Gewalt an Hochschulen – eine nicht hinnehmbare Normalität
Der Begriff Gewalt wird oft mit körperlichen Auseinandersetzungen und Übergriffen verbunden. Gewalt hat jedoch viele unterschiedliche Ausprägungen, die an Hochschulen mehr und mehr eine Rolle spielen. Welche spezifischen Merkmale weist der Arbeits- und Lernort Hochschule auf, die für eine wirksame Gewaltprävention berücksichtigt werden müssen?
Gewalt: Ein aktuelles Thema an Hochschulen
Wer bisher dachte, dass schwere Formen von Gewalt an Hochschulen keine Rolle spielen, wurde im vergangenen Jahr auf den Boden der Tatsachen geholt. Am 24. Januar 2022 wurden an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg eine 23-jährige Studentin in einem Hörsaal erschossen und mehrere Studierende verletzt. Im westfälischen Hamm wurde am 10. Juni 2022 eine 30-jährige Lehrbeauftragte an der Hochschule Hamm-Lippstadt erstochen, es gab drei verletzte Studierende. Solche Vorkommnisse finden starken Widerhall in den Medien – für kurze Zeit.
Gewalt an Hochschulen hat allerdings viele verschiedene Facetten und umfasst weit mehr als extreme und aufsehenerregende Taten. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass bestimmte Ausprägungen von Gewalt fast zum Alltag, zur Normalität an Hochschulen gehören.
Auch in Fachkreisen erfährt das Thema „Gewalt an Hochschulen“ in jüngster Zeit erhöhte Aufmerksamkeit:
Im Oktober 2022 hatte der Fachbereich „Hochschulen und wissenschaftliche Institutionen“ des Verbands für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit (VDSI) zu seiner 44. Jahresfachtagung nach Aachen eingeladen, bei der Fragen zu Bedrohungsszenarien an Hochschulen ebenso erörtert wurden wie die Etablierung eines Notfallmanagements.
Das HIS-Institut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) fragte und diskutierte im November 2022 in Hannover in seinem „Forum Bedrohungsmanagement“, wie ein wirksames Bedrohungsmanagement an Hochschulen aufgebaut, etabliert und weiterentwickelt werden kann.
Und das 8. Forum „Sichere gesunde Hochschule“, das vom 19. bis 21. September 2023 im Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG) in Dresden stattfinden wird, steht unter dem Leitthema „Extremereignisse an Hochschulen: Gut vorbereitet auf den Ausnahmezustand“. Auch hier soll Gewalt an Hochschulen als ein Aspekt näher beleuchtet werden.
Dieser Beitrag skizziert, welche spezifischen Rahmenbedingungen der Hochschulen bei der Gewaltprävention zu beachten sind und welche Ausprägungen von Gewalt an Hochschulen beobachtet werden. Zusätzlich werden Anregungen zu Prävention und Intervention gegeben.
Hochschule: Eine eigene Welt?
Im Vergleich zu anderen Betrieben und Einrichtungen zeichnet sich der Arbeits- und Lernort Hochschule durch mehrere Besonderheiten aus, die auch für das Thema Gewalt(prävention) relevant sind:
Zum einen unterscheiden sich Hochschulen örtlich und baulich von anderen Organisationen. Die Gebäude weisen oft keine geschlossene Struktur auf. Gerade in klassischen Universitätsstädten sind die Gebäude der Hochschule, ihrer Einrichtungen und Institute über das ganze Stadtgebiet verteilt. Gebäude, in denen Hochschulen Räume angemietet haben, haben teilweise weitere Mieter, sodass das Gebäudemanagement nicht in der (alleinigen) Verantwortung der Hochschule liegt. Im Gegensatz dazu liegen bei Campusuniversitäten die Universitätsgebäude und hochschulnahen Infrastruktureinrichtungen räumlich zusammen, sind aber ebenfalls weitgehend frei zugänglich. Dies hat nicht nur organisatorisch-technische Gründe, sondern ist oft eine ganz bewusste Entscheidung, die dem Selbstverständnis einer auch im räumlichen Sinne „offenen“ Hochschule entspricht. Diese örtlichen und baulichen Besonderheiten der Hochschulen sind auch bei der Gewaltprävention zu berücksichtigen.
Zum anderen gibt es im Hinblick auf Hierarchien und soziale Beziehungen innerhalb der Hochschule deutliche Unterschiede zu den Sozialstrukturen sowohl anderer Arbeitsverhältnisse als auch anderer Lehr-Lern-Arrangements.
Komplexe Organisationsstrukturen
Hochschulen zeichnen sich durch komplexe Organisationsstrukturen aus. Neben den Studierenden gibt es weitere Statusgruppen, die an der Hochschule arbeiten, lehren und forschen. Professoren und Professorinnen stellen eine besondere Gruppe dar. Sie haben weitgehende Freiheiten, ihre Tätigkeit sowie die Arbeitsabläufe und Arbeitsorganisation in ihrem Verantwortungsbereich selbst zu bestimmen. Neben dem Lehrpersonal gibt es weitere Beschäftigtengruppen wie wissenschaftliches und nicht wissenschaftliches Personal in Verwaltung und Technik oder auch das Pflegepersonal in den Universitätskliniken. Die Rollen und Verantwortlichkeiten der einzelnen Beschäftigtengruppen sind nicht immer klar voneinander abgegrenzt. Das gilt in besonderem Maße für Personen, die bereits während des Studiums oder der Promotion – befristet und/oder in Teilzeit – wissenschaftlich an der Hochschule beschäftigt sind.
Herausforderung Anonymität
Hinzu kommt die Besonderheit, dass die Lehrveranstaltungen an Universitäten und Hochschulen oft eine deutlich höhere Teilnehmendenzahl als an Schulen aufweisen. Außerhalb der engeren Freundes- und Lerngruppen kennen sich daher viele Studierende untereinander nicht. Auch das Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden ist oft von Anonymität geprägt („Massenuniversität“). Dies erschwert es, Auffälligkeiten oder Veränderungen im Verhalten von Studierenden wahrzunehmen, die ein Frühwarnsignal für Gewaltvorfälle sein können.
Strukturelles Ungleichgewicht
Es kann jedoch zwischen einzelnen Personengruppen auch zu engen persönlichen Beziehungen kommen, zum Beispiel zwischen Lehrenden und Studierenden oder Professoren und Professorinnen und Promovierenden. So deuten die Begriffe „Doktorvater/ Doktormutter“ etwa auf ein Näheverhältnis hin, das neben einer engen, gelungenen wissenschaftlichen Zusammenarbeit durchaus ambivalent mit „zu viel“ Nähe konnotiert sein kann. Solch enge Beziehungen können für beide Seiten bei der gemeinsamen Erzielung von Forschungsergebnissen von großem Vorteil sein. Allerdings können sie aufgrund des einseitigen strukturellen Machtgefälles zu persönlichen Abhängigkeiten und Konflikten führen.
Abhängigkeitsverhältnisse
Im Vergleich zu einem üblichen Beschäftigungsverhältnis, das notfalls durch eine arbeitnehmerseitige Kündigung als „Exit-Strategie“ beendet werden kann, stehen dem Verlassen der Hochschule in solchen Abhängigkeitsverhältnissen oft besonders hohe Hürden entgegen: Berufsqualifizierende und akademische Abschlüsse, in die oft jahrelange intensive Arbeit investiert wurden, können gefährdet sein. Bei Studierenden und Promovierenden kann sich das Gefühl einstellen, den Lehrenden hilflos ausgeliefert zu sein. Das gilt besonders im Hinblick auf die Bewertung von Studien- oder wissenschaftlichen Leistungen. Je nach Studienfach steht den Prüfern und Prüferinnen hier ein teils weitgehender Beurteilungsspielraum zu, dessen Einhaltung verwaltungsgerichtlich nur sehr eingeschränkt kontrolliert werden kann.
Emotionale Belastungen
Auch wenn eine Prüfungsleistung zu Recht als unzureichend bewertet wurde, kann dies eine hohe emotionale Belastung für den Prüfling bedeuten, insbesondere wenn mit dem endgültigen Nichtbestehen von Abschlussprüfungen berufliche Perspektiven und Lebenspläne zerbrechen. Frustration kann in Aggression umschlagen. Hier muss insbesondere an den Schutz der Lehrenden sowie der Beschäftigten in den Sekretariaten und Prüfungsämtern gedacht werden, die oft erste Ansprechpersonen für Studierende sind. Vermehrt wird über Gewaltvorfälle aus diesen Bereichen berichtet. Dabei können unter anderem die hohe Diversität an den Hochschulen, das Zusammentreffen verschiedener Kulturen und die verschiedenen Bedürfnisse der Studierenden eine Rolle spielen.
Aus dem akademischen Umfeld finden sich vermehrt Berichte, dass Veranstaltungen bewusst gestört oder gewaltsam verhindert werden, wenn Themen oder geladene Gäste einem bestimmten Verständnis von „Political Correctness“ nicht entsprechen. Hier werden Lehrende und Diskussionsteilnehmende beleidigt, beschimpft, bis hin zur Morddrohung eingeschüchtert und auch tätlich angegriffen. Ein solch inakzeptables Verhalten widerspricht dem Verständnis der Hochschule als Ort des freien, kritischen und fairen Gedankenaustauschs und Diskurses, der auch unpopuläre Ansichten und inhaltlichen Dissens aushält.
Dünne Datenlage
Bei der Internetrecherche mit gängigen Suchmaschinen und naheliegenden Suchbegriffen nach Beiträgen zu „Gewalt an Hochschulen“ fällt auf, dass sich die weit überwiegende Mehrzahl der Treffer auf sexualisierte Gewalt bezieht.
Dies mag seine Ursache darin haben, dass sexualisierte Gewalt an Hochschulen 2012 durch die Studie „Gender-based Violence, Stalking and Fear of Crime (Sexuelle Gewalt, Stalking und Kriminalitätsfurcht)“ der Ruhr-Universität Bochum[1] in den Fokus der Wahrnehmung geriet. Es handelt sich dabei um den „Länderbericht Deutschland“ eines internationalen Projekts, das von Universitäten in Deutschland, Italien, Spanien, Polen und Großbritannien durchgeführt und mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert wurde.
Die Bochumer Untersuchung befasste sich im Schwerpunkt mit der Frage, ob weibliche Studierende in besonderem Maße von sexuellen Übergriffen betroffen sind. Dazu wurden Daten von rund 13.000 Studentinnen an 16 deutschen Hochschulen erhoben und ausgewertet. Aus diesen Daten wurden Empfehlungen für Präventions- und Interventionsmaßnahmen für Hochschulen abgeleitet, die an vielen Hochschulen den konkreten Gegebenheiten angepasst wurden und umgesetzt werden.
Neben sexualisierter Gewalt gibt es weitere Ausprägungen von Gewalt, die an Hochschulen vorkommen und ebenfalls inakzeptabel sind. Dazu zählt insbesondere die Ausübung psychischer Gewalt. Sie äußert sich überwiegend in verbalen Beleidigungen oder Beschimpfungen, ist aber ebenso wenig hinnehmbar wie Formen der physischen und sexualisierten Gewalt.
Die empirische Datenlage ist allerdings dünn. Dies haben 2013 schon Rau, Fegert, Hoffmann und Allroggen festgestellt, und es hat den Anschein, als hätte sich in den zehn Jahren nach Veröffentlichung ihres Überblickartikels „Zielgerichtete Gewalt von Studierenden an Hochschulen“ daran nichts Wesentliches geändert.[2]Aktuelle Veröffentlichungen, etwa der Beitrag „Gewalt an der Universität“ von Kron, Engelhardt und Verneuer aus dem Jahr 2019[3] oder der im November 2022 veröffentlichte Artikel „Normalitätsvorstellungen von Gewalt an der Universität“ von Verneuer-Emre, Kron und Schmalen[4], referieren jedenfalls keine größeren oder hochschulübergreifenden Studien, sondern berichten von Untersuchungen an einzelnen Hochschulen. Zudem mangelt es an einer allgemein verbindlichen Definition, was genau unter „Gewalt“ an Hochschulen verstanden wird.
Alle hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – genannten Arbeiten beziehen sich jeweils nur auf einen Teilbereich der Hochschulangehörigen: die Bochumer Studie 2012 ausschließlich auf weibliche Studierende, der Beitrag von Rau et al. 2013 nur auf Gewalt, die von Studierenden ausgeht, die Veröffentlichungen von Kron et al. 2019 und von Verneuer-Emre et al. 2022 auf Beschäftigte (nicht Studierende) an einer nordrhein-westfälischen Hochschule.
Trotz dieser unbefriedigenden Datenlage gilt als gesicherte Erkenntnis, dass Gewalt an Hochschulen vorkommt. Untersuchungen[5] weisen darauf hin, dass Gewaltereignisse an Hochschulen keine seltenen Einzelfälle sind, sondern eher alltäglichen Charakter aufweisen. Diese „normale“ Gewalt ist von den Extremereignissen wie Amoktaten, über die die Medien berichten, weit entfernt, sollte aber ebenso wenig toleriert werden.
Hochschulen müssen sich daher Gedanken machen, wie sie präventiv ansetzen und den aktuellen Entwicklungen frühzeitig gegensteuern können.
Prävention: Das Rad nicht neu erfinden
Es gibt eine Reihe von Handlungshilfen und Empfehlungen zur Gewaltprävention, die für andere Branchen und Zielgruppen als für Hochschulen entwickelt wurden und eingesetzt werden. Die nach innen differenzierte, von außen oft unübersichtliche Struktur der Hochschulen und deren bereits erwähnte Besonderheiten sollten nicht dazu führen, solche vorhandenen Hilfen als „für die Hochschule nicht passend“ anzusehen.
Vielmehr bietet es sich an zu überlegen, welche Empfehlungen und Anregungen auf Hochschulen übertragbar sind. So dürfte es für die Gewaltprävention in der Pflege etwa keine nennenswerte Rolle spielen, ob sich Patienten, Patientinnen und Pflegepersonal in einer Universitätsklinik begegnen oder in einem Krankenhaus in städtischer, kirchlicher oder privater Trägerschaft. Ähnliches gilt für Ansätze, die zur Gewaltprävention im Publikumsverkehr entwickelt wurden. Viele Maßnahmen für Sozialämter und andere Behörden mit Publikumsverkehr lassen sich auf bestimmte Bereiche an Hochschulen übertragen. Hierzu zählen Stellen mit direktem Kontakt zu Studierenden wie Prüfungsämter oder Studierendensekretariate. Neben den technischen und organisatorischen Maßnahmen kann eine gezielte Qualifizierung der Beschäftigten dazu beitragen, Situationen und Risiken realistisch einzuschätzen sowie deeskalierend und situationsgerecht zu reagieren.
Grundlage zur Ableitung von gewaltpräventiven Maßnahmen an der Hochschule stellt die Gefährdungsbeurteilung dar.[6] In dieser werden die Arbeits- und Studienbedingungen beurteilt; auch kritische Bereiche und Tätigkeiten im Hinblick auf den Gefährdungsfaktor Gewalt werden erfasst. Die DGUV Regel „Branche Hochschule“ gibt Hinweise zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung.[7]
Der Erfolg der abgeleiteten Maßnahmen dürfte auch davon abhängen, inwieweit an der Hochschule eine Kultur der Prävention etabliert werden kann. Dazu gehört es, alle Statusgruppen für das Thema Gewalt zu sensibilisieren und zu ermutigen, diese nicht hinzunehmen. Dies wird umso eher gelingen, je klarer die Hochschulleitung eine „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Gewalt glaubwürdig vertritt und je mehr den Hochschulangehörigen praxisnahe Handlungsoptionen aufgezeigt werden. Hierbei spielen klar definierte Kommunikationswege und niedrigschwellige Informations- und Unterstützungsangebote eine wichtige Rolle. Auch Maßnahmen des betrieblichen und studentischen Gesundheitsmanagements tragen dazu bei, Belastungen zu bewältigen und Ressourcen zu stärken, und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Gewaltprävention an Hochschulen.
Ein Erfolgsfaktor von Gewaltprävention an Hochschulen wird es sein, keinen isolierten Präventionsansatz zu wählen, sondern das Thema in ein differenziertes und ganzheitliches Bedrohungsmanagementsystem der Hochschule zu integrieren.