RTW: Psychotherapeutischer Ansatz zur Förderung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit

Langfristige Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen können sich negativ auf die Genesung und Arbeitsfähigkeit auswirken. Bislang ist die strukturierte Wiedereingliederung ins Erwerbsleben jedoch kein etablierter Bestandteil von Psychotherapien. Ein neuer psychotherapeutischer Ansatz zur erfolgreichen Rückkehr an den Arbeitsplatz wird vorgestellt.

Wechselwirkung von Psyche und (fehlender) Arbeitstätigkeit

Psychische Erkrankungen – allen voran Depressionen, Angsterkrankungen und Abhängigkeitserkrankungen – beeinträchtigen die Arbeitsfähigkeit und damit die gesellschaftliche Teilhabe erheblich. Laut Stressreport 2012 (Lohmann-Haislah, 2012) werden Patientinnen und Patienten mit depressiver Erkrankung im Durchschnitt um das fünfzigste Lebensjahr herum berentet. Davor hat in der Regel ein Prozess sich wiederholender Krankschreibungen aufgrund der Depression stattgefunden.

Bekannt ist, dass die Länge und Häufigkeit von Krankschreibungen (AU) aufgrund psychischer Erkrankungen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit nimmt, dass ein Patient beziehungsweise eine Patientin erfolgreich in den Arbeitsplatz integriert wird. Häufige und lange Abwesenheiten vom Arbeitsplatz führen zu unterschiedlichen Folgeproblemen. Aufseiten der Beschäftigten können psychologische Barrieren ausgelöst werden, die eine Integration in Arbeit erschweren oder verhindern. Dazu zählen negative Grundannahmen in Bezug auf die eigene Leistungsfähigkeit, geringes Selbstwirksamkeitsempfinden, aber auch zwischenzeitlich aufgetretene Veränderungen am Arbeitsplatz (durch Umstrukturierung, veränderte Aufgabenstellung und vieles mehr). Das mangelnde Zutrauen in die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten von arbeitsplatzbezogenen Stressoren kann schlimmstenfalls phobische Züge annehmen und ein ernsthafter Hinderungsgrund zur Wiederaufnahme der Arbeit werden (de Vries et al., 2014).

Aufseiten der Unternehmen und der Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen bestehen oft Fragen bezüglich der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der zurückgekehrten Person, manchmal aber auch Vorurteile bezüglich ihrer Leistungsbereitschaft.

Eine weitere Quelle für Probleme bei der Rückkehr zur Arbeit ist die weitverbreitete Annahme, eine psychische Erkrankung müsse zunächst „vollständig ausgeheilt“ sein, bevor Arbeitsfähigkeit besteht. Diese Annahme wird von vielen Personen in denjenigen Gesundheitsberufen geteilt, die an der Versorgung psychisch Kranker maßgeblich beteiligt sind.

Dabei wird häufig übersehen, dass für Betroffene mit psychischen Erkrankungen eine verminderte Teilhabe am Erwerbsleben unmittelbare negative Folgen hat: den Verlust einer wertvollen Quelle für soziale Unterstützung, Verlust interpersoneller Kontakte, von Einkommen und bedingt durch den Verstärkerverlust eine Zunahme und Chronifizierung psychischer Probleme. Je länger dieser Zustand anhält, desto problematischer gestaltet sich die Wiedereingliederung und desto schwieriger wird auf lange Sicht die Remission („Heilung“) von der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung.

Daher ist die Annahme, dass „vollständige psychische Gesundheit“ eine Grundvoraussetzung für die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses sei, in dieser Pauschalität abzulehnen. Vielmehr muss in jedem Einzelfall geprüft werden, ob durch die psychische Erkrankung eine Leistungsminderung eingetreten ist, wie stark ausgeprägt diese ist und inwieweit ein Verbleib in Arbeit – mit gegebenenfalls reduzierter Stundenzahl – dem Remissionserfolg sogar zuträglich ist. Bei Patientinnen und Patienten mit bestehendem Arbeitsverhältnis, die aufgrund einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig geschrieben worden sind, sollten daher sowohl die Verbesserung der psychischen Symptome als auch die Rückkehr an den Arbeitsplatz als prioritäre Therapieziele gleichberechtigt verfolgt werden. Ein unreflektiertes und „gießkannenartiges“ Vergeben von AU-Tagen schadet gegebenenfalls den Patientinnen und Patienten mehr, als dass es ihnen nützt.

Rückkehr an den Arbeitsplatz als Teil von Psychotherapie

Auch in der Psychotherapie ist die strukturierte Rückkehr an den Arbeitsplatz in den seltensten Fällen expliziter Bestandteil der durch Antragspsychotherapie unterstützten Verfahren (Winter et al., 2015). Psychotherapie ist per definitionem darauf ausgerichtet, die Verbesserung einer bestehenden psychiatrischen Symptomatik in den Mittelpunkt zu stellen. Demzufolge steht die Wiedereingliederung ins Erwerbsleben erst an, wenn die psychopathologische Kernsymptomatik verbessert wurde. Die Wiedereingliederung wird auf spätere Phasen der Behandlung verschoben und die Entscheidung zu einer Rückkehr an den Arbeitsplatz auf der Grundlage subjektiver Einschätzung getroffen.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung hat sich eine wachsende Evidenz über wissenschaftliche Psychotherapiestrategien gebildet, die das Ziel einer erfolgreichen Rückkehr an den Arbeitsplatz fokussieren – ohne dabei die psychopathologische Kernsymptomatik auszublenden.

Insbesondere ein Ansatz wurde von der Arbeitsgruppe Psychokardiologie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in den vergangenen Jahren systematisch beforscht. Es handelt sich um das aus den Niederlanden stammende Modul „Rückkehr ins Erwerbsleben (RTW)“ (Lagerveld et al., 2012; Kahl & Winter, 2016), das im Folgenden näher beschrieben wird.

RTW wurde von Lagerveld und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als zusätzliches Modul für eine  Kognitiv-Behaviorale Standardtherapie[1] entwickelt. Im Verständnis der Autorinnen und Autoren ist die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit ein zentraler Aspekt in der Therapie. Arbeit wird als eine Quelle von unterschiedlichen positiven Verstärkern aufgefasst, der Verlust von Arbeit entsprechend als ein Zustand mit hohem Risiko für Verstärkerverlust. Dies kann zur Auslösung und/oder Chronifizierung bereits bestehender psychiatrischer Probleme beitragen. Die Autorinnen und Autoren von RTW sind sich darüber im Klaren, dass arbeitsplatzbezogener Stress eine wesentliche Rolle in der Aufrechterhaltung psychischer Probleme spielen kann. Allerdings lassen sich arbeitsplatzbezogene Probleme nicht durch Vermeidungsverhalten lösen – also auch nicht durch „Fernbleiben von der Arbeit“. Vielmehr sollen Lösungsvorschläge am Arbeitsplatz eingebracht werden. Selbst wenn sich im Laufe der Therapie herausstellt, dass die arbeitsplatzbezogenen Probleme nicht gelöst werden können, sollte pragmatisch zunächst eine Rückkehr ins Erwerbsleben erfolgen und danach erst eine erfüllende Arbeit gesucht werden. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz ist daher von vornherein ein Therapieziel in RTW.

Das Programm RTW wurde mittlerweile in mehreren Studien auf Effektivität, Machbarkeit und Akzeptanz bei Patientinnen und Patienten mit häufigen psychiatrischen Erkrankungen und längerer Arbeitsunfähigkeit (> sechs Wochen) untersucht. Es zeigte sich eine sehr gute Wirksamkeit hinsichtlich der Verbesserung der Symptome (bei Angststörungen, Depression und Anpassungsstörungen) bei gleichzeitiger überlegener Wirksamkeit hinsichtlich der Rückkehr an den Arbeitsplatz (Lagerveld et al., 2012). Ergebnisse der Arbeitsgruppe Psychokardiologie und Psychotherapie zeigten, dass RTW auch bei Patientinnen und Patienten mit mittelschweren psychischen Problemen erfolgreich angewandt werden kann (Winter et al., 2020).

Gegenwärtig wird RTW realitätsnah in unterschiedlichen Projekten beforscht, um die Tauglichkeit in spezifischen Klientelen unter Beweis zu stellen.

Zusammenfassung

Return-to-work ist ein modernes Psychotherapiekonzept, das die Integration ins Erwerbsleben ebenso beinhaltet wie die Symptomreduktion. In RTW wird davon ausgegangen, dass die frühzeitige Rückkehr in Arbeit trotz bestehender psychischer Symptome für die Genesung („recovery“) der Patientinnen und Patienten ebenso wichtig ist wie für den Gesamtverlauf der Erkrankung. Aktuelle Studien bestätigen die Wirksamkeit, Machbarkeit und Akzeptanz von RTW.

Literatur

Lohmann-Haislah, A.: Stressreport Deutschland 2012: Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund 2012

de Vries, G.; Hees, H. L.; Koeter, M. W.; Lagerveld, S. E. & Schene, A. H.: Perceived impeding factors for return-to-work after long-term sickness absence due to major depressive disorder: a concept mapping approach. In: PloS one, 9(1), e85038, 2014

Winter, L.; Kraft, J.; Boss, K. & Kahl, K. G.: Return to Work: A Workplace Focused Module to be Integrated in Cognitive Behavioral Therapy. In:  Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie, 65(8), S. 321–326, 2015

Lagerveld, S. E.; Blonk, R. W.; Brenninkmeijer, V.; Wijngaards-de Meij, L. & Schaufeli, W. B.: Work-focused treatment of common mental disorders and return to work: a comparative outcome study. In: Journal of occupational health psychology, 17(2), 2012

Kahl, K. G. & Winter, L. (Hrsg.): Arbeitsplatzbezogene Psychotherapie. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2016

Winter, L.; Geldmacher, J.; Plücker-Boss, K. & Kahl, K. G.: Integration of a Return-to-Work Module in Cognitive Behavioral Therapy in Patients With Major Depressive Disorder and Long-Term Sick Leave-A Feasibility Study. In: Frontiers in Psychiatry, 3(11), S. 512, 2020

Struktur des Moduls „Rückkehr ins Erwerbsleben“

1.   Vertrautmachen mit dem Modell
      Einführung eines arbeitsbezogenen Grundprinzips
      Psychoedukation zum Thema „Arbeit und psychische Gesundheit“
      Auflistung der psychologischen Probleme, die mit der beruflichen Situation in Zusammenhang stehen

2.  Erstellung einer individuellen Arbeitsplatzanalyse
     Analyse der Situation am Arbeitsplatz
     Problemanalysen mit Arbeitsplatzbezug

3.  Ausarbeitung eines Wiedereingliederungsplans
     Motivation der Patientin/des Patienten zur Kontaktaufnahme mit dem betriebsärztlichen Dienst, dem Wiedereingliederungsmanagement oder Vorgesetzten
     Abschätzung der zeitlichen Schritte, bis die Wiedereingliederung begonnen/ abgeschlossen werden kann
     Identifikation von leichten/schweren Aufgaben bei der Wiedereingliederung
     Problemlösestrategien bei Rückschlägen

4.  Evaluation der Wiedereingliederungsschritte
    Kontinuierliche Anpassung des Wiedereingliederungstempos
    Gegebenenfalls Anpassung des Wiedereingliederungsplans

Quelle: Modifiziert nach Winter et al., 2015; Winter & Kahl, 2016