Sexuelle Belästigung und Gewalt im Gesundheits- und Sozialwesen
Beschäftigte im Sozial- und Gesundheitswesen müssen besser über den Umgang mit sexueller Belästigung und Gewalt bei der Arbeit informiert und aufgeklärt werden. Das zeigt eine Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Zudem sollten Präventions- und Nachsorgemaßnahmen in den Betrieben umgesetzt werden.
Ob Busfahrerinnen und Busfahrer, Verkäufer und Verkäuferinnen oder Beschäftigte im Gesundheitswesen – das gesellschaftlich häufig tabuisierte und sensible Thema "Gewalt gegen Beschäftigte" ist ein Phänomen, das sich im gesamten Arbeitsplatzumfeld wiederfindet.
Anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 2019 die Gewaltdefinition ratifiziert. Positiv und neu ist, dass explizit die sexuelle Belästigung und geschlechtsspezifische Belästigung und Gewalt als Handlungsfeld in die Definition aufgenommen wurde.
In Deutschland ist der Schutz vor sexueller Belästigung und Diskriminierung im Beruf im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geregelt. Darin sind neben arbeitsrechtlichen Konsequenzen auch Maßnahmen und Pflichten des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin zum Schutz vor Benachteiligungen sowie Rechte der Beschäftigten verankert:
"[…] ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird." (§ 3 Abs. 4 AGG)
Studienergebnisse[1][2] zeigen, dass Beschäftigte in Gesundheitsberufen mit unterschiedlichsten Arten von Übergriffen und Gewalt konfrontiert sind. In einer breit angelegten Studie wurden 1.984 Beschäftigte nach der Häufigkeit von verbaler und körperlicher Gewalt befragt.[3] 94 Prozent der Befragten gaben an, in den vorausgegangenen zwölf Monaten verbale Gewalt erlebt zu haben. 70 Prozent der teilnehmenden Beschäftigten hatten körperliche Gewalt erlebt.
Während für das Gesundheits- und Sozialwesen mittlerweile gesicherte Prävalenzzahlen für körperliche und verbale Gewaltereignisse vorliegen, ist der Erkenntnisstand hinsichtlich der Betroffenenrate und der Folgen von sexueller Belästigung und Gewalt gegenüber Betreuungs- und Pflegepersonal gering. Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz wird nach wie vor tabuisiert und stigmatisiert.[4]
Eine repräsentative Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes[5] hat aufgezeigt, dass Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen in Deutschland – im Vergleich zu anderen Branchen – am stärksten gefährdet sind, sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz zu erleben. Branchenübergreifend haben mehr als die Hälfte aller Beschäftigten sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz schon einmal erlebt oder beobachtet. In 53 Prozent der Fälle gingen die Belästigungen von Kunden und Kundinnen oder Patienten und Patientinnen aus. Bei 43 Prozent der belästigenden Personen handelte es sich um Kollegen und Kolleginnen; bei 19 Prozent waren es Vorgesetzte oder betrieblich höhergestellte Personen. Beide Geschlechter sind von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen. Am häufigsten in beiden Geschlechtergruppen werden die Übergriffe durch Männer ausgeführt.
Um genauere Angaben zur Betroffenheit am Arbeitsplatz im Gesundheits- und Sozialwesen zu erhalten, entwickelte die BGW in Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Hamburg einen branchenspezifischen Fragebogen zur Messung verschiedener Arten von sexueller Belästigung und Gewalt gegen Pflege- und Betreuungspersonal.[6] Es entstand ein differenzierter Fragebogen (siehe Abbildung 1), der zwischen drei unterschiedlichen Arten von sexueller Belästigung und Gewalt durch Patienten und Patientinnen, Klienten und Klientinnen sowie Bewohner und Bewohnerinnen gegenüber Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen unterscheidet:
- nonverbale sexuelle Belästigung und Gewalt
- verbale sexuelle Belästigung und Gewalt
- körperliche sexuelle Belästigung und Gewalt
Dass es notwendig ist, unterschiedliche Arten sexueller Belästigung und Gewalt zu erfassen, zeigten Expertenbefragungen innerhalb der Gesundheitsbranche. Die Diskriminierung sexueller Belästigung stellt eine Besonderheit dar im Vergleich zu anderen Befragungsthemen. Der Fragebogen (siehe Abbildung 1) erfasst kein subjektives Erleben, sondern bildet eine objektive Beobachtbarkeit ab.[7] Sexuelle Belästigung wird in der Forschung häufig nur mit einer Single-Frage erfasst: "Haben Sie sexuelle Belästigung erlebt?" mit der Antwortmöglichkeit "Ja" oder "Nein". Diese Frage wird von den Betroffenen aus Unwissenheit über das Spektrum sexueller Belästigung häufig mit "Nein" beantwortet. In wissenschaftlichen Studien zeigte sich jedoch, dass auch ohne die bewusste Nennung als sexuelle Belästigung das Ereignis durchaus Folgen nach sich ziehen kann[8], auch wenn Betroffene den Vorfall nicht als sexuelle Belästigung wahrgenommen haben.
Folgende Fallbeispiele sollen die Notwendigkeit zur Differenzierung verdeutlichen:
Beispiel 1: Körperliche sexuelle Belästigung und Gewalt
In der ambulanten Altenpflege greift ein männlicher Patient einer jungen Pflegefachkraft zwischen die Beine und zieht sie zu sich heran, um sie zu küssen. Sie kann sich zwar losreißen, ist aber nach dem Ereignis hochgradig verstört. Weil sich das Geschehen im häuslichen Umfeld des Patienten abspielt, hat sie intensive Angst gefangen zu sein. Zurück im Team reagieren die Kollegen und Kolleginnen spöttisch und vertreten Meinungen wie "Lass dem doch auch mal seinen Spaß" und "Damit musst du hier klarkommen, das gehört zum Job dazu". Die Pflegekraft fühlt sich allein gelassen und überfordert. Sie entwickelt Angst gegenüber männlichen Patienten und meidet diese zukünftig, was wiederum Konflikte im Team produziert. Sie schläft schlechter und zweifelt an ihrer Berufswahl.
Beispiel 2: Verbale sexuelle Belästigung und Gewalt
In der stationären Pflege ist der 38-jährige Krankenpfleger Herr P. tätig. Er ist für die Versorgung eines 60-jährigen Patienten zuständig. Der Patient konfrontiert ihn schon seit geraumer Zeit mit intimen Fragen über seinen Beziehungsstatus, Körpermaße oder das Aussehen. Irgendwann beginnt er mit sexuell anzüglichen Bemerkungen. Herr P. "überhört" anfangs die distanzlosen Bemerkungen und denkt, es wird irgendwann aufhören. Dann fordert der Patient ihn bei der morgendlichen Pflege eindeutig auf, an ihm sexuelle Handlungen auszuführen. Er beleidigt Herrn P. mit "Du bist doch auch so eine homosexuelle Schwester" und er solle sich "nicht so zieren". Herr P. ist völlig konsterniert und sprachlos. Er steht da und fühlt sich wie erstarrt. Der Patient genießt es, Herrn P. so "machtlos" zu sehen und fährt mit weiteren sexuellen Bemerkungen fort. Herr P. absolviert noch die Tätigkeit und verlässt den Arbeitsplatz. Während der Autofahrt überkommen ihn Entsetzen und Ekel. Er meldet sich am darauffolgenden Tag krank.
Beispiel 3: Nonverbale sexuelle Belästigung und Gewalt
Frau M. ist Küchenhilfe in einem größeren Cateringunternehmen und arbeitet in der Essensausgabe einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Ein Bewohner hat besonderen Gefallen an ihr gefunden. Seit zwei Jahren starrt er die Küchenhilfe anzüglich an. Dabei bleibt er wie angewurzelt stehen und reibt an sich herum. Er äußert auf Ansprache nicht seinen Essenswunsch, sondern schaut die Küchenhilfe intensiv an. Es ist ihr jedes Mal sehr peinlich und unangenehm, zumal ihre Kollegen und Kolleginnen Witze über sie und den Bewohner machen. Als dieser in der Kantine seine Hose öffnet und die Hand hineinsteckt, läuft Frau M. in Panik von ihrem Arbeitsplatz weg. Sie grübelt nachts über den nächsten Tag nach. Sie entwickelt immer mehr Kopf- und Rückenschmerzen und fühlt sich angespannt und gereizt. Ihre Führungskraft unterstützt sie nicht.
Aufgrund der unterschiedlichen Arten von sexueller Belästigung und Gewalt wurde ein Fragebogen (siehe Abbildung 1) mit zwölf Items entwickelt und an Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen validiert:
Studie "Sexuelle Belästigung und Gewalt" der BGW
Der in Abbildung 1 vorgestellte und validierte Fragebogen wurde 2019 im Rahmen einer größeren Studie innerhalb von BGW-versicherten Mitgliedsunternehmen eingesetzt und befasste sich mit drei Fragen:
- Wie viele Beschäftigte sind in den unterschiedlichen Branchen von welchen Formen (nonverbal, verbal, körperlich) sexueller Belästigung und Gewalt – ausgehend von den zu Pflegenden oder zu Betreuenden – betroffen?
- Welche Zusammenhänge bestehen zwischen sexueller Belästigung oder Gewalt durch zu Pflegende oder zu Betreuende und psychischen Befindensbeeinträchtigungen der Betroffenen?
- Welche Präventions- und Unterstützungsangebote existieren in den Einrichtungen?
Es wurden Beschäftigte aus Krankenhäusern, Rehabilitationskliniken, stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen sowie Werkstätten und Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung in Deutschland befragt. An der Befragung nahmen 901 Beschäftigte aus 60 Einrichtungen teil. Die Ergebnisse werden nachfolgend zusammengefasst.[9]
Ergebnisse: Prävalenz von sexueller Belästigung und Gewalt
Sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Beschäftigte im Sozial- und Gesundheitswesen durch Patientinnen und Patienten, Klienten und Klientinnen sowie Bewohner und Bewohnerinnen sind häufige Ereignisse. Alle Formen (nonverbal, verbal und körperlich) kommen in allen untersuchten Branchen des Gesundheits- und Sozialwesens vor:
Es existieren Branchenunterschiede betreffend der Prävalenz und der Art der Belästigung. Die Häufigkeit variiert je nach Branche und Form der sexuellen Belästigung und Gewalt zwischen 38 Prozent und 76 Prozent. Sowohl bei weiblichen als auch männlichen Beschäftigten traten Gewaltereignisse auf.
Ergebnisse: Folgen
Die Studie zeigte in allen Branchen und für alle drei Formen der sexuellen Belästigung und Gewalt einen positiven Zusammenhang mit beeinträchtigtem Wohlbefinden (zum Beispiel Depressivität, emotionale Erschöpfung und psychosomatische Beschwerden). Je häufiger die Betroffenen nonverbale, verbale beziehungsweise körperliche sexuelle Belästigung und Gewalt bei der Arbeit erlebten, desto stärkere psychische Beeinträchtigungen zeigten sie.
Ergebnisse: Bekanntheitsgrad von Maßnahmen
In Bezug auf Unterstützungsangebote zur Prävention von sexueller Belästigung und Nachsorge berichteten rund 37 Prozent der Studienteilnehmenden, dass aus ihrer Sicht ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber zum Thema sexuelle Belästigung und Gewalt in der Einrichtung gar keine beziehungsweise kaum wahrnehmbare Maßnahmen ergreifen. In den Allgemeinkrankenhäusern einschließlich der Rehakliniken waren der Hälfte der Beschäftigten keine Maßnahmen bekannt. In Betrieben, in denen wahrnehmbare Maßnahmen existieren, gaben die Beschäftigten Leitlinien zum Umgang mit sexueller Gewalt am Arbeitsplatz, Fallbesprechungen, Supervision oder Deeskalationstraining an. Deutlich unterrepräsentiert ist das Aufgreifen von sexueller Belästigung und Gewalt in Unterweisungen oder in den Pflegeausbildungen. Das Unterstützungsangebot der probatorischen Sitzungen (psychotherapeutische Sitzungen bei einem Traumaspezialisten oder einer Traumaspezialistin) als Instrument der Nachsorge war weitgehend unbekannt.
Diskussion und Empfehlungen
Die Ergebnisse der Studie "Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz" der BGW[10] bestätigen, dass sexuelle Belästigungen und Gewaltereignisse im Gesundheits- und Sozialwesen häufig auftreten und als Problem ernst zu nehmen sind.
Es ergaben sich zahlreiche signifikante Zusammenhänge mit unterschiedlichen psychischen Befindensbeeinträchtigungen. Alle drei Formen der sexuellen Belästigung und Gewalt sind somit relevante Arbeitsstressoren im Hinblick auf das Wohlbefinden der Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen. Auch eine Vielzahl anderer Studien weist verschiedenste ernst zu nehmende Folgen für Betroffene und ihr Umfeld auf.[11] Gerade sexuelle Belästigungen sind aufgrund der Verletzung der Intimsphäre, des Gefühls der Erniedrigung und der starken Schamgefühle, die solche Übergriffe verursachen, mit einem hohen Traumatisierungsrisiko verbunden.[12] Dieses Risiko ist höher als bei anderen Arbeitsunfällen.[13]
Für das betriebliche Umfeld ist es wichtig zu verstehen, dass sich entsprechende Ereignisse nicht nur auf die Beziehung zwischen zu Betreuenden sowie Pflege- und Betreuungspersonal auswirken, sondern auch die Beziehung der Beschäftigten zu ihrem Arbeitgeber oder ihrer Arbeitgeberin beeinflussen. Beschäftigte sind nach solchen Ereignissen häufig nicht in der Lage, ihre optimale Arbeitsleistung zu erbringen.[14] Neben den Motivations- und Produktivitätsverlusten für die direkt Betroffenen können aber auch Unzufriedenheit und Konflikte in Teams entstehen. Im Nachgang solcher Ereignisse kommt es bei den Betroffenen häufig zu Vermeidungsreaktionen, zum Beispiel werden bestimmte Patientengruppen gemieden oder die Pflegeleistung wie das Waschen von Patienten und Patientinnen wird weniger gründlich ausgeführt. Die nachlassende Qualität der Pflege muss infolgedessen von Kolleginnen und Kollegen ausgeglichen werden. Wegen Zweifeln der Beschäftigten an ihrer beruflichen Eignung kann es schlussendlich zur Kündigung der Arbeitsstelle kommen.[15] Somit entstehen Kosten aus Personalfluktuation, die sich in Zeiten des Pflegekräftemangels kein Betrieb mehr leisten kann.[16]
Maßnahmen zur Prävention von sexueller Belästigung und Gewalt
Es gehört zu den gesetzlich verankerten Pflichten des Arbeitgebers und der Arbeitgeberin, für die Sicherheit und Gesundheit ihrer Beschäftigten am Arbeitsplatz zu sorgen. Nach AGG und dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) besteht die Verpflichtung, Maßnahmen zur Verhinderung sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz zu ergreifen und die Betroffenen zu schützen. Studien zu Gewalt am Arbeitsplatz konnten zeigen, dass Beschäftigte sich weniger stark belastet fühlen, wenn der Betrieb Gewaltmanagementkonzepte und Maßnahmen zu ihrem Schutz etabliert hat.[17] Die Befragung zu sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz verdeutlichte einen geringen Bekanntheitsgrad von Präventions- und Nachsorgeangeboten in den Organisationen. Sowohl Betriebe als auch die innerbetrieblichen Akteurinnen und Akteure sind in den meisten Fällen auf diese spezielle Situation nicht ausreichend vorbereitet. Entsprechende Vor- und Nachsorgekonzepte sollten vorgehalten werden.
Die Studie konnte auch aufzeigen, dass viele Beschäftigte keine Handlungskompetenz im Umgang mit Gewalt in der Ausbildung erworben hatten. Unternehmen können demnach nicht davon ausgehen, dass die Beschäftigten über den richtigen Umgang mit der Problematik informiert sind und über Wissen dazu verfügen. Deeskalationstrainings als eine sinnvolle Maßnahme sollten auch immer den Aspekt "Umgang mit sexueller Belästigung" enthalten.
Besondere Rolle der Leitungsebene und der Vorgesetzten
Prävention von und Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz ist ein Top-down-Thema. Die Bekämpfung von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz setzt das Engagement der obersten Führungsebene voraus. Dabei spielen Führungskräfte eine zentrale Rolle. Viele von ihnen tendieren dazu, die sexuelle Belästigung zu bagatellisieren. In Form eines scherzhaften Umgangs wird die Problematik verleugnet, häufig wird auch versucht, das belästigende Verhalten zu ignorieren.[18] Vorgesetzte haben mit ihrer Haltung eine Vorbildfunktion und tragen zu einem wertschätzenden Arbeitsklima bei. Oberste Maxime im Betrieb sollte eine Sensibilisierung für die Problematik sowie deren Folgen sein. Prävention von Gewalt sollte in der Unternehmenskultur verankert sein.
Sobald ein Bewusstsein seitens der Leitung vorhanden ist, dass die Problematik „Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz“ ein Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes ist, braucht es in einem weiteren Schritt differenziertes Wissen über die Art und Häufigkeit, in denen Ereignisse auftreten. Um geeignete Maßnahmen zur Prävention von sexueller Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz zu entwickeln, ist daher eine Untersuchung der spezifischen Gefährdung mittels der Gefährdungsanalyse erforderlich.[19] Für die Analyse ist es hilfreich, ein systematisches Meldewesen zu etablieren. Gerade weil sexuelle Belästigung und Gewalt schambesetzt und tabuisiert sind, sollte die Schwelle zur Meldung möglichst niedrig und unbürokratisch gehalten werden. Nach Betrachtung der Daten sollte eine Gefährdungsbewertung vorgenommen werden und Schutzziele formuliert sowie Maßnahmen nach den TOP-Prinzipien (technisch – organisatorisch – persönlich) abgeleitet werden. Die Einrichtung formeller Beschwerdestellen nach AGG ist Pflicht. Eine Grundsatzerklärung gegen sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz als Leitlinie kann ein weiterer Schritt sein.
Nachsorge sexueller Belästigung und Gewalt
Beschäftigte im Gesundheitswesen und in der Wohlfahrtspflege sind besonders von Gewalt betroffen. Die Meldezahlen zeigen aber nur die Spitze des Eisbergs.[20] Es ist davon auszugehen, dass sexuelle Belästigungen im Unfallgeschehen nur unzureichend abgebildet sind. Die Studie verdeutlichte, dass sexuelle Belästigung einen Arbeitsunfall darstellt und gemeldet werden sollte. Außerdem zeigte die Studie, dass die direkte soziale Unterstützung nach einem Ereignis in allen untersuchten Branchen mit Nennungen über 60 Prozent einen sehr hohen Stellenwert hatte – sei es durch Kollegen und Kolleginnen, Führungskräfte oder Freunde und Familie.[21] Soziale Unterstützung ist studienübergreifend ein sehr wichtiger Faktor[22], wenn es um die Reduktion von Stressbelastung geht, und sollte in allen Betrieben etabliert werden. Dies setzt voraus, dass Beschäftigte und Vorgesetzte sowie Interessenvertretungen oder andere betriebliche Akteurinnen und Akteure darin geschult sind, im Falle eines Gewaltereignisses richtig zu reagieren. Es gilt daher Strukturen zu schaffen, die helfen, das Erlebte zu verarbeiten.[23] Eine weitere Möglichkeit ist der Einsatz von kollegial-psychologischer Erstbetreuung im Betrieb.[24]
Aber auch Supervision, interne oder externe psychosoziale Beratungsstellen sowie die soziale Unterstützung im Team können bei der Verarbeitung helfen und der Tabuisierung des Themas oder der eigenen Schuldzuweisung entgegenwirken. Sexualisierte Übergriffe sind Arbeitsunfälle und der zuständigen gesetzlichen Unfallversicherung zu melden, was vielen Teilnehmenden der Studie unbekannt war. Nur so können entsprechende Unterstützungs- oder Therapiemaßnahmen eingeleitet werden.
Fazit
Das Auftreten sexueller Belästigung und Gewalt in den Betrieben stellt eine relevante psychische Belastung dar und ist damit eine arbeitsbedingte Gesundheitsgefahr. Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz ist nicht nur ein Handlungsfeld für die gesetzliche Unfallversicherung, sondern vor allem auch für Betriebe. Ziel aller sollte es sein, einen Umbruch zu einer gewalt- und diskriminierungsfreieren Arbeitskultur mitzugestalten.
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