Gegen Gewalt in Handel und Logistik – eine Bestandsaufnahme für die Prävention
Die Zahl der Gewaltberichte ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Für eine zielgerichtete Unterstützung der Mitgliedsunternehmen der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) fehlen jedoch belastbare Daten über Qualität und Quantität von Gewaltereignissen (zum Beispiel Beleidigungen, Beschimpfungen, Bedrohungen). Ein Projekt widmete sich daher dieser Thematik.
Lange Zeit wurden verbale Angriffe und aggressives Verhalten von Kunden oder Kundinnen gegenüber dem Personal im Handel nur in geringem Maße in der Öffentlichkeit wahrgenommen und thematisiert. Im Zuge von einerseits verlängerten Ladenöffnungszeiten mit weniger Personal auf der Verkaufsfläche und andererseits einem enormen Anstieg des Online-Handels ist zeitgleich auch eine zunehmende Tendenz erlebter Gewalt und Aggression zu erkennen. Von Mitarbeitenden dieser Branchen wird in hohem Maße erwartet, stets freundlich zu sein, Wünsche von Kundinnen und Kunden oder Lieferantinnen und Lieferanten schnell und korrekt zu erfüllen und immer die richtige Antwort auf ihre Anfragen jeglicher Art parat zu haben, da „der Kunde König“ ist.
Die Häufigkeit, mit der aktuell in den Medien über das Thema berichtet wird, lässt einen Anstieg von Gewaltereignissen im Handel und in der Logistik vermuten. Auf der einen Seite mehren sich Meldungen von Betroffenen, auf der anderen Seite hat sich die Wahrnehmung von Gewalt auch durch die mediale Berichterstattung verändert. Es fehlen allerdings quantitative sowie qualitative Daten, die es ermöglichen würden, passgenaue Präventionsangebote für die Mitgliedsunternehmen der BGHW zu entwickeln.
Definition von Gewalt
Gewalt hat viele Facetten: von Beleidigungen und Bedrohungen über körperliche Attacken bis hin zum brutalen Überfall. In der Arbeitswelt nimmt gerade die verbale Gewalt immer mehr zu. Insbesondere über Gewalttaten durch betriebsfremde Personen wird seit einigen Jahren vermehrt berichtet.
Die gesetzliche Unfallversicherung orientiert sich an der Definition der International Labour Organization (ILO). Gewalt und Belästigung im Sinne des ILO-Übereinkommens 190 wird definiert „als eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung […], die darauf abzielen, zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden zu verursachen und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“.[1]
Neben Raubüberfällen und Ereignissen, in denen physische Gewalt wie zum Beispiel ein Faustschlag ins Gesicht angewandt wurde, gibt es vor allem auch Meldungen über nicht physische Übergriffe, die ein psychisches Trauma nach sich ziehen können. Häufig wird von Beleidigungen, Beschimpfungen oder auch Bedrohungen berichtet. Verbale Gewalt, die auch ins Handgreifliche kippen kann, belastet die Beschäftigten, die täglich Kundenkontakt haben.
Von der harmlosen Situation zum Konflikt
Folgende Beispiele illustrieren unterschiedliche, aber häufige Konfliktsituationen im Handel: Eine Mutter sagt im Kassenbereich zu ihrem Sohn: „Wenn du dich in der Schule nicht anstrengst, musst du später auch mal an der Kasse arbeiten.“ Zur gleichen Zeit: Ein Kollege aus der Getränkeabteilung beobachtet ein Mädchen, das eine Flasche aus dem Regal nimmt, daraus trinkt und sie wieder zurückstellt. Er spricht sie darauf an und macht ihr klar, dass dies Diebstahl sei. Der Vater des Mädchens stimmt ihm zunächst zu. Als das Mädchen anfängt zu weinen, wendet sich das Gespräch, der Vater wird laut und erwartet vom Mitarbeiter eine Entschuldigung bei seiner Tochter. Szenenwechsel: Eine Kassiererin sieht bei einem Kunden im Wagen eine Sprühflasche mit einer ihr unbekannten Aufschrift, die sie nicht zuordnen kann, und fragt, ob das sein Eigentum sei. Daraufhin zückt dieser die Flasche und sprüht ihr kommentarlos ins Gesicht. Diese Beispiele zeigen, welch beleidigendem und aggressivem Verhalten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Einzelhandel ausgesetzt sind.
Deeskalieren und schützen
Das BGHW-Poster „Deeskalieren und schützen“ zum Thema „Gewalt am Arbeitsplatz“ gibt folgende Tipps zum Umgang mit Gewalt: Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Einzelhandel mit schwierigen Kundinnen und Kunden umgehen? Was können sie in Zukunft tun, damit es besser wird? Das Poster soll dabei unterstützen, zum Thema „Gewalt am Arbeitsplatz“ ins Gespräch zu kommen: mit Kolleginnen und Kollegen, Führungskräften, Betriebsräten. [2]
Das Projekt „Gegen Gewalt“ in Handel und Logistik
Im Projekt „Gegen Gewalt“ sollten Beschäftigte aus unterschiedlichen Mitgliedsbetrieben der BGHW, die bei ihrer Tätigkeit direkt mit Kundinnen und Kunden oder Lieferantinnen und Lieferanten Kontakt haben, dazu befragt werden, ob beziehungsweise inwieweit sie mit unangemessenem, respektlosem oder auch gewalttätigem Verhalten von externen, betriebsfremden Personen konfrontiert sind. Ziel war es, eine repräsentative Übersicht im Hinblick auf übergriffiges, gewalttätiges Verhalten von betriebsfremden Personen gegenüber den Beschäftigten in Einzelhandel, Großhandel und Logistik zu erhalten.
In der Konzeptionsphase wurden dafür verschiedene Branchen, betriebliche Strukturen, Rollen innerhalb der Betriebe (Führungspositionen, Interessensvertretung, Sicherheitsbeauftragte oder Sicherheitsfachkräfte, Ersthelfende), Kommunikationswege sowie Zielgruppen einbezogen.
Zur Erfassung der Datenlage wurde eine Umfrage erstellt, die 24 Fragen zur Arbeitssituation hinsichtlich verbaler und physischer Gewalt, 19 Fragen zur Einschätzung von Präventionsmaßnahmen sowie zu acht betrieblichen Faktoren enthielt. Die Erhebung erfolgte über eine Online-Befragung vom 10. Juni bis 30. November 2022 durch das Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG).
Die Akquise der teilnehmenden Beschäftigten fand auf unterschiedlichen Ebenen statt. Zu einem großen Teil haben Aufsichtspersonen sowie Präventionsberater und -beraterinnen der BGHW die Betriebe kontaktiert. Hier bestand die Möglichkeit, den Fragebogen direkt am mobilen Endgerät des Aufsichtsdienstes auszufüllen. Zudem wurden den Betrieben eigens für das Projekt gedruckte Postkarten mit Informationen zur Befragung sowie einem QR-Code überreicht, sodass die angesprochenen Beschäftigten auch mit ihren eigenen mobilen Endgeräten an der Befragung teilnehmen konnten. Beworben wurde die Befragung zusätzlich in Zeitschriftenartikeln und Social Media.
Erste Ergebnisse der Befragung
Mehr als 2.700 Beschäftigte aus den versicherten Betrieben der BGHW nahmen an der Befragung teil. Davon wurden mehr als 55 Prozent direkt über den Aufsichtsdienst zur Teilnahme motiviert. Viele der so Befragten gaben sehr positive Rückmeldungen über die Art der Ansprache. Sie fühlten sich ernst genommen mit ihren Problemen im Umgang mit betriebsfremden Personen.
Die Mehrheit der Teilnehmenden ordnete sich dem Einzelhandel zu (78 Prozent), die Branchen Großhandel und Logistik waren weniger häufig vertreten. Mehr als die Hälfte der befragten Personen (61 Prozent) waren weiblich, 37 Prozent waren männlich und zwei Prozent divers.
Hinsichtlich der Ortslage war die Verteilung relativ ausgeglichen. So gaben circa 34 Prozent an, in der Innenstadt zu arbeiten, rund 29 Prozent am Stadtrand, 23 Prozent in einem Gewerbegebiet und rund 14 Prozent im ländlichen Raum.
Etwa 56 Prozent der Teilnehmenden waren Beschäftigte ohne Führungsverantwortung, 44 Prozent gaben an, eine Führungsaufgabe innezuhaben.
Die Problematik übergriffigen Verhaltens durch Kunden und Kundinnen beziehungsweise Lieferantinnen und Lieferanten ist vielen Betrieben auch auf der Führungsebene bekannt. Technische Schutzmaßnahmen, wie zum Beispiel eine sicherheitsgerechte Gestaltung der Arbeitsumgebung, sowie die Qualifizierung von Führungskräften und Mitarbeitenden werden zum Teil umgesetzt und von den Befragten auch als wichtig und sinnvoll erachtet.
Genauere Ergebnisse, vor allem zum Aufkommen von unangemessenem, respektlosem oder auch gewalttätigem Verhalten betriebsfremder Personen, werden im Laufe des Jahres 2023 veröffentlicht.
Wer im Einzelhandel arbeitet, muss oft ein dickes Fell haben. Denn Kundinnen und Kunden können manchmal ausfallend werden. Unternehmen müssen ihre Mitarbeitenden vor jeder Form von Gewalt, auch vor psychischer Gewalt, schützen. Die BGHW will für den Umgang mit schwierigen Kundinnen und Kunden sensibilisieren und bietet das Seminar „Konfliktbereite Kunden“ an.[3]
Weitere Informationen zum Thema: Kompendium Arbeitsschutz BGHW, E-Magazin Konfliktbereite Kunden