Versicherungsschutz bei gewaltsamen Auseinandersetzungen
Ein Arbeitsunfall ist als Unfall einer versicherten Person infolge der versicherten Tätigkeit definiert. Unter welchen Bedingungen können tätliche Auseinandersetzungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt werden? Eine Annäherung in Beispielen.
Ein Teil des Unfallgeschehens ist auf gewaltsame Auseinandersetzungen im versicherten Umfeld, also beispielsweise am Arbeitsplatz, an der Schule oder Hochschule, im Bereich der Pflege zurückzuführen. Traurige Berühmtheit erhielten zum Jahreswechsel tätliche Angriffe und daraus resultierende Verletzungen von Einsatzkräften, die als Beschäftigte der Berufsfeuerwehren, der Rettungsdienste oder auch als ehrenamtlich tätige Personen für diese Institutionen ebenfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert sind.
Da der Arbeitsunfall als Unfall einer versicherten Person infolge der versicherten Tätigkeit definiert ist, stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen tätliche Auseinandersetzungen als Versicherungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt werden können. Einbezogen in diese Betrachtung werden auch gewaltsame Auseinandersetzungen auf den Wegen zur versicherten Tätigkeit oder von dort zurück.
Tatort Arbeitsplatz
Es ist zwar „Tatort“-Zeit, aber kein Sonntag: Nach Schließung des Lebensmittelmarkts sind die Filialleiterin und zwei Kassiererinnen gerade dabei, im Büro des Markts die Kassen abzurechnen, als ein Bewaffneter ins Büro stürmt und die Herausgabe der Tageseinnahmen verlangt. Als er kurz darauf die mit den Tageseinnahmen gefüllte Tasche an sich reißt, löst sich ein Schuss und eine der Kassiererinnen wird schwer verletzt.
Es liegt auf der Hand, dass in diesem Fall die oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind und die Kassiererin einen Arbeitsunfall erlitten hat. Gleiches gilt für die versicherten Personen, die zum Jahreswechsel bei den tätlichen Angriffen auf die Einsatzkräfte verletzt worden sind.
Aber wie kam der Täter überhaupt in den Markt? Er hat die Abläufe im Markt beobachtet und dann eine weitere Führungskraft in deren Wohnung überwältigt, gefesselt und die Schlüsselkarte an sich genommen. Dabei wurde diese Person leicht verletzt. Obwohl sie zum Unfallzeitpunkt keine versicherte Tätigkeit verrichtet und der Überfall in ihrer Privatwohnung stattgefunden hat, muss auch bei ihr der eingetretene Unfall der versicherten Tätigkeit zugerechnet werden. Denn unabhängig davon, dass sich die versicherte Person nicht bei einer versicherten Tätigkeit, sondern in ihrer Freizeit befunden hat, war in dieser Konstellation die Tätigkeit im Markt allein verantwortlich für den Angriff.
Kommt es zu tätlichen Auseinandersetzungen unter Mitarbeitenden, dann läuft dies den betrieblichen Interessen zuwider, erst recht, wenn es zu Verletzungen oder gar Ausfallzeiten kommt. Aber sind diese Übergriffe auch als Arbeitsunfälle zu werten? Die Rechtsprechung geht so weit, solche Vorfälle als Arbeitsunfälle anzuerkennen, wenn der Gegenstand des Streits mit tätlicher Auseinandersetzung die versicherte Tätigkeit war. Dies kann beispielsweise der Streit um die Nutzung eines bestimmten Arbeitsgeräts sein oder um die Art und Weise der Ausführung der versicherten Tätigkeit.
Liegt der Grund dagegen im privaten Bereich, beispielsweise weil die beiden fußballverrückten Mitarbeitenden verfeindeten Fanlagern angehören, dann fehlt es am notwendigen sachlichen (inneren) Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit.
Grundsätzlich gelten diese Ausführungen auch für andere versicherte Personengruppen, beispielsweise für Kitakinder, Schülerinnen und Schüler oder Studierende. Insbesondere bei Kindern ist aber die noch verminderte Einsichtsfähigkeit zu berücksichtigen, bei etwas älteren, jugendlichen versicherten Personen auch Punkte wie Gruppendynamik oder -zwang, die den erforderlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit herstellen können. Hierauf soll an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden.
Gewalteinwirkung als Unfall
Die Definition des Unfalls in § 8 Abs. 1 Satz 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) verlangt „zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen“. Die angeführten tätlichen Auseinandersetzungen mit den dabei erlittenen Verletzungen stellen daher Unfälle im Sinne dieser Definition dar. Aber auch psychische Traumata erfüllen den Wortlaut dieser Definition, etwa wenn im Eingangsbeispiel die Filialleiterin aufgrund der lebensbedrohlichen Situation und der schweren Verletzung ihrer Kollegin eine seelische Verletzung erleidet, die sich dann in der Folge zum Beispiel in Schlafstörungen, Albträumen, Flashbacks und Ähnlichem äußert.
Fortgesetzte psychische Gewalteinwirkungen etwa in Form von Mobbing erfüllen zwar in jedem Einzelfall ebenfalls die Merkmale des äußeren Ereignisses. Die Definition des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII fordert aber für den Unfall ein zeitlich begrenztes äußeres Ereignis, was die Rechtsprechung als Ereignis definiert, das längstens innerhalb einer Arbeitsschicht stattfindet. Da aber meist erst die Gesamtheit dieser psychischen Einwirkungen über einen längeren Zeitraum den Gesundheitsschaden verursacht, dürfte diese Voraussetzung regelmäßig nicht erfüllt sein. Dies wäre aber dann möglich, wenn ein einzelnes Ereignis aus dieser Reihe heraussticht und zum Beispiel aufgrund seiner Intensität für sich allein genommen eine wesentliche (Mit-)Ursache für den eingetretenen psychischen Gesundheitsschaden darstellt.
Entsprechendes gilt für versicherte Personen in Rettungsunternehmen, die bei ihren Einsätzen immer wieder mit schwerem menschlichem Leid konfrontiert werden. Führt dies zu einem entsprechenden psychischen Gesundheitsschaden, ist eine Anerkennung als Arbeitsunfall wie schon beschrieben nur möglich, wenn einer dieser Vorfälle ganz besonders war und daher für die Verursachung des Gesundheitsschadens verantwortlich ist.
Eine Berufskrankheit kommt in diesen Fällen ebenfalls nicht in Betracht, da entsprechende Tatbestände in der Liste der Berufskrankheiten nicht benannt sind.
Im Ergebnis ist es sicherlich unbefriedigend, dass ohne besonders prägnantes Ereignis weder die Anerkennung als Arbeitsunfall noch als Berufskrankheit möglich ist, selbst wenn zum Beispiel im Fall der Rettungskräfte die Verursachung insgesamt doch eindeutig der versicherten Tätigkeit zugerechnet werden muss. Aber die geltenden rechtlichen Gegebenheiten lassen keine andere Entscheidung zu.
Auch wenn weder Arbeitsunfall noch Berufskrankheit vorliegen, greift die soziale Absicherung. Die notwendigen Behandlungen gehen dann zulasten der Krankenversicherung. Bei Gewalttaten sind auch Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (ab 1. Januar 2024 nach dem SGB XIV) möglich.
Gewalttätige Auseinandersetzungen auf den Wegen
Auch hierfür gilt, dass Versicherungsschutz besteht, wenn sich die Auseinandersetzung infolge der versicherten Tätigkeit ereignet. Geht zum Beispiel der Kontrahent unvermittelt auf die versicherte Person los, zum Beispiel weil sich diese aus seiner Sicht nicht verkehrsgerecht verhalten oder ihn behindert hat, ist die Zurücklegung des Weges wesentlich für die tätliche Auseinandersetzung. Aber auch wenn es keinen konkreten Anlass aus der Wegezurücklegung heraus gibt, wenn die versicherte Person auf dem Weg beispielsweise grundlos von gewaltbereiten Hooligans angegriffen wird, ist dieser notwendige Zusammenhang gegeben, da die Person dem Übergriff aufgrund ihrer versicherten Wegezurücklegung ausgesetzt gewesen ist.
Die Grenzen sind aber dann erreicht, wenn die Handlungstendenz der Zurücklegung des Weges in den Hintergrund tritt und andere Beweggründe in den Vordergrund treten. Wird die versicherte Person, die mit dem Fahrrad unterwegs ist, beispielsweise von einem Autofahrer geschnitten, stellt diesen an der nächsten Kreuzung zur Rede und gerät in der Folge mit diesem in eine tätliche Auseinandersetzung, kann dieses Verhalten nicht mehr der Zurücklegung des versicherten Weges zugerechnet werden. Anders als im vorherigen Beispiel führt hier die versicherte Person aktiv die Auseinandersetzung herbei. Ihre Handlungstendenz ist dabei auf die Maßregelung des anderen Verkehrsteilnehmers gerichtet und eben nicht mehr auf die versicherte Wegezurücklegung. Ein Arbeitsunfall ist daher abzulehnen.
Versicherungsschutz trotz privater Beweggründe
Grundsätzlich gilt: Wenn allein private Beweggründe für die tätliche Auseinandersetzung verantwortlich sind, ist ein Arbeitsunfall abzulehnen. Was ist aber, wenn nicht nur private, sondern auch betriebliche Belange eine Rolle spielen? Wenn zum Beispiel der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung eines Streits unter Fußballfans ein Streit um ein Arbeitsmittel gewesen ist? Dann muss die Rolle der betrieblichen Belange dahingehend qualifiziert werden, ob es sich bei ihnen um eine wesentliche (Mit-)Ursache für die Auseinandersetzung gehandelt hat und ein Arbeitsunfall anzuerkennen ist. Sind sie aber lediglich der willkommene Anlass für das Ausleben privater Streitigkeiten gewesen, sind die betrieblichen Belange als rechtlich unbeachtlich zu bewerten und ein Arbeitsunfall müsste abgelehnt werden.
Aber selbst wenn private Beweggründe allein wesentlich für die tätliche Auseinandersetzung sind, können besondere Umstände, die sich aus der versicherten Tätigkeit ergeben und dem Täter oder der Täterin die Gewalttat überhaupt erst ermöglicht haben, den notwendigen Zusammenhang begründen und zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls führen. Das könnte dann der Fall sein, wenn die versicherte Person beispielsweise einen Täter wegen häuslicher Gewalt verlassen hat und sich deshalb an einem dem Täter unbekannten Ort aufhält. Der Arbeitsplatz wäre dann für den Täter die einzige Möglichkeit, an die versicherte Person heranzukommen, da er weiß, wann und wo sie arbeitet und dass der Zugang zu ihrem Arbeitsplatz auch Außenstehenden leicht möglich ist. Entsprechendes könnte beispielsweise auch dann gelten, wenn der Täter den Angriff an einer bestimmten Stelle des versicherten Weges durchführt, weil er weiß, wann sein Opfer dort vorbeikommt, und weil sie abgelegen und schlecht einsehbar ist.
Aus zahlreichen Krimis wissen wir, dass das Offensichtliche nicht immer den wahren Beweggründen entspricht. Hat im obigen Fall der Ehemann der Kassiererin den Überfall nur deshalb geplant, um einen Mordanschlag auf seine Frau zu vertuschen, hat er den Schuss somit entgegen der ersten Annahme bewusst auf die Kassiererin abgegeben, läge ein privater Beweggrund vor. Da auch keine sich aus der versicherten Tätigkeit ergebenden besonderen Umstände vorliegen, die die Tat erst möglich machen, die betriebliche Umgebung lediglich die Kulisse bildet, um die wahren Motive und damit auch die Spur zum Täter zu verschleiern, läge entgegen der ersten Einschätzung doch kein Arbeitsunfall vor. Allerdings müsste dieser Sachverhalt nachgewiesen werden können – das schaffen die Ermittelnden in den „Tatort“-Krimis jeweils innerhalb von 90 Minuten.