Gewalt in Handel und Logistik – Ergebnisse einer Bestandsaufnahme

Einige Angebote der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) zur Gewaltprävention existieren bereits. Für eine zielgerichtete Unterstützung der Mitgliedsbetriebe fehlten bislang jedoch belastbare Daten über Qualität und Quantität von Gewaltereignissen. Eine Befragung sollte daher Aussagen zu übergriffigem und gewalttätigem Verhalten betriebsfremder Personen liefern.

Berichte über Gewaltereignisse haben in den vergangenen Jahren zugenommen, so auch im betrieblichen Kontext von Handel und Logistik. Das gilt einerseits für die mediale Berichterstattung wie Presse und Social Media, andererseits für Anfragen von Beschäftigten aus den Mitgliedsbetrieben, die direkt an die BGHW adressiert waren. Eine Einordnung in das tatsächliche Gewaltgeschehen, um passgenaue Präventionsangebote für Mitgliedsunternehmen zu entwickeln und anzubieten, war bisher aufgrund fehlender belastbarer Datenlage jedoch nicht möglich. Ein Projekt widmete sich daher dieser Thematik.

Begriffliche Einordnung und Ausgangslage

Grundlage für das Handeln der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Definition der International Labour Organization (ILO). Gewalt und Belästigung im Sinne des ILO-Übereinkommens Nummer 190 wird definiert „als eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung […], die darauf abzielen, zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden zu verursachen, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung.“[1]

Aus den Daten zum Arbeitsunfallgeschehen lassen sich nur bedingt belastbare Schlussfolgerungen ableiten. Zum einen werden nur Vorfälle erfasst, denen eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens drei Tagen folgt (meldepflichtige Arbeitsunfälle). Zum anderen beruhen die statistischen Daten der DGUV auf einer repräsentativen Zufallsstichprobe aus allen Unfallmeldungen. Während die BGHW zur Thematik der Raubüberfälle bereits gut aufgestellt ist, fehlten bisher belastbare Daten zu Formen verbaler und psychischer Gewalt wie zum Beispiel Beleidigungen, Beschimpfungen oder Bedrohungen.

Um eine Basis für zukünftige Präventionsangebote zu erhalten, sollten Daten erhoben werden, die eine Einschätzung der Situation über die Grundgesamtheit der bei der BGHW versicherten Mitgliedsunternehmen erlauben. Im Rahmen des Projekts wurden Beschäftigte aus unterschiedlichen Mitgliedsbetrieben der BGHW, die bei ihrer Tätigkeit direkt mit Kundinnen und Kunden oder Lieferantinnen und Lieferanten Kontakt haben, dazu befragt, ob beziehungsweise inwieweit sie mit unangemessenem, respektlosem oder auch gewalttätigem Verhalten von externen, betriebsfremden Personen konfrontiert sind.

Umsetzung der Datenerhebung

Der speziell für die Umfrage entwickelte Fragebogen enthielt insgesamt 51 Fragen, wobei 24 Fragen direkt die Arbeitssituation hinsichtlich verbaler und physischer Gewalt betrafen. 19 Fragen betrafen die Einschätzung von Präventionsmaßnahmen und acht Fragen wurden zu betrieblichen Faktoren wie Branche oder Unternehmensgröße erhoben. Der Fokus der Befragung lag damit auf den psychischen Gewaltereignissen wie Beschimpfungen und Bedrohungen. Es wurden aber auch physische Ereignisse wie körperliche Angriffe oder Raubüberfälle miterfasst. Die Umfrage wurde zwischen Juni und Ende November 2022 überwiegend direkt vom Aufsichtsdienst der BGHW durchgeführt, teilweise unter Zuhilfenahme von eigens dafür produzierten Werbepostkarten mit zum Fragebogen hinführendem QR-Code.

Daneben bestand die Möglichkeit, die Fragen anonym im Internet zu beantworten. Die Auswertung übernahm das Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) in Dresden.

Zur Klärung der Fragen, ob es möglicherweise Unterschiede hinsichtlich betrieblicher sowie personenbezogener Faktoren und der Häufigkeit von Gewaltereignissen gibt, wurden Daten zum Betrieb sowie zu Demografie und Rolle der Befragten erhoben. Im Einzelnen ging es um Branche, Gewerbezweig, Größe und Ortslage der Betriebe, das Geschlecht, die Rolle im Unternehmen, eventuelle Zusatzaufgaben und auch darum, wie die Teilnehmenden auf die Befragung aufmerksam wurden.

Abbildung 1: Gesamtstichprobe Branchen | © IAG / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 1: Gesamtstichprobe Branchen ©IAG / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 2: Gesamtstichprobe – Geschlecht | © IAG / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 2: Gesamtstichprobe – Geschlecht ©IAG / Grafik: kleonstudio.com

Beschreibung der Stichprobe

Insgesamt haben 2.786 Personen an der Befragung teilgenommen. Mehr als zwei Drittel (78,1 Prozent) kamen aus dem Einzelhandel, das restliche Drittel kam zu etwa gleichen Teilen aus dem Großhandel (11,5 Prozent) beziehungsweise aus der Logistik (10,4 Prozent).

Zwei Drittel der befragten Personen waren Frauen (60,8 Prozent). Ein gutes Drittel (36,8 Prozent) waren Männer und 2,4 Prozent haben bei der Frage nach dem Geschlecht mit divers geantwortet. Der hohe Anteil der Frauen entspricht der Geschlechterverteilung der Beschäftigten im Einzelhandel.

Ein weiterer wichtiger Aspekt betraf die Rollen, die die Beschäftigten in ihren Unternehmen innehatten. Besonders relevant war hier die Ausübung von Führungsaufgaben. Auch die Übernahme oder Übertragung anderer Rollen im Arbeitsschutz, zum Beispiel Sicherheitsbeauftragte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit, wurde erhoben.

Wie in Abbildung 3 dargestellt ist, hatten 43,8 Prozent eine Beschäftigung mit Führungsverantwortung und 56,2 Prozent waren ohne Führungsaufgaben. Beinahe zwei Drittel (63,8 Prozent) der Befragten hatten eine andere Rolle im Betrieb übernommen.

Abbildung 3: Gesamtstichprobe – Führungsverantwortung | © IAG / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 3: Gesamtstichprobe – Führungsverantwortung ©IAG / Grafik: kleonstudio.com

Eine Hypothese war, dass es in ländlichen Gegenden weniger gewalttätige Übergriffe gibt als in Innenstadtbereichen. Deshalb wurde auch die Lage des jeweiligen Unternehmens erfasst. Mehr als 60 Prozent der Befragten arbeiteten in Unternehmen, die in Innenstädten oder am Stadtrand lagen. Die übrigen Unternehmen waren auf dem Land oder in Gewerbegebieten. Auch die Größe eines Unternehmens im Sinne der Beschäftigtenzahl könnte bei übergriffigen Ereignissen eine Rolle spielen. Erfahrungsgemäß haben größere Unternehmen oftmals eine eigene Sicherheitsabteilung mit eigenen Fachkräften für Arbeitssicherheit und im günstigsten Fall auch eigene Betriebsärztinnen oder Betriebsärzte. Kleinere und mittelständische Betriebe hingegen arbeiten eher mit externen Fachkräften für Arbeitssicherheit und externen Betriebsärztinnen oder Betriebsärzten zusammen, die nur gelegentlich zur Beratung in den Betrieb kommen. Sehr kleine Betriebe nutzen oft das Angebot des Unternehmermodells, um den Anforderungen des Arbeitsschutzes zu genügen. Diese Überlegungen führten dazu, dass auch die Beschäftigtenzahl der Unternehmen in die Befragung aufgenommen wurde.

Es zeigte sich, dass 63,5 Prozent der befragten Personen aus größeren Unternehmen und nur rund fünf Prozent aus sehr kleinen Unternehmen mit bis zu neun Beschäftigten kamen. Am jeweiligen Standort, an dem die Befragten tätig waren, kamen hingegen 21 Prozent aus Kleinstbetrieben mit bis zu neun Mitarbeitenden. Das hat vor allem mit der Filialstruktur einiger Unternehmen aus dem Einzelhandel zu tun.

Ergebnisse

Bei den 24 Fragen zur Arbeitssituation wurde zunächst nach verbalen, beleidigenden Ereignissen gefragt, gefolgt von physischen Übergriffen bis hin zu Angriffen mit Gegenständen und Waffen und schließlich Raubüberfällen. Die Teilnehmenden konnten die Fragen nach der Häufigkeit von Gewaltereignissen durch externe Dritte in ihrem Betrieb auf einer fünfstufigen Skala beantworten: nie, selten (ein- bis dreimal im Jahr); ab und zu (ein- bis dreimal im Monat); oft (ein- bis dreimal in der Woche); sehr oft (fast täglich).

Zwei Drittel der Gesamtstichprobe werden den Angaben zufolge zumindest verbal mehr oder weniger häufig angegangen. Teilweise wurde vom täglichen Umgang mit Beleidigungen berichtet. Mit zunehmender Schwere der Ereignisse hin zu physischen Übergriffen nahm die Häufigkeit ab. Mit Schwere ist hier lediglich die Art des Übergriffs gemeint, nicht die daraus resultierenden Konsequenzen. Auch Beleidigungen und verbale Angriffe können zum Teil schwere gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Nur ein Drittel der Befragten hatte nie Umgang mit ungeduldigen oder gereizten Personen. Dagegen gaben fast zwei Drittel an, sie hätten im Beruf sehr oft beziehungsweise fast täglich mit ungeduldigen oder gereizten Personen zu tun (Abbildung 4).

Abbildung 4: Gesamtstichprobe – Umgang mit ungeduldigen oder gereizten Personen | © IAG / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 4: Gesamtstichprobe – Umgang mit ungeduldigen oder gereizten Personen ©IAG / Grafik: kleonstudio.com

Mit geringerer Häufigkeit gingen die Fragen nach körperlichen Übergriffen oder Angriffen, bei denen Gegenstände verwendet wurden, einher. Hier gaben mehr als zwei Drittel der Befragten an, dass das bei ihnen nicht vorkommen würde. Allerdings wurde die Frage nach körperlichen Übergriffen wie „angerempelt, getreten, bespuckt oder geschlagen werden“ auch von einem Teil der Befragten mit „oft“ oder „sehr oft“ beantwortet (Abbildung 5).

Abbildung 5: Gesamtstichprobe – Ausmaß körperlicher Angriffe | © IAG / Grafik: kleonstudio.com
Abbildung 5: Gesamtstichprobe – Ausmaß körperlicher Angriffe ©IAG / Grafik: kleonstudio.com

Im zweiten Teil des Fragebogens ging es um die im Betrieb bereits vorhandenen und bekannten Maßnahmen zum Schutz vor gewalttätigen Übergriffen. Gefragt wurde, welche Präventionsmaßnahmen den Teilnehmenden bekannt waren und ob diese Maßnahmen als sinnvoll angesehen werden.

Es zeigte sich, dass ein großer Teil der Befragten, unabhängig von der Branche, in der sie tätig waren, nicht oder nur teilweise wusste, welche Maßnahmen im Betrieb derzeit umgesetzt sind. Bei der Frage nach geeigneten Alarmierungssystemen zum Beispiel antworteten knapp 60 Prozent, dass diese Maßnahme ihnen bekannt sei und auch umgesetzt werde, von 40 Prozent wurde diese Frage mit „nicht bekannt“ beantwortet. Selbst Personen mit Führungsverantwortung wussten teilweise nicht, welche Maßnahmen in ihrem Betrieb umgesetzt waren.

Zu der Frage nach einer Meldekette nach Gewaltereignissen beispielsweise, gaben 60 Prozent an, eine Meldekette sei implementiert, weiterhin antworteten 19 Prozent mit „nein“ und 21 Prozent mit „weiß nicht“. Das bedeutet, dass ein Fünftel der befragten Personen mit Führungsverantwortung diese Frage nicht beantworten konnte. Bei den Personen ohne Führungsverantwortung war es ein Drittel.

Fazit und Ausblick

Die Belastung durch den Umgang mit schwierigen Kundinnen und Kunden zeigt sich in allen befragten Branchen, besonders allerdings im Einzelhandel. Die Zahlen machen deutlich, dass es vor allem Belastungen auf der Ebene der verbalen Aggressionen sind.

Auf Basis der Erhebungen zeigt sich, dass viele der Befragten zumindest gelegentlich verbalen oder auch physischen Übergriffen ausgesetzt waren. Weiterhin konnte ein nicht unerheblicher Teil der Befragten nicht beantworten, ob beziehungsweise welche Präventionsmaßnahmen im Betrieb vorhanden waren.

Inwieweit sich die Situation für die Betroffenen zukünftig verändern wird, hängt allerdings nicht nur von Präventionsmaßnahmen in den Betrieben ab, sondern auch von der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung.

Die Fragen zu den Gewaltereignissen in dieser Erhebung richteten sich ausschließlich an die Beschäftigten und deren Erleben. Die möglichen Motive der Kundinnen und Kunden oder Lieferantinnen und Lieferanten, sich unangemessen oder aggressiv zu verhalten, wurden nicht erhoben. Aussagen über mögliche Ursachen von übergriffigem Verhalten, die Hinweise auf weitere Präventionsmöglichkeiten geben könnten, können aufgrund der vorliegenden Daten nicht abgeleitet werden. Eine Folgeerhebung, die neben den Ereignissen auch eine spezifischere Rollenerhebung sowie mögliche Ursachen und Konsequenzen von Gewaltereignissen beinhaltet, ist in fünf bis acht Jahren angedacht.