von dem zuständigen Unfallversicherungsträger angeboten wird. Mit dem erworbenen Wissen steht die Unternehmerin oder der Unternehmer in der Pflicht, Betreuungsbedarf selbst zu erkennen und diesen entsprechend in eine konkrete Betreuung umzusetzen.
Für die Grundbetreuung gemäß Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2 lassen sich Betreuungszeiten konkret berechnen. Maßgeblich sind hierfür die Anzahl der Beschäftigten und die Zuordnung des Unternehmens zu einer von drei möglichen Betreuungsgruppen. Die Betreuungsgruppen spiegeln dabei das branchenspezifische Risiko sowie das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen wider. Entsprechend sind Einsatzzeiten für die Grundbetreuung von 2,5 Stunden bei der Betreuungsgruppe I, von 1,5 Stunden bei der Betreuungsgruppe II und von 0,5 Stunden bei der Betreuungsgruppe III für die einzelnen Beschäftigten pro Jahr festgeschrieben. Die so errechnete Gesamteinsatzzeit ist je nach betrieblichem Erfordernis zwischen Betriebsärztin oder Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit aufzuteilen, wobei ein Mindestanteil von jeweils 20 Prozent, jedoch nicht weniger als 0,2 Stunden vorgesehen ist. Dies bedeutet, dass in der Betreuungsgruppe I 30 Minuten, in der Betreuungsgruppe II 18 Minuten und in der Betreuungsgruppe III 12 Minuten mindestens zu erbringen sind.
Betriebsärztlicher Betreuungsbedarf in Deutschland
Für den Bericht der Bundesregierung zur Sicherheit und Gesund bei der Arbeit 2019 wurden von den Unfallversicherungsträgern für die insgesamt etwa 3,4 Millionen Unternehmen in Deutschland rund 33,9 Millionen sogenannte „Vollarbeiter“ gemeldet, davon 30,1 Millionen von den gewerblichen Unfallversicherungsträgern und 3,8 Millionen von den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand.[3] [4] [5]
Der Wert „Vollarbeiter“ wird dabei rechnerisch ermittelt aus den in den Unternehmen jährlich geleisteten Arbeitsstunden dividiert durch einen vom Statistischen Bundesamt festgelegten Vollarbeiterrichtwert, der für 2019 bei 1.570 Stunden lag. Die Unfallversicherungsträger arbeiten in der Regel mit dieser Kennzahl der Vollarbeiter.
Grundbetreuung nach Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2
Von den 33,9 Millionen gemeldeten Vollarbeitern sind gemäß den Meldungen der Unfallversicherungsträger etwa 22,3 Millionen in Unternehmen tätig, die 50 oder mehr Vollarbeiter beschäftigen. Weitere 6,3 Millionen Vollarbeiter sind in Unternehmen mit 10 bis 49 Vollarbeitern tätig. Diese Unternehmen fallen aufgrund ihrer Betriebsgröße grundsätzlich in die Regelbetreuung gemäß Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2.
Unternehmen mit mehr als 10 und bis 50 Beschäftigte können sich alternativ auch für eine Betreuung nach Anlage 3 entscheiden. Erfahrungsgemäß wird dieses Angebot allerdings von weniger als der Hälfte der Unternehmen angenommen. Für die nachfolgenden Berechnungen der Grundbetreuung nach Anlage 2 werden daher 3,2 dieser 6,3 Millionen Vollarbeiter berücksichtigt. Somit wird insgesamt ein Wert von 25,5 Millionen Vollarbeitern für die Berechnungen zum Betreuungsbedarf nach Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2 herangezogen.
Aufgrund der Verteilung der Betriebe auf die jeweiligen Betreuungsgruppen I, II und III bei den einzelnen Unfallversicherungsträgern entsprechend ihrer jeweiligen Branchenzugehörigkeit und einem Mindestanteil von 20 Prozent oder 0,2 Stunden nach Anlage 2 kann abgeleitet werden, dass etwa 18 Minuten betriebsärztliche Mindest-Betreuungszeit pro Vollarbeiter im Mittel zugrunde zu legen sind. Hieraus errechnet sich ein jährlicher betriebsärztlicher Mindest-Betreuungsbedarf für die Grundbetreuung nach Anlage 2 von 7,7 Millionen Stunden.
Zu berücksichtigen ist ferner, dass etwa 30 Prozent der in Deutschland Beschäftigten in Teilzeit arbeiten.[6] Die Unfallversicherungsträger berücksichtigen Teilzeitbeschäftigte bei der Berechnung der Grundbetreuung unterschiedlich. Trägt man dem Rechnung und berücksichtigt, dass Teilzeitbeschäftigte stellenweise wie Vollzeitbeschäftigte angerechnet werden, dann fällt der errechnete Mindest-Betreuungsbedarf für die Grundbetreuung höher aus als die oben berechneten 7,7 Millionen Stunden. In Folge darf von einem Gesamtbedarf von mindestens acht Millionen Stunden betriebsärztlicher Grundbetreuung ausgegangen werden.
Grundbetreuung nach Anlage 1 und alternative Betreuung nach Anlagen 3 und 4 der DGUV Vorschrift 2
Etwa 11,6 Millionen Vollarbeiter waren nach den Meldungen der Unfallversicherungsträger in Unternehmen mit bis zu 49 Vollarbeitern beschäftigt.[7] [8] [9] Da von diesen 11,6 Millionen Vollarbeitern bereits 3,2 Millionen in der Grundbetreuung nach Anlage 2 rechnerisch berücksichtigt sind, werden für die folgenden Ableitungen lediglich 8,4 Millionen Vollarbeiter einbezogen.
In Abhängigkeit der Beschäftigtenzahl sowie der Angebote des für sie zuständigen Unfallversicherungsträgers werden diese Unternehmen entweder nach Anlage 1 der DGUV Vorschrift 2 oder alternativ nach Anlage 3 oder 4 betreut (siehe auch Abbildung 1).
Aus Erfahrungen einzelner Unfallversicherungsträger lässt sich – ungeachtet bestehender Unterschiede zwischen diesen Betreuungsformen – ableiten, dass im Durchschnitt dieser drei möglichen Betreuungsformen nach den Anlagen 1, 3 oder 4 die betriebsärztliche Betreuung mit etwa einem Drittel des Wertes für die Regelbetreuung nach Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2 angenommen werden kann. Die daraus rechnerisch resultierenden sechs Minuten ergeben bei insgesamt 8,4 Millionen Vollarbeitern einen Bedarf an betriebsärztlicher Betreuung von etwa einer Million Stunden.
Betriebsspezifische Betreuung nach Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2 und arbeitsmedizinische Vorsorge
Der Umfang der betriebsspezifischen Betreuung ist – im Gegensatz zur Grundbetreuung – nicht durch rechnerisch zu ermittelnde Einsatzzeiten festgelegt. Zurückgegriffen werden kann aber auf Empfehlungen verschiedener Unfallversicherungsträger, die aufgrund von Erfahrungswerten Stundenzahlen pro Beschäftigter oder Beschäftigtem und Jahr für die betriebsspezifische Betreuung vorschlagen. So empfiehlt die Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) 0,2 Stunden pro Beschäftigter oder Beschäftigtem und Jahr.[10] Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) empfiehlt in Anhang 1 ihrer DGUV Vorschrift 2 entsprechend 0,1 Stunden für die Betreuungsgruppe I und 0,2 Stunden für die Betreuungsgruppen II und III.[11] Die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) empfiehlt 0,05 Stunden pro Beschäftigter oder Beschäftigtem und Jahr – jedoch ohne die arbeitsmedizinische Vorsorge.[12]
Im Sinne einer eher konservativen Abschätzung wird von etwa 0,1 Stunden betriebsspezifischer Betreuung für Unternehmen nach Anlage 2 durch Betriebsärztinnen oder Betriebsärzte je Beschäftigter oder Beschäftigtem und Jahr ausgegangen. Für die Berechnung wird die zuvor ermittelte Vollarbeiter-Zahl von 25,5 Millionen herangezogen. Aus diesen beiden Werten resultiert für die betriebsspezifische Betreuung dieser Unternehmen und Beschäftigten in Deutschland ein Wert von etwa 2,6 Millionen Stunden.
Im Rahmen der betriebsspezifischen Betreuung ergibt sich auch durch das Aufgabenfeld „Arbeitsmedizinische Vorsorge“ ein Bedarf an betriebsärztlichen Leistungen. Nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin lag der zeitliche Umfang für das Jahr 2011 im Bereich von 1,1 bis 1,6 Millionen Stunden.[13] Die arbeitsmedizinische Vorsorge ist für Unternehmen, die unter Anlage 2 der DGUV Vorschrift 2 fallen, teilweise in der vorgenannten Berechnung enthalten, für die Betriebe gemäß den Betreuungsformen nach den Anlagen 1, 3 und 4 jedoch nicht.
In Summe kann daher für die betriebsspezifische Betreuung inklusive der arbeitsmedizinischen Vorsorge ein Gesamtwert von mindestens drei Millionen Stunden abgeleitet werden.
Fahrzeiten
Bei der Berechnung des betriebsärztlichen Gesamtbedarfs für Deutschland müssen auch Zeiten berücksichtigt werden, die für die Fahrten zum Betrieb und zurück beziehungsweise von Betrieb zu Betrieb anfallen.
Nach dem SuGA-Bericht 2019 arbeiten wie oben bereits erwähnt 22,3 Millionen Vollarbeiter in Unternehmen, die 50 oder mehr Beschäftigte haben. Da die jährliche Einsatzzeit für die betriebsärztliche Grundbetreuung pro Betrieb bei dieser Betriebsgröße rechnerisch mehr als einen Arbeitstag ausmacht, wird konservativ unterstellt, dass die Betreuungsleistung im Betrieb, also vor Ort, immer ganztägig erbracht wird, also in einem Achtstundenblock. Von den oben genannten acht Millionen Stunden für die Grundbetreuung nach Anlage 2 entfallen auf Unternehmen mit 50 oder mehr Beschäftigten etwa sieben Millionen Stunden. Hinzuzurechnen sind außerdem noch etwa drei Millionen Stunden betriebsspezifischer Betreuung inklusive arbeitsmedizinischer Vorsorge. In Summe sind für diese Unternehmen daher etwa zehn Millionen Stunden betriebsärztlicher Betreuung vor Ort zu erbringen.
Bei rechnerischer Erbringung der Betreuungsleistung immer in ganzen Tagen ergeben sich etwa 1,3 Millionen Arbeitstage vor Ort in den Unternehmen, das heißt etwa 1,3 Millionen Fahrten in die Unternehmen mit 50 und mehr Beschäftigten und wieder zurück.
Natürlich gibt es eine entsprechende Anzahl von Unternehmen, die über eine fest angestellte Betriebsärztin oder einen fest angestellten Betriebsarzt verfügen und bei denen somit am Hauptstandort keine Fahrzeiten anfallen. Dem steht allerdings gegenüber, dass viele der etwa 0,1 Millionen Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten über mehrere Betriebsstätten oder Filialen verfügen, die entsprechend aufzusuchen sind.
In den etwa 3,3 Millionen Kleinst- und Kleinunternehmen mit einer Betriebsgröße bis zu 49 Vollzeitbeschäftigten arbeiten nach dem SuGA-Bericht 2019 insgesamt etwa 11,4 Millionen Vollarbeiter. Auch diese Unternehmen sind vor Ort zu betreuen, zum Teil allerdings nicht jährlich. Geht man auf Basis von Erfahrungswerten davon aus, dass im Jahresdurchschnitt etwa ein Drittel dieser Unternehmen aufzusuchen ist, ergeben sich weitere etwa 1,1 Millionen Betriebsbesuche pro Jahr.
Im Rahmen des im Jahr 2020 abgeschlossenen Pilotprojekts „Zentrumsmodell für die betriebliche Betreuung“ der DGUV wurden neben weiteren Kennzahlen auch die durchschnittlichen Fahrzeiten der Dienstleister für die Fahrten in die Betriebsstätten ermittelt.[14] Diese lagen im Durchschnitt bei etwa 45 Minuten für eine einfache Fahrt. Das Pilotprojekt wurde dabei in einer Region durchgeführt, die zu ausgewogenen Anteilen sowohl ländliche als auch städtische Infrastrukturen aufwies und damit möglichst repräsentative Ergebnisse liefern sollte.
Die Gesamtdauer für Fahrten kann somit auf (1,3 + 1,1) Millionen Fahrten x 1,5 Stunden beziffert werden und beläuft sich damit auf 3,6 Millionen Stunden. Im Sinne einer konservativen Schätzung werden zusammenfassend mehr als drei Millionen Stunden für Fahrzeiten zugrunde gelegt.
Zusammenfassung
Der sich aus den vorgenannten Berechnungen ergebende betriebsärztliche Betreuungsbedarf ist in Tabelle 1 zusammengefasst und in Abbildung 2 grafisch dargestellt. Das Gesamtvolumen an betriebsärztlichem Betreuungsbedarf in Deutschland beziffert sich derzeit auf mehr als 15 Millionen Stunden im Jahr.
Nicht berücksichtigt bei den Werten in der Tabelle 1 ist der Bedarf im Bereich der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft. Nach den Erhebungen des Statistischen Bundesamtes gab es im Jahr 2020 in Deutschland 263.500 landwirtschaftliche Betriebe mit insgesamt 936.900 Arbeitskräften, etwa ein Drittel der Arbeitskräfte sind dabei saisonal Beschäftigte.[15]
Betriebsärztliche Kapazitäten in Deutschland
Nach der veröffentlichten Ärztestatistik der Bundesärztekammer für das Jahr 2020 waren in Deutschland 3.716 Ärztinnen und Ärzte mit der Facharztbezeichnung „Arbeitsmedizin“ und 4.348 Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“ berufstätig.[16]
Weiterhin haben zwar 1.766 Ärztinnen und Ärzte die Facharztbezeichnung „Arbeitsmedizin“ und 2.983 Ärztinnen und Ärzte die Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“, sind aber nicht oder nicht mehr beruflich als Ärztinnen und Ärzte tätig.
In Summe besitzen somit 8.046 berufstätige Ärztinnen und Ärzte die erforderliche arbeitsmedizinische Fachkunde, um in Deutschland als Betriebsärztin oder Betriebsarzt tätig zu werden.
Über die jährlichen Statistiken der Bundesärztekammer steht außerdem die Altersverteilung der Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde zur Verfügung. Hier sind auch diejenigen Ärztinnen und Ärzte berücksichtigt, die die erforderliche arbeitsmedizinische Fachkunde erworben haben, aber nicht oder nicht mehr als Ärztinnen und Ärzte tätig sind. Die aktuelle prozentuale Altersverteilung dieser Ärztinnen und Ärzte ist in Abbildung 3 grafisch dargestellt.[17]
Entsprechend Abbildung 3 sind etwas mehr als 50 Prozent der Ärztinnen und Ärzte 65 Jahre und älter. Die Gruppe der 55- bis 64-Jährigen entspricht ebenso wie die Gruppe der bis zu 54-Jährigen jeweils etwa 25 Prozent.
Nach Auskunft der Bundesärztekammer sind etwa 3.500 der oben genannten 8.046 berufstätigen Ärztinnen und Ärzte auch tatsächlich betriebsärztlich tätig.[18] Inwieweit diese in Vollzeit, Teilzeit oder nur gelegentlich als Betriebsärztinnen oder Betriebsärzte tätig sind, ist nicht bekannt. Vergleicht man diese Angaben mit der Gesamtzahl der im Jahr 2020 berufstätigen Ärztinnen und Ärzte mit der Facharztbezeichnung „Arbeitsmedizin“ und der Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“, so kann abgeleitet werden, dass nicht ganz die Hälfte der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte mit der erforderlichen arbeitsmedizinischen Fachkunde tatsächlich auch als Betriebsärztinnen oder Betriebsärzte arbeiten.
Zur Abschätzung der in Deutschland tatsächlich zur Verfügung stehenden betriebsärztlichen Kapazitäten für die betriebliche Betreuung wird die durchschnittliche jährliche Arbeitsleistung aller Erwerbstätigen in Deutschland zugrunde gelegt. Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) betrug diese im Jahr 2019 im Mittel 1.383 Stunden.[19] Dieser Wert ist ein Mittelwert über alle Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten in Deutschland. Die jährlich zur Verfügung stehenden betriebsärztlichen Kapazitäten errechnen sich somit wie folgt: 3.500 x 1.383 Stunden = 4,8 Millionen Stunden.
Die im Markt zur Verfügung stehenden betriebsärztlichen Kapazitäten liegen demnach im Bereich von knapp fünf Millionen Stunden im Jahr.
Prognose zur weiteren Entwicklung
Um eine Vorstellung über die zukünftige Entwicklung betriebsärztlicher Kapazitäten gewinnen zu können, werden die von der Bundesärztekammer zur Verfügung gestellten Altersverteilungen der Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde der Jahre 2007, 2010, 2015 und 2020 untereinander verglichen.[20] [21] [22] [23] Die Gesamtzahl dieser Ärztinnen und Ärzte ist über den vorgenannten Zeitraum nahezu konstant geblieben. Die Zahlen beinhalten auch Ärztinnen und Ärzte, die nicht oder nicht mehr berufstätig sind, und auch Ärztinnen und Ärzte, die zwar berufstätig, aber nicht betriebsärztlich tätig sind. Die prozentuale Altersverteilung ist in Abbildung 4 grafisch dargestellt.
Nach Abbildung 4 ist der Anteil der über 64-Jährigen von 2007 bis 2020 kontinuierlich von 34 Prozent im Jahr 2007 auf über 40 Prozent im Jahr 2010 und 47 Prozent im Jahr 2015 gewachsen und liegt nunmehr im Jahr 2020 bei 51 Prozent. Im Gegenzug ist die zeitliche Entwicklung in den Altersgruppen bis 59 Jahre rückläufig.
Um auf Basis der vorhandenen Daten eine Prognose für die Zukunft abgeben zu können, wurden die Altersgruppen in vier größere Einheiten, nämlich jünger als 40 Jahre, 40 bis 49 Jahre, 50 bis 59 Jahre sowie 60 Jahre und älter zusammengefasst. Dies ist vor dem Hintergrund der geringen Häufigkeiten in den jüngeren Altersgruppen sinnvoll.
Die prozentualen Anteile dieser vier Altersgruppen für die Jahre 2007, 2010, 2015 und 2020 sind in Tabelle 2 zusammengefasst und in Abbildung 5 grafisch dargestellt. Darüber hinaus wurden für diese vier Altersgruppen jeweils lineare Regressionen gerechnet. Die zugehörigen vier Regressionsgeraden sind ebenfalls in Abbildung 4 eingezeichnet. Sie erlauben außerdem eine Extrapolation für kommende Jahre. Die Bestimmtheitsmaße der drei „älteren“ Gruppen liegen zwischen R2 = 0,95 und R2 = 0,97. Die errechneten Regressionsgeraden haben insofern eine sehr gute Anpassungsgüte an die vorhandenen Datensätze. In der Altersgruppe der bis zu 39-Jährigen ist das Bestimmtheitsmaß mit einem Wert von R2 = 0,14 hingegen nur wenig aussagekräftig.
Die als Extrapolation mittels der Regressionsgeraden errechneten Werte für die Jahre 2025 und 2030 sind ebenfalls in Tabelle 2 angegeben.
Nach Tabelle 2 wird auf Grundlage der berechneten Regressionsgeraden der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde in der Altersgruppe der über 60-Jährigen von heute 64 Prozent über 72 Prozent im Jahre 2025 auf 78 Prozent im Jahre 2030 ansteigen. Im genannten Zeitraum nimmt der Anteil der Altersgruppe der bis 59-Jährigen in gleicher Weise ab.
Zusammenfassend implizieren die Regressionsrechnungen und die in Tabelle 2 dargestellten Prognosen, dass das Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde weiterhin wohl eher zunehmen wird.
Diskussion
Die vorhandenen betriebsärztlichen Kapazitäten in Deutschland liegen im Bereich von knapp fünf Millionen Stunden im Jahr. Diesem Angebot steht ein Bedarf gemäß DGUV Vorschrift 2 von mehr als 15 Millionen Stunden gegenüber. Der Bedarf kann demzufolge nur zu weniger als einem Drittel tatsächlich gedeckt werden.
Die hier vorgestellten Ergebnisse zum betriebsärztlichen Bedarf decken sich mit den Zahlen des Berichts „Arbeitsmedizinischer Betreuungsbedarf in Deutschland“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, der im Jahr 2014 veröffentlicht wurde.[24] Die Autorinnen und Autoren kamen damals auf Basis der Mindestgrößen gemäß DGUV Vorschrift 2 auf eine Summe von mindestens 13,8 Millionen Stunden betriebsärztlicher Betreuung in den Unternehmen für das Jahr 2011. Die Prognose für das Jahr 2021 lag bei 14,5 Millionen Stunden.
Das betriebsärztliche Angebot wurde in vorgenannter Studie auf etwa neun Millionen Stunden für das Jahr 2011 errechnet. Bei den Berechnungen wurden alle berufstätigen Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde berücksichtigt abzüglich der in Forschung und Lehre sowie bei Ämtern und bei Sozialversicherungen Tätigen. In die Berechnungen der betriebsärztlichen Kapazitäten ging somit für das Jahr 2011 ein Wert von etwa 6.000 Ärztinnen und Ärzte ein, die in der betrieblichen Betreuung als Betriebsärztinnen oder Betriebsärzte tätig sein konnten. Aufgrund der aktuellen Mitteilung der Bundesärztekammer beträgt die Zahl der betriebsärztlich Tätigen für das Jahr 2020 etwa 3.500 Ärztinnen und Ärzte.
Die Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin stellte weiterhin fest, dass ausgehend vom Jahr 2011 jährlich etwa 630 Ärztinnen und Ärzte die erforderliche arbeitsmedizinische Fachkunde erwerben müssen, damit im Jahr 2021 das betriebsärztliche Angebot den Mindestbedarf nach DGUV Vorschrift 2 decken kann. Nach den Statistiken der Bundeärztekammer haben in den vergangenen zehn Jahren im Mittel etwa 200 Ärztinnen und Ärzte die Facharztbezeichnung „Arbeitsmedizin“ erworben, in den vergangenen fünf Jahren im Mittel etwa 230 Ärztinnen und Ärzte. Hinzuzurechnen sind die Ärztinnen und Ärzte, die in diesem Zeitraum die Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“ abgeschlossen haben. Weiter wurde in der Studie darauf hingewiesen, dass aufgrund der angenäherten Weiterbildungsanforderungen die Zahl der Neuanerkennungen der Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“ deutlich geringer werden dürfte. Dies bestätigen auch die aktuellen Statistiken der Bundeärztekammer, wonach im Jahr 2020 der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“ im Altersbereich bis 49 Jahre bei 14 Prozent der Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde liegt, im Altersbereich bis 59 Jahre bei 25 Prozent und über alle Altersgruppen bei 42 Prozent. Der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatzweiterbildung „Betriebsmedizin“ wird insofern zunehmend geringer. Es kann somit gefolgert werden, dass in den vergangenen zehn Jahren im Mittel etwa 230 bis 250 Ärztinnen und Ärzte die nach DGUV Vorschrift 2 erforderliche arbeitsmedizinische Fachkunde erworben haben. Die erforderliche Zahl von jährlich etwa 630 Neuanerkennungen der arbeitsmedizinischen Fachkunde wurde demzufolge bei Weitem nicht erreicht.
Allein zum Erhalt des damaligen Status quo, also der im Jahre 2011 vorhandenen betriebsärztlichen Kapazitäten, hätten nach der Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin seither etwa 280 Ärztinnen und Ärzte jährlich die erforderliche arbeitsmedizinische Fachkunde erwerben müssen. Auch dieser Wert konnte offensichtlich nicht erreicht werden. Die daraus resultierende rückläufige Entwicklung betriebsärztlicher Kapazitäten lässt sich auch daran erkennen, dass nach den Werten in Tabelle 2 der Anteil der Ärztinnen und Ärzte mit einem Alter von bis zu 59 Jahren im Zeitraum von 2010 bis 2020 von 47 Prozent auf 36 Prozent gesunken ist.
Es kann somit geschlossen werden, dass die bereits im Jahr 2014 durch die Untersuchungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin festgestellte und für das Jahr 2011 auf etwa fünf Millionen Stunden bezifferte Diskrepanz zwischen Bedarf und Angebot betriebsärztlicher Kapazitäten seither noch zugenommen hat. Nach unseren Berechnungen beläuft sich die Bedarfslücke nunmehr auf mehr als zehn Millionen Stunden. Ferner ist nach den vorgestellten Berechnungen zu erwarten, dass die arbeitsmedizinischen Kapazitäten für die betriebsärztliche Betreuung der Unternehmen und Beschäftigten in den kommenden Jahren weiterhin abnehmen.
An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass bestimmte betriebsärztliche Aufgaben – zumindest in der betriebsspezifischen Betreuung – von den Betriebsärztinnen und Betriebsärzten durchaus auch an medizinisches Fachpersonal delegiert werden können. Nach den Werten in Tabelle 1 und Abbildung 2 führt diese mögliche Delegation allerdings zu keiner nennenswerten Verringerung des festgestellten Defizits.
Ausblick
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der sich über die jetzige DGUV Vorschrift 2 für die Unternehmen in Deutschland ergebende Bedarf betriebsärztlicher Betreuung von mehr als 15 Millionen Stunden vom Arbeitsmarkt heute und in der näheren Zukunft nicht gedeckt werden kann. Es ist daher notwendig, die DGUV Vorschrift 2 neu zu denken und zu konzipieren. Der verbindlich geforderte Umfang betriebsärztlicher Betreuung in der DGUV Vorschrift 2 muss sich an den tatsächlich zur Verfügung stehenden betriebsärztlichen Kapazitäten orientieren. Er ist auf diejenigen Leistungen zu fokussieren, die ausschließlich durch Betriebsärzte oder Betriebsärztinnen erbracht werden können.
Die hier vorgestellten Ergebnisse sind als Ausgangspunkt für die weitere Diskussion zu sehen – auch und insbesondere in den Selbstverwaltungsgremien der gesetzlichen Unfallversicherung. Ein „Weiter so“ ist auf Basis der vorgestellten Ergebnisse nicht angezeigt, eine offene, datenbasierte Debatte unabdingbar.