Produktportfoliomanagement in der gesetzlichen Unfallversicherung

Die Palette der Produkte, die die Unfallversicherungsträger ihren Mitgliedsunternehmen anbieten, ist sehr vielfältig. Alle Produkte zu kennen und für die Unternehmen die passenden Produkte auszuwählen, ist nicht immer einfach. Ein Produktportfoliomanagement gibt für alle Überblick und Struktur. Evaluation unterstützt dabei, das Richtige im Portfolio anzubieten.

Ausgangspunkt

Rückmeldungen von Mitgliedsunternehmen und Versicherten – unseren Kundinnen und Kunden – zeigen auf, dass ihnen das umfassende Präventions- und Rehabilitationsangebot häufig gar nicht bekannt ist oder mitunter  Produkte nicht passgenau sind.

Im Umgang mit Produkten hat es sich in der gesetzlichen Unfallversicherung bewährt, mit einem Produktportfoliomanagement zu arbeiten.

Die Begriffe „Produkt“ sowie „Kundin und Kunde“ rücken mit dem Produktportfoliomanagement in den Vordergrund. Dabei geht es darum, diese Begriffe zu definieren und „mit Leben“ zu füllen: Es muss genau überlegt werden, welche Produkte vorhanden sind, für wen das Produktangebot zur Verfügung stehen soll, welche Probleme für diese Kundengruppe gelöst werden sollen und welche neuen Produkte benötigt werden. Schließlich geht es um die Beziehung von Produkten zum gesetzlichen Auftrag der Unfallversicherung und um die Betrachtung von wirtschaftlichen Aspekten. Dabei ist es auch erforderlich, „Produkte“ von „gesetzlichen Leistungen“ abzugrenzen.

Ein typischer Produktmanagementprozess

Auslöser des Produktmanagementprozesses sind die aktuellen und zukünftigen (gesetzlichen) Anforderungen der Unternehmen rund um die Themen Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit einerseits und die Risiken, Gefährdungen und Probleme für die Versicherten bei der Arbeit andererseits. Das umfasst alle Formen der Prävention – primäre, sekundäre und tertiäre.

Der Produktmanagementprozess ist eine systematische Vorgehensweise, Produkte für die Unternehmen und Versicherten ins Portfolio auf und wieder aus dem Programm herauszunehmen. Eine Idee wird entworfen, bewertet, entwickelt und kann zusammen mit Unternehmen und Versicherten getestet und weiter verfeinert werden. So konkretisieren sich zum Beispiel eine Produktidee und der Prototyp eines Seminars, einer Beratung oder eines E-Learnings. Den Werdegang eines Produkts verdeutlicht folgender Ablauf:

Ziele eines Produktportfoliomanagements sind:

  • Übersichtlichkeit über alle Bestandsprodukte eines Unfallversicherungsträgers herstellen
  • Bedarf von Kundinnen und Kunden in der Entwicklung und Optimierung von Produkten berücksichtigen
  • Produkte und Angebote gut aufeinander abstimmen
  • Produkte wirtschaftlich und effektiv entwickeln
  • Ideen bewerten und bündeln.

Werdegang eines Produkts

  1. Idee
  2. Produktantrag (standardisiert)
  3. Bewertung, gegebenenfalls Anpassung der Idee
  4. Genehmigung (zum Beispiel Präventionsleitung oder andere Gremien)
  5. Produktentwicklung, Auslieferung
  6. Produkt im Bestand – Aufnahme in die Produktdatenbank
  7. Regelmäßige Bewertung des Produkts
  8. Anpassung oder Produktausstieg

Nachdem das Produkt in den Bestand, also ins Portfolio, aufgenommen ist und vertrieben wird, orientiert sich der Produktmanagementprozess am Lebenszyklus eines Produkts. Dieser Zyklus besteht aus verschiedenen Phasen, in denen sich Produkte von der Einführung bis zum Ausstieg befinden.

Nach festgelegten Zeitpunkten wird ein Bestandsprodukt erneut bewertet. Dazu kann eine auch zur Bewertung von Ideen eingesetzte Produktbewertungsmatrix genutzt werden. Das Bewertungsergebnis gibt Auskunft darüber, wie sich das Produkt „am Markt“ bewährt und ob zum Beispiel die Inhalte und das Format noch aktuell sind und es auch von den Unternehmen und Versicherten nachgefragt wird.

Beispiel: Produktlinien einer Berufsgenossenschaft

  • Organisation von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz
  • Arbeitsstätten, Bau- und Montagestelle, Arbeitsmittel
  • Transport, Logistik und Verkehr   
  • Maßnahmen gegen arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren
  • Maßnahmen gegen Gefährdungen durch Arbeitsstoffe
  • Maßnahmen gegen elektrische Gefährdungen
  • Drei weitere gefährdungsorientierte Linien
  • Branchenbezogene Ergänzungen: spezifische Lösungen 

 

Was ist ein Produkt?

Ein Produkt hilft den Kundinnen und Kunden (Unternehmen und Versicherten) ein (Arbeitssicherheits- oder Gesundheits-) Problem zu lösen oder eine Aufgabe zu erfüllen und es fördert die Sicherheit und Gesundheit der Versicherten am Arbeitsplatz/im Betrieb. Es orientiert sich am Auftrag des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII.) Ein Produkt:

  • bietet den Anwendenden einen konkreten praktischen Nutzen à auf ein (messbares) Ergebnis ausgerichtet
  • beachtet Qualitätsstandards und ist durch den Unfallversicherungsträger frei gestaltbar
  • wird dauerhaft angeboten
  • ist kundenorientiert – mit klar definierten Zielgruppen
  • ist planbar, budgetierbar, repetitiv, bundesweit einsetzbar.

Um im Sinne des SGB VII kundenorientiert und wirtschaftlich zu handeln, werden im Produktportfoliomanagement folgende Fragen gestellt:

  • Ist unser Produkt für alle (entsprechend der definierten Zielgruppe) zugänglich?
  • Ist das Produkt repetitiv und budgetierbar?
  • Bietet es einen praxisbezogenen, kundenorientierten Nutzen für Unternehmen oder Versicherte?
  • Hält es beschriebene Qualitätsstandards ein und ist durch die Unfallversicherungsträger frei gestaltbar?
  • Passt das Produkt in die strategische Ausrichtung des Unfallversicherungsträgers im Hinblick auf das Gesamtspektrum der Präventionsleistungen?
  • Steht der Aufwand für die Erarbeitung und Pflege des Produkts in einem ausgewogenen Verhältnis zu den personellen und finanziellen Ressourcen des Unfallversicherungsträgers?

Struktur eines Produktportfolios

Ein gut strukturiertes Portfolio erleichtert es den Kundinnen und Kunden, Produkte schnell zu finden beziehungsweise entsprechend ihrem Bedarf zu identifizieren. Für den Unfallversicherungsträger ist die Strukturierung wichtig, um die internen Prozesse, wie zum Beispiel Produktentwicklung und Qualitätssicherung, effizient zu steuern.

Beispielhaft sollen hier zwei Möglichkeiten der Strukturierung eines Portfolios vorgestellt werden, die miteinander verknüpft werden können:

Produktlinien

Produktlinien beinhalten Module zur Erfüllung verschiedener Aufgaben in den Unternehmen. Sie sind vorwiegend gefährdungsorientiert. Darüber hinaus hat sich eine übergreifende Produktlinie zur „Organisation von Sicherheit und Gesundheit“ bewährt.

Handlungsebenenen    

Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz sollten auf allen Hierarchieebenen und in allen Organisationseinheiten eines Unternehmens „gelebt“ werden. Die Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten unterscheiden sich dabei erheblich. Zur wirksamen Ansprache der verschiedenen betrieblichen Zielgruppen müssen Produkte angemessen und zielgruppengerecht gestaltet sein. Verantwortliche im Management, die die Präventionskultur vorgeben und die grundlegende Unternehmensorganisation definieren, haben einen anderen Unterstützungs- und Informationsbedarf als operative Führungskräfte, die für die konkrete Umsetzung von Maßnahmen verantwortlich sind. Damit lassen sich verschiedene Handlungsebenen unterscheiden: Organisation und Kultur, Technik und Verfahren, Umsetzung, Verhalten.

Aus der Kombination der Produktlinien und der Handlungsebenen lässt sich eine Matrix entwickeln, aus der sich für jedes Produkt eine Zuordnung zu mindestens einer Produktlinie und (meist einer) Handlungsebene ergibt (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Übersicht über die Struktur im Produktportfolio  | © BGETEM
Abbildung 1: Übersicht über die Struktur im Produktportfolio ©BGETEM
Abbildung 2: Kriterien der Bewertungsmatrix  | © BGETEM
Abbildung 2: Kriterien der Bewertungsmatrix ©BGETEM

Werkzeuge und Methoden im Produktportfoliomanagement

Bewertungsmatrix

Um ein kundenorientiertes Portfolio aufzubauen, das neben dem Nutzen für Kundinnen und Kunden auch Kompetenz, Wirtschaftlichkeit und die Strategie eines Unfallversicherungsträgers berücksichtigt, ist die Bewertung aller vorhandenen Produkte und Ideen nötig.

Mittels einer Bewertungsmatrix wird ein einheitlicher Maßstab an alle Produkte und Ideen und somit eine Grundlage für Entscheidungen gelegt. Dabei sollten externe Anforderungen und interne Kriterien berücksichtigt werden (siehe Abbildung 2).

Ideenanträge

Zur Entwicklung und Einführung neuer Produkte hat sich eine strukturierte Vorgehensweise bewährt. Ein „Ideenantrag“ bzw. „Produktantrag“ soll Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Unfallversicherungsträgers dabei unterstützen, eine Produktidee zu benennen, zu beschreiben sowie zu optimieren, und ist gleichzeitig eine Hilfe für die anderen Beteiligten in der Prozesskette der Produktentwicklung.

Der Antrag kann folgende wesentliche Aspekte umfassen:

  • Anlass der Idee
  • Beschreibung des geplanten Produkts, Benennung der Produkt-/Medienart
  • Ziele des Produkts
  • Zielgruppe des Produkts (nach Branche, Betriebsgröße, Personenkreis)
  • Zuordnung innerhalb der Struktur des Produktportfolios (zum Beispiel. Produktlinie)
  • Abschätzung der voraussichtlichen Produktkosten und anderen Ressourcen für Entwicklung und Pflege (Sachkosten und Personalkapazitäten)
  • Erstbewertung des Produkts
  • Aussage, ob bestehende Produkte durch das vorgeschlagene neue Produkt ersetzt werden können

Das Antragsverfahren sollte für alle Beteiligten transparent gestaltet werden. Es soll „Leitplanken“ für die Produktentwicklung vorgeben, innerhalb derer möglichst frei agiert werden kann. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Produktideen einbringen, sollten durch feste Ansprechpersonen unterstützt werden. Erfahrungen bei einigen Unfallversicherungsträgern zeigen, dass dadurch eine mögliche anfängliche Skepsis gegenübebürokratischen Hemmnissen ausgeräumt werden kann.


Produktdatenbank

Zur Unterstützung der Verfahren im Produktportfoliomanagement (PPM) und zur Ablage der relevanten Informationen über die Produkte kann eine Produktdatenbank wertvolle Dienste leisten. Die Verantwortlichen im PPM behalten mithilfe einer Datenbank nicht nur den Überblick über den Status der Produkte und Produktlinien, es können auch Kennzahlen ermittelt werden. Damit kann eine Produktdatenbank auch bei Evaluationen und der Qualitätssicherung des Produktportfolios hilfreich sein.

Unterstützung von Analyse und Evaluation im PPM

Analyse und Evaluation können den Prozess im PPM maßgeblich unterstützen. An welchen Stellen sie eine Rolle spielen können, zeigt Abbildung 3.

Im ersten Abschnitt geht es um Methoden, die helfen, Produktideen zu entwerfen. Relevant dafür ist der Bedarf der Kundinnen und Kunden, der Bedarf, der aus dem gesetzlichen Auftrag entstehen kann, oder der Bedarf, der sich aus der eigenen Unternehmensstrategie ableiten lässt. Um diese Bedarfe zu erfassen, kann methodisch zum einen eine Bedarfsabfrage bei der Zielgruppe erfolgen – egal, ob qualitativ oder quantitativ und ob bei einer großen Stichprobe oder ausgewählten typischen Vertretungen der Zielgruppe. Hier können neben Befragungen auch neue agile Methoden zum Einsatz kommen, wie Stand-up-Workshops und Thinktanks. Zum anderen bietet es sich an, bestehende Datensätze und Statistiken unfallversicherungsträgerintern oder auch aus externen Quellen (zum Beispiel Bevölkerungsumfragen) über die Zielgruppe zu analysieren und zum Entwurf einer Produktidee zu nutzen.

Im zweiten Abschnitt geht es um Methoden, die helfen Produktideen zu prüfen. Das geht ebenfalls über eine direkte Befragung von Kundinnen und Kunden zur Produktidee allgemein oder zur konkreten weiteren Ausgestaltung des Produkts. Wenn vorhanden, können zur Prüfung auch vorhandene Daten im Sinne einer Sekundäranalyse verwendet werden, die Auskunft für das Produkt oder vergleichbare Produkte gibt.

Im dritten Schritt des PPM-Prozesses ist der Prototyp fertiggestellt. Die Frage ist nun: Wie kommt er an? Vor allem bei großen, umfangreichen Produkten, die mit einer großen Reichweite oder mit hohen Ressourcen verbunden sind, empfiehlt es sich, den Prototypen zu testen, bevor er flächendeckend eingesetzt wird. Das gelingt über einen Zielgruppentest, bei dem man der Zielgruppe den Prototyp vorlegt und hinsichtlich verschiedener Kriterien Rückmeldung einholt. Handelt es sich um ein großes, umfangreiches Produkt, wird der Prototyp als sogenanntes Modellprojekt aufgesetzt. Dieses wird dann einschließlich Wirkungsmessung umfangreich evaluiert.

In den weiteren Schritten im PPM, bei denen es um den Bestand und die Optimierung der Produkte geht, kann eine klassische Prozess- und Ergebnisevaluation unterstützen. Dabei wird ermittelt, wie das Produkt in der Praxis umgesetzt wird, was in der Anwendung verbessert werden kann, welche Wirkung ein Produkt hat und ob es die angestrebten Ziele erreicht. Schließlich kann hinsichtlich der Messung von Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Return on Prevention als Kennzahl berechnet werden.

Abbildung 3: Analyse und Evaluation im PPM-Prozess  | © DGUV
Abbildung 3: Analyse und Evaluation im PPM-Prozess ©DGUV