Psychische Gesundheit von Schulkindern in Zeiten der Corona-Pandemie
Schulkinder sind mit am stärksten betroffen von der Corona-Pandemie. Sie können genauso wie Erwachsene erkranken und das Virus weitergeben. Für Schulkinder gibt es erst seit kurzem eine Impfempfehlung. Schulschließungen sind deshalb unbedingt zu vermeiden, um Schulkinder in ihrer Persönlichkeits-, Gesundheits- und Bildungsentwicklung nicht noch mehr einzuschränken.
Auch wenn die Heranwachsenden in Zeiten der Corona-Pandemie von schweren Krankheitsverläufen und den dadurch bedingten Krankenhausaufnahmen der zumeist älteren oder ungeimpften Menschen weitgehend verschont bleiben, können sie infiziert werden und dann auch, ohne selbst erkrankt zu sein, das Virus übertragen. Wie erste Untersuchungsergebnisse berichten, können sie auch von gesundheitlichen Einschränkungen durch „Long“ beziehungsweise „Post-COVID-19“ betroffen sein (Roessler et al. 2021; Interministerielle Arbeitsgruppe 2021).
Ihr Schutz und der Erhalt ihrer Bildungs- und Entwicklungschancen sind deshalb von höchster Priorität. Die Schule spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Denn sie ist neben der Familie ihre zweite zentral bedeutsame Lebenswelt. Sie ist Ort der Begegnung mit den Gleichaltrigen, Ort des Erwerbs wichtiger sozial-emotionaler Erlebens- und Verhaltensdispositionen, die für die Ausgestaltung und Bewältigung ihrer altersspezifischen Entwicklungsaufgaben benötigt werden. Sie ist auch Ort des Kennenlernens unterschiedlicher Lebensweisen, Kulturen und gesellschaftlicher Verhältnisse. Gerade die Jugendzeit mit ihrer dynamischen Entwicklung, organisiert formal durch die Schule, nonformal und informell durch Sportvereine, Klubs, Cliquen und Freundschaften in und nach der Schule, ist für die Herausbildung einer stabilen und zugleich reflexiven Ich-Identität von zentraler Bedeutung, in deren Kern die psychische Gesundheit eingelagert ist. Die Schule ist deshalb nicht nur der Ort, an dem didaktisch-methodische Lerngelegenheiten für kulturell bedeutsame Schulfächer geschaffen werden, sondern sie ist viel mehr: Schule bietet als Lebenswelt überhaupt erst die Grundlage für erfolgreiches Lernen und nachhaltige Bildung.
Durch die im Schulbetrieb zum Erhalt dieses wichtigen Lebensfeldes eingeführten Präventionsmaßnahmen haben sich die schulischen Alltagserfahrungen deutlich verändert. Der folgende Beitrag wird nur ein einzelnes Segment dieser Veränderungen, die psychische Gesundheit, etwas genauer betrachten und sich zusätzlich fokussieren auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen, insbesondere in ihren Rollen als Schülerinnen und Schüler in der Schule.
Methodische Probleme
Die Pandemie ist ein sich dynamisch entwickelnder Prozess mit vielfältigen Facetten von psychisch direkt und indirekt wirksamen Belastungsfaktoren und Beanspruchungsfolgen. Daraus ergeben sich für die sozialwissenschaftlich angelegte Forschung einige methodische Besonderheiten. So ist zum Beispiel von großer Bedeutung, in welcher Phase der Pandemie die Daten erhoben wurden. Auch welche Form des Unterrichts in den lockdownfreien Zeiten stattgefunden hat, ist ein wichtiger Einflussfaktor. War es Präsenz- oder Wechselunterricht oder digitaler Fernunterricht/Homeschooling? Für die Aussagekraft der Ergebnisse ist auch entscheidend, wie die Stichproben ausgewählt worden sind. Den Umständen ist es oft geschuldet, dass zum Beispiel keine Zufallsauswahl stattfinden konnte, dass es oft nur Querschnittsdaten sind, die zur Grundlage der Berichte gemacht werden konnten. Schließlich ist der Publikationszeitpunkt von Bedeutung, der irreführend sein kann, wenn daraus auf den Zeitpunkt der Erhebung der Daten geschlossen wird (Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften 2021, S. 6). Trotz dieser unübersichtlichen Daten- und Erkenntnislage lassen sich aber Trends erkennen, über die nachfolgend berichtet werden kann.
Psychische Gesundheit
Deutlich wird in der nachfolgenden Übersicht über vorliegende Kenntnisse zur Situation der psychischen Gesundheit der Heranwachsenden, dass von ihr als „ein Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann, wie es in der der bekannten Definition der WHO (2019) heißt, gar nicht die Rede ist, sondern von psychischen Störungen. Aus deren Anwesenheit kann dann auf die verbleibende psychische Gesundheit geschlossen werden.“
Situation der psychischen Gesundheit vor der Pandemie
Die Daten, die für die Zeit vor der Pandemie vorliegen, zeigen, dass rund 18 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten aufweisen (Ravens-Sieberer 2021; Waldhauer et al. 2018). Solche Störungen kommen häufiger (24,5 Prozent) bei Schülerinnen und Schülern von Haupt-, Real- oder Gesamtschulen vor, gegenüber 15,3 Prozent bei Gymnasialschülerinnen und Gymnasialschülern. Über die Jahre von 2003 bis 2017 ist eine Zunahme an Auffälligkeiten vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen festzustellen (Otto et al. 2021). Als verlässliche, weil repräsentative Quelle können die Ergebnisse der BELLA-Studie herangezogen werden, die Teil der umfassenderen KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts ist. Sie ermöglicht auch einen Vergleich der Situation der psychischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen (3–17 Jahre) mit Erhebungen von 2003 und 2006. Abbildung 1 gibt die Ergebnisse wieder, die komprimiert nach Altersgruppen und Geschlechtszugehörigkeit aufgelistet sind (Klipker et al. 2018). Differenzierte Auswertungen ergeben, dass 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen Symptome für Depression, 15 Prozent für Angst, 12 Prozent für aggressives aufsässiges Verhalten und 5 Prozent für ADHS zeigen (Wartberg et al. 2018).
Veränderungen der psychischen Gesundheit in der Zeit der Pandemie
Die „Corona und Psyche“-Studien (COPSY-Studie 1, Juni 2020; COPSY-Studie 2, Dezember 2020/Januar 2021; Ravens-Sieberer et al. 2020a, b; Ravens-Sieberer et al. 2021; N > 1.000, 7–17 Jahre), die „pairfam COVID-19-Studie“ (Mai–Juli 2020; Walper & Reim 2020; N = > 824, 16–20 Jahre) und die „Junge Menschen und Corona“-Studien (JuCo-Studie 1, Mai 2020; JuCo-Studie 2, November 2020; Andresen et al. 2020a, b; Wilmes et al. 2020; N = 5.520; N= > 7.000; 15–30 Jahre) liefern zu diesen und weiteren psychischen Begleiterscheinungen und Folgen einen guten Überblick. Andere Befragungsergebnisse (siehe unten) ergänzen und fundieren diesen Sachstand. Die COPSY-Studie 2 zeigt, dass 85 Prozent der Befragten sich psychisch belastet fühlen. In der ersten Befragung waren es erst 71 Prozent. Schon zu diesem Zeitpunkt waren Nennungen von psychischen Auffälligkeiten von 18 Prozent vor der Pandemie auf 30 Prozent bis zum Mai 2020 gestiegen. Bis zur zweiten Befragung im Dezember 2020/Januar 2021 stiegen die Werte für Ängstlichkeit noch einmal von 24 auf 30 Prozent an und für die Angaben depressiver Symptome von 11 auf 15 Prozent. Konkret wurden psychische und psychosomatische Auffälligkeiten wie Gereiztheit (54 Prozent), Einschlafprobleme (44 Prozent), Kopfschmerzen (40 Prozent) und Bauchschmerzen (31 Prozent) vermehrt berichtet. Im zweiten Lockdown zum Jahreswechsel 2020/2021 empfanden 70 Prozent ihre jetzige Lebensqualität als gemindert. Im Juni waren es noch 60 Prozent und vor der Pandemie 30 Prozent. Sie berichten auch über eine Zunahme schulischer Probleme. Zwei Drittel empfanden die Schule und das Lernen als anstrengender als vor der Pandemie. In der pairfam COVID-19-Studie gaben in vergleichbarem Rahmen (fast 60 Prozent) die Schülerinnen und Schüler an, dass ihnen das Lernen zu Hause schwerer fällt als in der Schule. Ebenso hat sich die Lernzeit, die die Schülerinnen und Schüler für das schulische Lernen in den beiden Lockdownphasen aufgewendet haben, bei großen Unterschieden im Mittel aber bei 50 beziehungsweise 60 Prozent zurzeit vor der Pandemie deutlich reduziert.
Andere Untersuchungen verdeutlichen, dass Schülerinnen und Schüler sich besorgt zeigten, insbesondere solche, die während der Schulschließungen kurz vor ihrem Schulabschluss standen, deutlich belastet waren, weil sie sich Sorgen um ihre berufliche Zukunft machten oder sich die Schulschließungen auf ihre Schulleistungen negativ auswirken könnten (Anger et al. 2020). Andere sorgten sich um ihre schulische Zukunft. Einsamkeit und soziale Isolation werden auch von etwa einem Drittel der Jugendlichen der zweiten JuCo-Studie berichtet (Andresen et al. 2020b). In der „LIFE Child“-Studie (Vogel et al. 2021), die im Frühjahr 2020 während des ersten Lockdowns 700 Familien befragte, erwähnten die Kinder und Jugendlichen unter anderem auch, dass sie sich Sorgen um ihre Familie machen würden. In der „Generation Corona“-Studie (Pronova bkk 2021), in der 16- bis 29-Jährige befragt wurden, bekannten mehr als die Hälfte, dass sie sich häufiger traurig und depressiv fühlten und klagten über innere Unruhe. Unter den 16- bis 18-Jährigen war mit 81 Prozent Zustimmung die Einschätzung verbreitet, dass sich ihr Leben stark verschlechtert hat. Im Präventionsradar (Hanewinkel et al. 2020) berichteten auch 58 Prozent der Schülerinnen und Schüler von einem Absinken der Lebenszufriedenheit, im Mittel um 21 Prozent. 45 Prozent fühlten sich gestresst.
Emotionale Probleme waren in höheren Klassenstufen mit etwas mehr als 19 Prozent stärker verbreitet als in unteren Klassenstufen und auch mehr als in den Jahren vor der Pandemie. Die Angaben, sich niedergeschlagen zu fühlen, unglücklich zu sein und häufig weinen zu müssen, also Symptome depressiver Beanspruchungen, waren um ein Drittel häufiger als vor der Pandemie. In der pairfam-Studie zeigte sich, dass die Depressionssymptomatik bei den 19-Jährigen von 10 Prozent auf etwa 25 Prozent nach dem ersten Lockdown (Mai/Juni 2020) angestiegen ist. Nach Hochrechnungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (Bujard et al. 2021) waren etwa 477.000 Jugendliche betroffen. Insgesamt sind es nach Hochrechnungen dieses Instituts etwa 1,7 Millionen der 11- bis 17-Jährigen, deren gesundheitsbezogene Lebensqualität sich durch die Pandemie bis zum Juli 2021 verschlechtert hat (ebd.).
Ängste und häusliche Gewalt
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Therapieanfragen für Kinder und Jugendliche nach Angaben der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV 2021) im Vergleich zum Jahr 2020 um 60 Prozent zugenommen haben, sich also der Trend, der schon vor der Pandemie erkennbar war, fortsetzt. Themen, die dort dann zur Sprache gebracht werden, sind Ängste, die einen Bezug zum Tod aufweisen, Spannungen im häuslichen Umfeld zum Gegenstand haben oder auch das Erleben häuslicher Gewalt (Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten 2021). Hier spiegeln sich Ergebnisse und treten stärker hervor, die auch schon vor der Pandemie zu berichten waren: Kinder und Jugendliche, die aus Elternhäusern stammen, in denen Belastungen kumulieren, wie zum Beispiel geringes Einkommen oder ein niedriger Bildungsstand der Eltern, erleben die negativen Auswirkungen der Pandemie mit höherer Wahrscheinlichkeit als ihre Altersgenossinnen und Altersgenossen, die aus weniger belasteten Elternhäusern stammen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Sie bekommen zu Hause eher nicht den nötigen Raum und die Unterstützung und haben deshalb im Distanzunterricht größere Probleme, die sie dann auch in ihrer Bildungsentwicklung zurückwerfen.
Es sind aber nicht nur negative Entwicklungen zu berichten oder solche, die offenbar keine Auswirkungen haben, sondern auch solche, in denen die Pandemie explizit positive Effekte hervorgebracht hat. Diesen Ergebnissen zufolge hat die Pandemie das Potenzial, die Verselbstständigung Jugendlicher zu fördern und neue Beteiligungsformen zu ermöglichen. So berichten Berngruber & Gaupp (2021) unter anderem über die Ergebnisse einer Befragung, die im Sommer und Herbst 2020 im Rahmen des DJI-Surveys AID:A („Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“; Kuger, Walper & Rauschenbach 2021) stattfand, dass von den 867 befragten 12- bis 32-Jährigen 26,5 Prozent angaben, für andere einkaufen gegangen zu sein, 52,5 Prozent, anderen bei Technikfragen (zum Beispiel mit PC, Tablet, Smartphone) geholfen sowie anderen zugehört und ihnen bei persönlichen Problemen geholfen zu haben (73,5 Prozent). Wie weitere Ergebnisse zeigen, ermutigt die Pandemie die Heranwachsenden und jungen Erwachsenen auch, Freiräume zu entdecken (Gaupp et al. 2021; Bujard et al. 2021; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2020, S. 518 ff.) und sich dadurch dann weniger allein oder einsam zu fühlen und weniger Stress zu erleben (Walper & Reim 2020).
Wirkungen auf den Schulalltag
Die primären und sekundären schul- und unterrichtsbezogenen verhaltens- und verhältnisbezogenen Präventionsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind in ihren Wirkungen auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler nicht leicht einzuschätzen. Sie sind vielfältig und variieren in ihrer Abfolge je nach pandemischer Lage und politischer Entscheidung auf Bundesebene und in den Bundesländern bis in die regionalen und lokalen Gegebenheiten hinein. Zu nennen sind hier auf Bundesebene die beiden Schulschließungen für die rund elf Millionen Schülerinnen und Schüler, die Distanzunterricht und Notbetreuung als pädagogische Maßnahmen zur Folge hatten. Im Jahr 2020 hat es im ersten Lockdown nahezu vollständige Schulschließungen an 44 Tagen gegeben und an 59 Tagen partielle Schließungen. Im zweiten Lockdown 2020/2021 waren es insgesamt 61 Tage, an denen Schulen vollständig geschlossen waren und partiell 112 Tage (siehe Bujard et al. 2021 zur zeitlichen Übersicht mit den zentralen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland, S. 10). Bei Öffnung der Schulen gab und gibt es die Unterrichtsarten Präsenzunterricht (zum Beispiel für Abschlussklassen, Förderschulen), Wechselunterricht (täglich, wöchentlich), eingeschränkten Präsenzbetrieb, Distanzunterricht (bei hohen Inzidenzraten > 100 als Option), die je nach Schulart weiter spezifiziert werden. Hierzu stellt die Kultusministerkonferenz (KMK) wöchentlich die von den Schulen bereitgestellten schulstatistischen Informationen zur COVID-19-Pandemie zur Verfügung (www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schulstatistik/schulstatistische-informationen-zur-covid-19-pandemie.html). Bei Öffnung der Schulen sind darüber hinaus nach Vorgaben Hygienemaßnahmen durchzuführen und deren Einhaltung sicherzustellen, ebenso die Abstandsregeln und das Tragen der Mund-Nasen-Bedeckung sowie Testungen. Es sind zudem Wegepläne zu erstellen, Klassenräume umzugestalten, für Raumlufthygiene zu sorgen und Konzepte für die Pausengestaltung zu entwickeln und kontrolliert umzusetzen.
Dies bedeutet, dass es an den Schulen auch im Schuljahr 2021/22 noch keinen Normalbetrieb gibt wie vor der Pandemie. Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte sowie Familien müssen weiter mit Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie leben.
Deren Wirkung auf den Schulalltag, auf das Lernen und letztlich auf die Bildung wird erst eindeutiger abschätzbar sein, wenn theoriegeleitet systematisch Lern- und Bildungsverläufe beforscht worden sind. Klar ist aber schon jetzt, dass sich die geschilderten psychischen Beeinträchtigungen der Schülerinnen und Schüler auf diese Verläufe auswirken. Denn vorliegende Forschungsergebnisse belegen, dass bei gleichen Lerngelegenheiten, die die Schule im Unterricht anbietet, die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler durch deren psychische Verfassung, wie zum Beispiel Ängstlichkeit, depressive Verstimmung oder auch Selbstwirksamkeitserwartungen, beeinflusst wird (Paulus, 2010). Helmut Fend hat diesen Zusammenhang schon in seiner „Theorie der Schule“ (2006) beschrieben: „Die Organisation ‚Bildungswesen‘ erfüllt ihre Aufgaben durch die Arbeit an der ‚Seele‘ des Menschen. Sie bearbeitet das Können und die Haltungen lernfähiger junger Menschen. […] Ihr Arbeitsfeld ist die psychische Verfassung, sind das Können, das Wissen wie auch die seelischen Einstellungen von Kindern und Jugendlichen“ (ebd. S. 174). Ohne die Berücksichtigung der psychischen Gesundheit in ihren Funktionen der produktiven Anpassung und der Selbstverwirklichung wird Schule danach ihren Erziehungs- und Bildungsauftrag nicht wirklich erfüllen können. Die psychische Situation der Schülerinnen und Schüler in der Pandemie und der möglichen Postpandemie verstärkt hier noch einmal ihre Bedeutung für das Gelingen von Schule.
Welche Interventionsmöglichkeiten haben Schulen?
Es kommt auf das Gesundheitsmanagement in der Schule an und seine Ziele. Das grundlegendste und damit wichtigste Ziel ist, die Schule als zentrale Lebenswelt für Kinder und Jugendliche offen zu halten und nur als letzte Möglichkeit ihre Schließung in Erwägung zu ziehen. Alle anderen Ziele von Maßnahmen müssen sich dem unterordnen. Denn die negativen physischen, psychischen und Bildungsbeeinträchtigungen proaktiver Schulschließungen bei den Schülerinnen und Schülern wie auch im Weiteren die ökonomischen Auswirkungen auf die Gesellschaft würden wahrscheinlich die Vorteile überwiegen (AWMF 2021).
Gesundheitsmanagement bedeutet dann zweierlei: Zum einen muss „Gesundheit gemanagt“, zum anderen muss „gesund gemanagt“ werden. Zuerst zum zweiten Punkt. Hier geht es darum, dass die eingeleiteten Prozesse der Pandemiebekämpfung in der Schule nicht für die Beteiligten selbst, hier die Schülerinnen und Schüler, zu einer Belastung werden. Es kommt hier auf eine „gesunde Führung“ in der Schule auf den verschiedenen Organisationsebenen an. Mit einer solchen „salutogenen Führung“ haben Schulen die Möglichkeit, auf Klassen- und Unterrichtsebene den Schülerinnen und Schülern die vorgesehenen oder schon eingeleiteten Maßnahmen in einer Weise nahezubringen, dass sie (1) verstehen, warum sie die Maßnahmen befolgen sollen, dass sie (2) das Gefühl bekommen, diese Maßnahmen kompetent handhaben zu können, und dass sie (3) die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen einsehen können. Kommen dann diese drei Aspekte im Erleben der Schülerinnen und Schüler zusammen, die der israelisch-amerikanische Stressforscher Aaron Antonovsky als ein Kohärenzgefühl beschrieben hat (Antonovsky 1997), dann sind nach seinem Modell der Salutogenese schon entscheidende Voraussetzungen der psychischen Gesundheit gegeben und Grundlagen für das schulische Lernen geschaffen.
Zum ersten Punkt. Die Frage ist hier: Wie kann die psychische Gesundheit in der Pandemie gemanagt werden? Dazu sind im vorherigen Abschnitt die Maßnahmen erläutert worden, die letztlich dann auf der Schulebene umgesetzt werden müssen. Sie dienen dem Erhalt und der Förderung der psychischen Gesundheit, wenn sie im Einklang mit dem eben erläuterten Prozess des Gesundheitsmanagements durchgeführt werden. Diese Maßnahmen bilden gewissermaßen den Rahmen für inhaltliche Maßnahmen, die unterschiedlich komplex und anspruchsvoll (1) der Gestaltung des Schullebens dienen, (2) der Anpassung der variierenden Unterrichtsgestaltung und (3) der Ausgestaltung des Beratungsangebotes in dieser Pandemiesituation. Sengpiel (2021) hat unter anderem für diese drei Handlungsfelder Vorschläge für niedersächsische Schulen unterbreitet, die aber auch Gültigkeit für die übrigen Bundesländer beanspruchen können. Sie werden hier skizziert und etwas ergänzt wiedergegeben. Für das Handlungsfeld „Schulkultur“ schlägt sie vor, dass auf die psychischen und physischen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler einzugehen ist und deshalb insbesondere sozial-emotionale Lernprozesse berücksichtigt werden müssen.
Hierzu bietet das universelle Präventions- und Gesundheitsförderungsprogramm „MindMatters – Mit psychischer Gesundheit gute Schule entwickeln“ mit zehn Modulen vielfältige Anregungen für Schülerinnen und Schüler und das Lehrpersonal, wenn es in der Schule zum .Beispiel. im Sekundarbereich um Themen wie „Freunde finden und dazugehören“ geht, wenn „Mobbing“ zum Problem wird oder wenn zu klären ist, wie mit Stressbelastungen umgegangen werden kann. Hilfreich ist das Programm auch, wenn im Primarbereich Kernkompetenzen des sozial-emotionalen Lernens gezielt entwickelt werden sollen, wie „Ich-Bewusstsein“, „Selbstmanagement“, „Mitgefühl“, „Beziehungs-“ und „Entscheidungskompetenz“ (www.mindmatters-schule.de; Barmer Ersatzkasse & DGUV 2021).
Darüber hinaus sind Belastungssituationen und Unterstützungsbedarfe von bildungsbenachteiligten Schülerinnen und Schülern sind regelhaft in (pädagogischen) Konferenzen zu thematisieren. Für das Handlungsfeld „Unterricht“ macht sie deutlich, dass ein sicherer, verlässlicher Rahmen für die Schülerinnen und Schüler zu schaffen ist. Ein regelmäßig stattfindender Morgenkreis, festgelegte Verfügungsstunden und definierte Sprechzeiten sind Beispiele, wie verbindliche Zeitrahmen geschaffen werden können, in denen auf Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler eingegangen werden kann. Wichtig ist, hier auch Verabredungen zu treffen, die den Umgang miteinander in Zeiten des Distanzunterrichts festlegen (zum Beispiel Klassenregeln). Zum Handlungsfeld „innerschulische Beratung“ schlägt sie vor, niedrigschwellige Beratungsangebote für Schülerinnen und Schüler anzubieten und die Kontaktmöglichkeiten zu Beratungslehrkräften sowie Schulsozialpädagoginnen und -pädagogen, Schulsozialarbeiterinnen und -arbeitern zu erweitern und bei Bedarf auch Externe hinzuzuziehen. Schließlich sollten die Beratungen einen aktiv aufsuchenden Charakter haben, um die Kontaktaufnahme zu erleichtern. Unterschiedliche Formen wie Chatgruppentreffen, E-Mails, Videomeetings oder Telefonate wären dann sinnvoll.
Vorbereitung der Schulen auf weitere Katastrophen
Die Pandemie zeigt, wie wichtig Gesundheit und insbesondere die psychische Gesundheit für das Gelingen von Schule ist. Pandemie wirkt wie ein Brennglas, unter dem die psychischen Probleme der Schülerinnen und Schüler auftauchen, die schon vorher da waren. In diesem Beitrag war der Fokus auf die Schülerinnen und Schüler gerichtet. Das bedeutet nicht, dass die psychische Gesundheit der Lehrkräfte und der Schulleitung irrelevant wäre, im Gegenteil. Sie sind die zentralen Akteure, wenn es darum geht, nicht nur jetzt in Zeiten der Pandemie und einer möglichen Postpandemie die Leistungsfähigkeit der Schulen zu erhalten und zu erweitern – um Schulen so zu gestalten, dass dort vor allem psychische Gesundheit der Beteiligten als Voraussetzung für pädagogisch wirksame Leistungsfähigkeit beachtet wird.
Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte Pandemie sein, sie wird auch nicht die letzte Katastrophe sein. Die Flutkatastrophe, die Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz heimgesucht hat, ist Vorbote anderer Ereignisse, die nicht nur die Schulen, sondern die Gesellschaft vor große Aufgaben der Bewältigung stellen werden, wenn nicht durch vorausschauende Interventionen mögliche Risiken minimiert und Ressourcen gestärkt werden, wenn nicht Prävention und Gesundheitsförderung Platz greifen.
Literatur (Auswahl)
Eine vollständige Literaturliste ist beim Autor erhältlich.
Andresen, S.; Lips, A.; Möller, R.; Rusack, T.; Schröer, W.; Thomas, S. und Wilmes, J.: Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo. Hildesheim 2020.
Antonovsky, A.: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. (Dt. erw. Herausgabe von A. Franke). Tübingen 1997.
Barmer (Hrsg.): Barmer Arztreport 2021. Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 27. Rheinbreitbach 2021.
Barmer Ersatzkasse und DGUV (Hrsg.): MindMatters – Mit psychischer Gesundheit gute Schule entwickeln. Wuppertal/Berlin 2021.
Bujard, M.; Von den Driesch, E.; Ruckdeschel, K.; Laß, I.; Thönnissen, C.; Schumann, A. und Schneider, N. F.: Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Eltern in der Corona-Pandemie. BIB.Bevölkerungs.Studien 2. Wiesbaden 2021.
Gaupp, N.; Holthusen, B.; Milbradt, B.; Lüders, C. und Seckinger, M. (Hrsg.): Jugend ermöglichen – auch unter den Bedingungen des Pandemieschutzes. München 2021.
Interministerielle Arbeitsgruppe: Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe Long-Covid. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode. Drucksache 19/32659, 2021.
Klasen, F.; Meyrose, A. K.; Otto, C.; Reiss, F. und Ravens-Sieberer, U.: Psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse der BELLA-Studie. Monatsschrift der Kinderheilkunde, 165, 2021, S. 402–407.
Klipker, K.; Baumgarten, F.; Göbel, K.; Lampert, T. und Hölling, H.: Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittsergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. Journal of Health Monitoring 3(3). Berlin 2018.
Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften: Kinder und Jugendliche in der Coronavirus-Pandemie: psychosoziale und edukative Herausforderungen und Chancen. 8. Ad-hoc-Stellungnahme – 21.06.2021. Frankfurt a. O. 2021.
Otto, C.; Reiss, F.; Voss C.; Wüstner, A.; Meyrose, A.-K.; Hölling, H. und Ravens-Sieberer, U.: Mental health and well-being from childhood to adulthood: design, methods and results of the 11-year follow-up of the BELLA study. European Child & Adolescent Psychiatry 2021, 30, S. 1559–1577.
Ravens-Sieberer, U.; Kaman, A.; Otto, C.; Adedeji, A.; Devine, J.; Erhart, M.; Napp, A.-K.; Becker, M.; Blanck-Stellmacher, U.; Löffler, C.; Schlack, R. und Hurrelmann, K.: (2020). Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie. Deutsches Ärzteblatt International 117, 48, 2020, S. 828–829.
Ravens-Sieberer U.; Kaman A.; Erhart, M.; Devine J.; Schlack R. und Otto C.: Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. European Child & Adolescent Psychiatry, 2021.
Roessler, M.; Tesch, F.; Batram, M.; Jacob, J.; Loser, F. et al.: Post-COVID in children, adolescents, and adults: results of a matched cohort study including more than 150,000 individuals with COVID 19. medRxiv, 2021.
Sengpiel, J.: Wie können wir Belastungen von Schülerinnen und Schülern in der Pandemie begegnen? Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen – Nichtamtlicher Teil 3, 2021, S. 143–147.
Vogel, M.; Meigen, C.; Sobek, C.; Ober, P.; Igel, U.; Körner, A.; Kiess, W. und Poulain, T.: Well-being and COVID-19-related worries of German children and adolescents: A longitudinal study from pre-COVID to the end of lockdown in Spring 2020. Journal of Child Psychology & Psychiatry Advances 1, 1, 2021.
Walper, S.; Reim, J.; Schunke, A.; Berngruber, A. und Alt, P.: Die Situation Jugendlicher in der Corona-Krise. München 2021.