Psychosozialen Risiken wirksam begegnen mithilfe der Gefährdungsbeurteilung

Gefährdungen durch psychische Belastungen etwa infolge zu hoher Arbeitsmengen oder überlanger Arbeitszeiten betreffen Beschäftigte aller Branchen und Betriebsgrößen. Im Interesse des Gesundheitsschutzes sind Betriebe aufgefordert, auch psychosoziale Risiken bei der Arbeit aktiv zu reduzieren. Die Gefährdungsbeurteilung kann hierfür wichtige Hilfestellung bieten.

Psychische Belastung gehört zu jeder Tätigkeit

Mit psychischer Belastung sind Arbeitsanforderungen und -bedingungen gemeint, die Beschäftigte psychisch – also ihre Aufmerksamkeit und Konzentration, ihr Denken und Fühlen betreffend – fordern. Psychische Belastung gehört damit genauso wie körperliche Belastung zu jeder Tätigkeit dazu; sie kann aktivierend wirken und das Lernen befördern, sie kann Beschäftigte gegebenenfalls aber auch über- oder unterfordern und mittel- bis langfristig die Gesundheit beeinträchtigen. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber stehen daher in der Verantwortung, Arbeitsanforderungen und -bedingungen so zu gestalten, dass eine gesundheitsgefährdende psychische Belastung so weit als möglich vermieden wird.

Gefährdungen durch psychische Belastung

Zusammenhänge zwischen psychischer Belastung und Gesundheit sind gut belegt (Niedhammer et al., 2021; Aronsson et al., 2017; Kivimäki et al., 2015; Rau & Buyken, 2015). Von Gefährdungen der Gesundheit ist beispielsweise auszugehen, wenn Arbeitszeiten zu lang beziehungsweise Erholungszeiten zu kurz bemessen sind, wenn unter andauerndem Zeit- und Leistungsdruck gearbeitet wird oder wenn Beschäftigte bei ihrer Arbeit von Diskriminierung, Belästigung oder gar Gewalt durch Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte oder Kundinnen und Kunden betroffen sind. Im Interesse des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten sollte daher bei der Arbeitsgestaltung bewusst und systematisch mitbedacht werden, wie solche psychosozialen Risiken der Arbeit so weit wie möglich minimiert werden können. Welche Gefährdungen und Optionen zur Gefährdungsvermeidung dabei konkret in Betracht gezogen werden können, ist unter anderem in dem von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) herausgegebenen „Handbuch Gefährdungsbeurteilung“ beschrieben (Kittelmann et al., 2021: Kapitel 9).

Ein großer Teil der Erwerbstätigen berichtet über gesundheitskritische psychosoziale Anforderungen. So arbeiten nach der im Jahr 2018 durchgeführten Erwerbstätigenbefragung (n = 20.000) des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der BAuA 48 Prozent der Beschäftigten häufig unter starkem Termin- oder Leistungsdruck, fast jede vierte Person fühlt sich von der Arbeitsmenge überfordert. 16 Prozent geben an, häufig an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten zu müssen, und mehr als ein Fünftel kann häufig nach der Arbeit nur schwer abschalten (BAuA, 2020).

Umgang mit psychosozialen Risiken im Betrieb

In vielen Betrieben, auch in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), werden solche psychosozialen Risiken bei der Arbeit sehr ernst genommen und Maßnahmen ergriffen, um beispielsweise Hektik und Stress entgegenzuwirken, um Beschäftigte vor Belästigung und Mobbing bei der Arbeit zu schützen oder um Pausenausfall und überlange Arbeitszeiten zu vermeiden (European Agency for Safety and Health at Work, 2020). Feldstudien machen deutlich, dass dies in den Betrieben in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und Kontexten geschieht – etwa als Aufgabe fürsorglicher Mitarbeiterführung und betrieblicher Gesundheitsförderung, aber auch als Bestandteil professioneller Berufsausübung oder als Aufgabe gegenseitiger kollegialer Unterstützung im Team (Beck et al., 2017; Lenhardt, 2017). „Aktive Gefährdungsvermeidung“ findet demnach vielfach statt – woran es allerdings im Großteil der Betriebe mangelt, ist die (angemessene) Reflexion dieser Anstrengungen im betrieblichen Arbeitsschutz. Denn in der arbeitsschutzgesetzlich vorgeschriebenen „Gefährdungsbeurteilung“ wird der Umgang mit psychosozialen Risiken der Arbeit nach wie vor viel zu selten berücksichtigt; in den meisten kleinen Betrieben werden Gefährdungsbeurteilungen überhaupt nicht durchgeführt (Beck & Lenhardt, 2019). Dies ist beklagenswert, denn die Gefährdungsbeurteilung kann gerade auch für kleine Betriebe eine nützliche Hilfestellung sein, um die eigenen Anstrengungen zur Gefährdungsvermeidung auf den Prüfstand zu stellen und im Interesse der Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten systematisch weiterzuentwickeln.

Gefährdungsvermeidung mithilfe der Gefährdungsbeurteilung

Unter „Gefährdungsbeurteilung“ wird ein Prozess verstanden, in dem auf Grundlage einer Beurteilung der mit der Arbeit verbundenen Gefährdung erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Beschäftigten systematisch ermittelt, umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden (Kittelmann et al., 2021). Dabei ist unter anderem auch die Gefährdung durch psychische Belastungen zu berücksichtigen. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sind in Deutschland, wie auch in allen anderen Ländern der Europäischen Union, zur Umsetzung einer solchen Gefährdungsbeurteilung verpflichtet (§ 5 ArbSchG). Grundlegende Anforderungen und Möglichkeiten der Umsetzung sind in den „Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung“ beschrieben, auf die sich Bund, Länder und Unfallversicherungsträger gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) verständigt haben (GDA Psyche, 2017). Beratung und Unterstützung bei der Umsetzung finden Unternehmen insbesondere bei den Unfallversicherungsträgern, die entsprechende Handlungshilfen, Informations- und Beratungsangebote für ihre Mitgliedsbetriebe vorhalten.

Zur Ermittlung und Beurteilung von Gefährdungen durch psychische Belastung können Beobachtungsverfahren, standardisierte Mitarbeiterbefragungen und/oder Workshops genutzt werden, gegebenenfalls auch kombiniert (GDA Psyche, 2017; BAuA, 2014). Im Mittelpunkt sollte die Frage stehen, mit welchen Gefährdungen die betrachtete Tätigkeit verbunden ist und was im Betrieb bereits getan wird und gegebenenfalls unternommen werden muss, um die ermittelten Gefährdungen so weit als möglich zu reduzieren (Schuller, 2020). Dabei ist dem Grundsatz zu folgen, dass Gefährdungen an ihrer Quelle zu bekämpfen und individuelle Schutzmaßnahmen nachrangig zu anderen Maßnahmen sind. Das heißt, in erster Linie sollten die Maßnahmen das Ziel haben, die Arbeitsanforderungen und -bedingungen so zu gestalten, dass eine gesundheitskritische Belastung weitestgehend vermieden wird.

Führungskräfte und Beschäftigte als Gestaltungsakteure

Die Frage nach Erfordernissen und Möglichkeiten zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastung berührt unmittelbar Fragen der betrieblichen Arbeitszeit- und Leistungspolitik sowie der Personalplanung und -entwicklung, aber auch Fragen der Fürsorgeverantwortung und -kompetenz von Führungskräften sowie der Verantwortung und Kompetenz von Beschäftigten, „aktive Gefährdungsvermeidung“ bei ihren Entscheidungen über die Organisation und Gestaltung der Arbeit zu berücksichtigen. Unabdingbar für einen gelingenden Prozess sind daher verständigungs- und dialogorientierte Verfahrensweisen, bei denen Führungskräfte und Beschäftigte als primäre Gestaltungsakteure adressiert werden und mitwirken und dabei die Frage einer gefährdungsvermeidenden Gestaltung von Arbeitsanforderungen und -bedingungen in den Mittelpunkt stellen (Rothe et al., 2017).

Literatur

Aronsson, G.; Theorell, T; Grape, T et al.: A systematic review including meta-analysis of work environment and burnout symptoms. BMC Public Health (2017) 17: 264; https://doi.org/10.1186/s12889-017-4153-7, abgerufen am 8.10.2021

BAuA – Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.): Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Erfahrungen und Empfehlungen. Berlin 2014

Beck, D.; Lenhardt, U.: Consideration of psychosocial factors in workplace risk assessments: findings from a company survey in Germany. International Archives of Occupational and Environmental Health (2019) 92: 435–451; https://doi.org/10.1007/s00420-019-01416-5, abgerufen am 8.10.2021

Beck, D.; Schuller, K. und Schulz-Dadaczynski, A.: Aktive Gefährdungsvermeidung bei psychischer Belastung. Möglichkeiten und Grenzen betrieblichen Handelns. Prävention und Gesundheitsförderung (2017) 12: 302–310; https://doi.org/10.1007/s11553-017-0615-0, abgerufen am 8.10.2021

European Agency for Safety and Health at Work: ESENER 2019. What does it tell us about safety and health in Europe’s workplaces? Luxembourg: Publications Office of the European Union 2020; https://osha.europa.eu/de/publications/esener-2019-policy-brief/view, abgerufen am 8.10.2021 

GDA-Arbeitsprogramm Psyche: Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (3., überarbeitete Auflage). Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017; http://www.gda-psyche.de/SharedDocs/Publikationen/DE/broschuere-empfehlung-gefaehrdungsbeurteilung.pdf, abgerufen am 8.10.2021 

Kittelmann, M.; Adolph, L.; Michel, A. et al. (Hrsg.): Handbuch Gefährdungsbeurteilung. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2021; https://www.baua.de/gefaehrdungsbeurteilung, abgerufen am 8.10.2021

Kivimäki, M.; Jokela, M.; Nyberg, S. T. et al.: Long working hours and risk of coronary heart disease and stroke: a systematic review and meta-analysis of published and unpublished data for 603 838 individuals. Lancet (2015) 386: 1739–1746; http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(15)60295-1, abgerufen am 8.10.2021 

Lenhardt, U.: Psychische Belastung in der betrieblichen Praxis. Erfahrungen und Sichtweisen präventionsfachlicher Berater. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft (2017) 71: 6–13; https://doi.org/10.1007/s41449-017-0045-z, abgerufen am 8.10.2021  

Niedhammer, I.; Bertrais, S. und Witt, K.: Psychosocial work exposures and health outcomes: a meta-review of 72 literature reviews with meta-analysis. Scandinavian Journal of Work, Environment and Health (2021) online first; https://doi.org/10.5271/sjweh.3968, abgerufen am 8.10.2021 

Rau, R.; Buyken, D.: Der aktuelle Kenntnisstand über Erkrankungsrisiken durch psychische Arbeitsbelastungen: Ein systematisches Review über Metaanalysen und Reviews. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie (2015) 59: 113–129; https://doi.org/10.1026/0932-4089/a000186, abgerufen am 8.10.2021 

Rothe, I.; Adolph, L.; Beermann, B. et al.: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2017; https://doi.org/10.21934/baua:bericht20170421, abgerufen am 8.10.2021  

Schuller, K.: Interventions as the centrepiece of psychosocial risk assessment – why so difficult? International Journal of Workplace Health Management (2020) 13: 61–80; https://doi.org/10.1108/IJWHM-07-2018-0098, abgerufen am 8.10.2021