Lassen sich Erkenntnisse aus der Compliance-Forschung auf die Prävention übertragen?
Dr. Katharina Gangl forscht am Institut für Höhere Studien in Wien. Im Interview beantwortet sie Fragen zum Einfluss verschiedener Maßnahmen von Steuerbehörden auf die Bereitschaft („Compliance“), Steuern zu zahlen. Das Interview geht der Frage nach, ob diese Forschungsergebnisse auf die Compliance für mehr Prävention in den Betrieben übertragbar sind.
Frau Dr. Gangl, was müssen wir uns unter Compliance aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht vorstellen?
Dr. Gangl: Compliance beschreibt, ob und wie Menschen sich an Regeln halten. Je nach Themenschwerpunkt gibt es viele verschiedene Arten von Compliance. In der Steuerforschung wird beispielsweise zwischen der Compliance mit der Zahlungshöhe, der Compliance mit dem Zahlungstermin oder der Compliance in der Zusammenarbeit mit den Behörden unterschieden. Eine Person kann dann beispielsweise Compliance mit der Zahlungshöhe, aber nicht mit dem Zahlungstermin zeigen.
Wie sind Sie bei Ihren Untersuchungen zur Steuer-Compliance vorgegangen?
Dr. Gangl: Wir untersuchen die zentrale Forschungsfrage „Wie kann die Steuer-Compliance gesteigert werden?“ mit einem Multi-Methoden-Ansatz aus qualitativen und quantitativen Forschungsprojekten. Wir haben beispielsweise qualitative Tiefeninterviews mit verschiedenen Gruppen von Steuerzahlenden und Steuerprüfenden durchgeführt sowie quantitative Umfragen mit einer großen Anzahl von Steuerzahlenden aus unterschiedlichen Ländern umgesetzt. Besonders wichtig ist die Methode des Experimentes, mit der wir untersuchen, wie verschiedene Ansätze der Steuerbehörden auf die Compliance wirken.
Wie können sich das unsere Leserinnen und Leser in Bezug auf Ihre Forschung zur Steuer-Compliance vorstellen?
Dr. Gangl: Beim Laborexperiment werden beispielsweise von 100 Personen zufällig 50 einem Ansatz und die anderen 50 einem weiteren Ansatz zugeteilt und beide Gruppen werden gebeten, auf ein fiktives Einkommen Steuern zu bezahlen. Wir untersuchen dann, welcher Ansatz zu mehr Compliance mit der Zahlungshöhe führt und welche psychologischen Prozesse mögliche Unterschiede erklären können. In Feldexperimenten haben wir mit der Steuerbehörde beispielsweise ausprobiert, ob eine spezielle und intensive Betreuung von Jungunternehmerinnen und -unternehmern im Vergleich zur normalen Betreuung die Compliance positiv beeinflussen kann. Die Ergebnisse waren gemischt, die Unternehmen haben zwar korrekter bezahlt, aber weniger rechtzeitig.
Unter welchen Bedingungen zahlen Betriebe denn ihre Steuern „lieber“?
Dr. Gangl: Der wichtigste Faktor ist Vertrauen. Wenn die Bevölkerung den Steuerbehörden vertraut, dann zahlt sie auch ihre Steuern ehrlicher. Vertrauen bedeutet, dass die Bevölkerung davon überzeugt ist, dass die Behörde wichtige Ziele verfolgt und diese Ziele professionell, motiviert und wohlwollend umsetzt und dass auch die Gesamtsituation (Politik, Wirtschaft) die Umsetzung dieser Ziele erlaubt.
Gibt es neben Vertrauen weitere wichtige Faktoren?
Dr. Gangl: Ein anderer wichtiger Faktor ist die Macht der Behörden, das heißt die Meinung, dass die Behörden Steuervergehen aufdecken und bestrafen können. Wobei auch hier Vertrauen eine Rolle spielt, nämlich das Vertrauen, dass die Behörden gezielt nur jene durch Kontrollen und Strafen verfolgen, die das System ausnutzen, anstatt wahllos alle mit Kontrollen und Strafen zu drangsalieren.
Finanzbehörden sind gesetzlich autorisiert, Steuern einzuziehen. Auch die gesetzliche Unfallversicherung hat Befugnisse, die ihr vom Staat übertragen wurden. Dazu gehört die hoheitliche Aufgabe der Aufsichtspersonen, Betriebe zu betreten, zu besichtigen, Maßnahmen anzuordnen und gegebenenfalls zu sanktionieren. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zu den Finanzbehörden? Lassen sich Ihre Forschungsergebnisse vielleicht sogar auf die gesetzliche Unfallversicherung übertragen?
Dr. Gangl: Eine zentrale Gemeinsamkeit ist, dass in beiden Fällen Behörden und die Bevölkerung beziehungsweise Unternehmen miteinander kooperieren müssen. Auf theoretischer Ebene kann man diese zwei Formen der Kooperation daher sicherlich mit den gleichen Konzepten analysieren und verbessern: Vertrauen, Kontrollen, Strafen et cetera. Dennoch gibt es in der konkreten Art der Kooperation, beispielsweise „Steuerbescheide mit Steuerberatungen erarbeiten“ versus „Arbeitsschutz gemeinsam mit Mitarbeitenden umsetzen“, sehr viele Unterschiede. Ich denke daher, dass sich die theoretischen Konzepte meiner Steuerforschung, die ja auf Forschung aus anderen Anwendungsfeldern wie der Kooperation zwischen Polizei und der Bevölkerung aufbaut, auf den Arbeitsschutz übertragen lassen. Wie die konkrete Umsetzung der Konzepte im Arbeitsschutz aussieht, muss allerdings im Detail erarbeitet werden.
Im Bereich der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz gibt es Betriebe, die über das gesetzlich Geforderte hinaus aktiv sind, solche, die das Nötigste tun, und es gibt auch Betriebe, die unterhalb der gesetzlichen Vorgaben bleiben. Wie könnte überdurchschnittliche Compliance übertragen werden?
Dr. Gangl: Ein grundlegender Ansatz würde darin bestehen, zuerst mittels empirischer Studien wie Interviews und Umfragen die Motivatoren und Hindernisse für Compliance in den unterschiedlichen Gruppen von Betrieben zu analysieren. Darauf aufbauend kann man dann Lösungen entwickeln und mit Experimenten auf Wirksamkeit testen. Eine Lösungsmöglichkeit wäre die Kommunikation der geltenden sozialen Norm.
Was bedeutet das genau?
Dr. Gangl: Das bedeutet, dass man beispielsweise jungen Gastronominnen und Gastronomen, die die Sicherheitsvorschriften in der Küche nicht ernst nehmen, rückmeldet, dass die meisten Gastronomiebetriebe sich an diese Vorschriften halten. Natürlich muss diese Information auch der Wahrheit entsprechen. Eine experimentelle Überprüfung würde bedeuten, dass man zufällig der einen Hälfte die soziale Norm rückmeldet und der anderen nicht und dann überprüft, wie sich die Einhaltung der Vorschriften in beiden Gruppen entwickelt hat.
Der Begriff „Belohnungsmacht“ aus Ihren Studien passt sehr gut zu unserer Möglichkeit, Betriebe und Bildungseinrichtungen mithilfe von Anreizen für ihr überdurchschnittliches Engagement für Sicherheit und Gesundheit zu belohnen. Wie erreicht man Betriebe, die über die Belohnungsmacht nicht zu erreichen sind?
Dr. Gangl: Generell lässt sich diese Frage nicht beantworten. Es hängt von der jeweiligen Motivation und Situation dieser Betriebe ab. Erst wenn man diese Ausgangssituation gut analysiert hat, kann man eine passende Ansprache für diese Betriebe erarbeiten.
Ihr Modell der Compliance nennt sich „Slippery Slope Framework“. Was bedeutet das?
Dr. Gangl: Slippery Slope ist ein englischsprachiger Ausdruck, der sich schwer direkt ins Deutsche übertragen lässt. Es geht darum, dass in der Beziehung zwischen Behörden und Bevölkerung – schneller, als man glaubt – Teufelskreise entstehen können. Wenn die Behörde beispielsweise nur auf Kontrollen und Strafen setzt und den Aufbau einer Vertrauensbeziehung völlig vernachlässigt, dann wird die Compliance sofort weg sein, sobald Betriebe keine Kontrollen und Strafen mehr wahrnehmen. Das bedeutet, je mehr man nur auf Kontrollen und Strafen setzt, desto mehr Kontrollen und Strafen braucht man. In dem Modell nehmen wir an, dass dasselbe auch für Vertrauen gilt – wenn man nur auf Vertrauen setzt, muss man auch hier ständig investieren. Kommt es zu einem Vertrauensbruch und die Betriebe beginnen den Behörden zu misstrauen, dann kann sich auch schnell ihre Compliance reduzieren.
Können Sie uns ein Beispiel dazu nennen?
Dr. Gangl: Ein Beispiel wäre, wenn ein Betrieb, der sich an alle Regeln hält, den Eindruck bekommt, dass die Konkurrenz das nicht tut und die Behörden hier auch nicht reagieren. Um dieses Abrutschen in Teufelskreise zu vermeiden, sollten Behörden eine kluge Mischung aus Kontrollen und Vertrauen umsetzen.
Wie unterscheiden Sie in Ihrem Modell „Zwangsmacht“ von der legitimen Macht?
Dr. Gangl: Zwangsmacht bedeutet, dass ich jemanden durch Gesetze, Kontrollen und Strafen zwinge, das zu tun, was ich will. Legitime Macht bedeutet, ich versuche jemand durch beispielsweise Information und Mitspracherecht vom Sinn der geltenden Regeln zu überzeugen, sodass sich die Person freiwillig an die Regeln hält. In beiden Fällen folgt die Bevölkerung der Macht, aber die dahinterliegenden Motivationen sind ganz andere.
Die Aufsicht der gesetzlichen Unfallversicherung setzt nicht ausschließlich auf Kontrolle und Sanktionen. In erster Linie will sie Betriebe von Sicherheit und Gesundheit überzeugen und beraten. Wie beurteilen Sie das im Lichte Ihrer Forschungsergebnisse?
Dr. Gangl: Der Ansatz ist prinzipiell klug.
Sie sprechen in Ihren Publikationen von „Nudging“, also dem sanften Druck, um Verhaltensänderungen zu erzielen. Wie nachhaltig ist das?
Dr. Gangl: Wie langfristig Nudging-Maßnahmen wirken, wurde bisher noch nicht umfassend untersucht. Viele der Nudging-Maßnahmen setzen aber darauf, dass sie permanent in der jeweiligen Entscheidungssituation zum Einsatz kommen. Beispielsweise würde man eine Erinnerung an wichtige Termine nicht nur einmal schicken, sondern jedes Mal, wenn sich dieser wichtige Termin – zum Beispiel eine Vorsorgeuntersuchung – wiederholt. Ich denke daher, diese Erinnerungen wirken auch wiederholt.
Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür?
Dr. Gangl: Wir haben in Wien versucht, Menschen durch Naturbilder an den Wänden dazu zu bringen, ihren Müll korrekter zu entsorgen. Diese Naturbilder hatten auch nach sieben Wochen immer noch einen positiven Effekt auf das Verhalten. Insgesamt denke ich daher, dass es Situationen gibt, in denen Nudging-Maßnahmen auch langfristig funktionieren und sich nicht abnutzen.
Vielen Dank, Frau Dr. Gangl, für das Interview.
Das Interview führten Isabell Nöthen-Garunja, Dr. Roland Portuné, Dr. Heinz Schmid, DGUV.
Dr. Katharina Gangl forscht am Institut für Höhere Studien in Wien. Es ist spezialisiert auf wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fragen, die an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen ausgerichtet sind und künftige politikrelevante Themenstellungen antizipieren. Dr. Gangl ist Psychologin und beschäftigt sich vorrangig mit dem Thema Compliance („Regelkonformität“) aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht. Ihr Vortrag beim 16. Arbeitsschutzforum in 2022 zum Thema „Compliance im Arbeitsschutz – Strategien und Nutzen“ bildet die Grundlage für das Interview.