Die Ausnahme darf nicht zur Regel werden – Prävention von Gewalt bei der Arbeit

Gewalt hat viele Facetten, die Folgen sind für die Betroffenen gravierend. Die erfolgreiche Prävention von Gewalt bei der Arbeit ist daher entscheidend; sie setzt voraus, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken und eine konsequente Haltung gegen jegliche Form von Gewalt bei der Arbeit einzunehmen. Erst auf dieser Grundlage können Präventionsmaßnahmen gefunden werden, die wirken.

„Wenn Helfer zu Opfern werden: Woher kommt Gewalt gegen Einsatzkräfte?“ titelt SWR Aktuell [1] nach den Angriffen mit Silvesterraketen auf Feuerwehr und Polizei zum Jahreswechsel. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) fragt: „Nimmt die Gewalt in Deutschland zu?“.[2] Die Berichte über die Ausschreitungen gegen Rettungskräfte in der Silvesternacht werfen ein Schlaglicht auf ein Problem, das laut einer Umfrage der Feuerwehr-Unfallkasse (FUK) Niedersachsen [3] aus dem Jahr 2020 auch jenseits von großen Ereignissen häufig auftritt. Demnach gab mehr als ein Drittel der Befragten an, in den letzten zwei Jahren Gewalt in Form von Beleidigungen, Beschimpfungen, Bedrohungen oder tätlichen Angriffen während ihrer Tätigkeit als aktives Feuerwehrmitglied erlebt zu haben. Gewalterfahrungen stellen demnach keine singulären Ereignisse dar, sondern sind beinahe alltäglich. Doch von Gewalt bei der Arbeit sind auch weitere Branchen betroffen, beispielsweise Beschäftigte der Pflege- und Betreuungsbranche [4] oder Beschäftigte des öffentlichen Dienstes [5]. Grundsätzlich kann Gewalt bei der Arbeit alle treffen, die im Rahmen ihrer Tätigkeit in Kontakt mit anderen Menschen stehen. Ein besonders hohes Risiko gibt es

  • an Arbeitsplätzen, an denen mit Wertgegenständen und Bargeld umgegangen wird,
  • bei Alleinarbeit,
  • beim Umgang mit schwierigen Personengruppen, wie es beispielsweise bei Einsatzkräften der Fall ist, und
  • bei der Ausübung von Kontrollaufgaben.

Gewalt hat viele Gesichter

Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt im Sinne des ILO-Übereinkommens 190 „Übereinkommen über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt“ wird definiert „als eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“ [6]. Dass Gewalt bei der Arbeit kein Randthema ist, zeigt die Auswertung des Arbeitsunfallgeschehens. Insgesamt 11.972 meldepflichtige Arbeitsunfälle durch menschliche Gewalt, Angriff und Bedrohung wurden 2021 registriert (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Berichtsjahr 2021, Meldepflichtige Arbeitsunfälle (UART1-4), abhängig Beschäftigte, Unternehmer, Versicherte bei nicht-gewerbsmäßigen Bauarbeiten und versicherte Angehörige - ohne Berufssportler Unfälle durch Gewalt, Angriff, Bedrohung | © Quelle: Auswertung DGUV
Abbildung 1: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Berichtsjahr 2021, Meldepflichtige Arbeitsunfälle (UART1-4), abhängig Beschäftigte, Unternehmer, Versicherte bei nicht-gewerbsmäßigen Bauarbeiten und versicherte Angehörige - ohne Berufssportler Unfälle durch Gewalt, Angriff, Bedrohung ©Quelle: Auswertung DGUV

Meldepflichtig ist ein Arbeitsunfall jedoch erst, wenn die versicherte Person getötet wurde oder so verletzt ist, dass sie für vier oder mehr Tage arbeitsunfähig wird (§ 193 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VII). Damit wird deutlich, dass nur ein Bruchteil der Gewalterfahrungen in dieser Statistik erfasst wird. Denn Gewalt umfasst nicht nur schwere körperliche Angriffe, sondern beispielsweise auch sexuelle Belästigung, Handgreiflichkeiten, (Cyber-)Mobbing, Diskriminierung und Drohungen, die möglicherweise nicht unmittelbar zu einem meldepflichtigen Unfall führen.

Folgen von Gewalt

Die Folgen von Gewalt bei der Arbeit sind gravierend. Die betroffene Person kann beispielsweise körperliche Verletzungen davontragen, es kann zu psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen und dem Verlust des Vertrauens in die soziale Umwelt kommen. Auf betrieblicher Ebene können krankheitsbedingte Fehlzeiten zu einem betriebswirtschaftlichen Schaden führen, was schließlich in volkswirtschaftliche Einbußen mündet. Schnelle Hilfe nach einem Gewaltereignis ist für die Betroffenen von zentraler Bedeutung. Das Psychotherapeutenverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung dient der zügigen psychologisch-therapeutischen Intervention und kann so der Entstehung und Chronifizierung von psychischen Gesundheitsschäden frühzeitig entgegenwirken.[7] Notwendige Leistungen zur psychologischen und medizinischen Versorgung werden durch die Unfallversicherungsträger auch bei nicht meldepflichtigen Arbeitsunfällen erbracht, hierzu ist jedoch eine Meldung notwendig.

Gewaltprävention

Gewalt muss nicht und darf nicht als natürlicher Bestandteil der Arbeit hingenommen werden. Gewalt in jeder Form ist inakzeptabel. Daher sollten Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Führungskräfte eine konsequente Haltung gegen jegliche Form von Gewalt bei der Arbeit einnehmen. Das wichtigste Element zur betrieblichen Prävention von Gewalt ist die Gefährdungsbeurteilung. In deren Rahmen können Erscheinungsformen von Gewalt ermittelt und beurteilt sowie zielgerichtete Maßnahmen zur Prävention festgelegt werden. Hierbei ist die Maßnahmenhierarchie zu beachten: Technische sollten vor organisatorischen und diese vor personenbezogenen Maßnahmen umgesetzt werden (TOP-Prinzip). Technische Maßnahmen können zum Beispiel die bauliche Trennung von Personal und Kundschaft sein oder die Zugriffssicherung von Bargeld. Eine organisatorische Maßnahme könnte die Verbesserung eines Terminvergabesystems sein oder die Information von Kundinnen und Kunden über Abläufe. Die Schulung von Beschäftigten zum Konfliktmanagement beziehungsweise zur Deeskalation wäre eine mögliche personenbezogene Maßnahme. Und wenn es doch so weit kommt: Betriebliche psychologische Erstbetreuerinnen und Erstbetreuer können eine frühzeitige psychologische Unterstützung anbieten, um akute Stressreaktionen nicht stärker werden zu lassen und möglichst zu mindern sowie um Orientierung und Sicherheit herzustellen.[8] Diese können Bestandteil eines betrieblichen Notfallkonzepts sein. Deutlich wird: Es gibt viele Möglichkeiten, das Risiko von Gewalt bei der Arbeit zu verringern und die Belegschaft zu schützen. Der erste Schritt auf diesem Weg ist, sich die Gefährdung durch Gewalt am Arbeitsplatz im eigenen Betrieb oder der eigenen Organisation bewusst zu machen und dann konsequent an Präventionsmaßnahmen zu arbeiten – und damit im besten Sinne Präventionskultur zu pflegen.